ausgelesen: David Mitchell „Der Wolkenatlas“

Der Wolkenatlas, Buch, David Mitchell

Ende letzten Jahres kam Cloud Atlas – die Verfilmung des Romans – in die deutschen Kinos. Im Vorfeld habe ich immer mal wieder etwas darüber gelesen: mehrere Handlungsstränge, die alle miteinander verbunden sind und dabei treten dieselben Schauspieler (Tom Hanks, Halle Berry, Hugh Grant u.a.) in verschiedenen Rollen auf. Ich wurde neugierig und siehe da: es hat nicht nur aus dem Kinosessel, sondern auch aus dem Lesesessel gehauen.

Inhalt

In Der Wolkenatlas werden 6 Geschichten erzählt, die jeweils in einem anderen Zeitalter spielen und unterschiedlich festgehalten wurden. Zur Abkürzung möchte ich bei jedem Abschnitt angeben: [Hauptfigur – Genre – Darreichungsform – Zeit in der die Geschichte spielt]

(1) [Adam Ewing – Abenteuer – Tagebuch – ca. 1850er laut Wikipedia]
Adam Ewing ist ein amerikanischer Notar, der in Australien Erbfragen geklärt hat und mit dem Schoner Prophetess reist. Er schreibt die Erlebnisse seiner Seefahrt als Tagebuch auf. Dabei geht es um Zwischenstopps auf den Chatham-Inseln, darum wie er Freundschaft mit dem Arzt Henry Goose schließt und wie er einem Eingeborenen des Volks der Moriori dabei hilft sich auf das Schiff zu schleusen. Die rauen Sitten an Bord der Prophetess sind nicht nach seinem Geschmack und er will heim zu Frau und Kind. Die Überfahrt wird für ihn nicht einfacher, als er erkrankt und nach und nach schwächer und weniger zurechnungsfähig wird.

(2) [Robert Frobisher – Drama – Briefe – 1931]
Die Geschichte des jungen Musikers Robert Frobisher wird in Form von Briefen erzählt, die Robert an seinen Freund und Geliebten Rufus Sixsmith schreibt. Frobisher wurde zuvor von seiner Familie verstoßen und enterbt. Er leidet unter akuter Geldnot und hat den Plan den berühmten Komponisten Vyvyan Ayers in Belgien aufzusuchen und als sein Assistent zu arbeiten. Ayers ist von der Syphilis gezeichnet, kann alleine nicht mehr komponieren und sagt zu. Robert kann es nur schwer ertragen, dass sein Beitrag allein unter Ayers Namen veröffentlicht wird. Da er mittellos ist und nicht den besten Ruf hat, kann er aber nicht weg und versucht sein Herzblutprojekt, das Wolkenatlas-Sextett, vor Ayers Fängen zu schützen.

(3) [Luisa Rey – Krimi – Roman – 1975]
Die junge Journalistin Luisa Rey hat das was man allgemein als Schneid bezeichnet. Da sie für die Regenbogenpresse arbeitet, wird sie nicht immer ernst genommen und kann von einer ernsthaften Berichterstattung nur träumen. Zufällig wird sie durch einen Wissenschaftler auf den Atom-Reaktor bei Buena-Yerbas aufmerksam gemacht. Sie beginnt Nachforschungen anzustellen und erhält Gewissheit: der Reaktor ist nicht sicher. Aber die Schirmherren versuchen alles, um das geheim zu halten. Luisa muss bald am eigenen Leib feststellen, dass sie dabei sogar über Leichen gehen.

(4) [Timothy Cavendish – Komödie – Drehbuch – heute]
Timothy Cavendish ist ein britischer Verleger und hat mit einem riesigen Schuldenberg zu kämpfen. Ganz unerwartet überschlagen sich die Ereignisse: einer seiner Autoren begeht einen Mord. Dieser Vorfall ist der Anstoß für den Erfolg des Buches, den Timothy einstreicht. Dafür erpressen ihn nun die Brüder des Skandalautors – waschechte Schläger. Cavendish haut kurzerhand ab und sucht Hilfe bei seinem Bruder. Dieser schickt ihn zu einer sicheren Adresse. Das vermeintliche Asyl outet sich als Altenheim. Undzwar als eins ohne Entkommen. Die Ausbruchsversuche des Verlegers werden als Buchvorlage für ein Drehbuch aus Cavendishs Perspektive festgehalten.

(5) [Sonmi-451 – Science-Fiction – Verhörprotokoll – nahe Zukunft]
Sonmi-451 ist eine Bedienerin in einem asiatischen Fast-Food-Restaurant in der nahen Zukunft. In dieser Zeit ist es gang und gäbe zu klonen, DNA zu optimieren und die Replikanten für harte oder eintönige Arbeit einzusetzen und wie einen Wischlappen zu behandeln. Eben ein solcher Klon ist Sonmi-451. Zu eigenständigen Gedanken, Wünschen oder dem Verlassen des Restaurants sind die Bedienerinnen-Klone nicht fähig. Bis eine andere Replikantin Sonmi das unmögliche vorlebt und sie zum Nachdenken anregt. Dieser Aufstieg bleibt nicht unbemerkt und sie wird aus dem Restaurant gerettet und darf studieren. Ihre Beziehung zu den Widerstandskämpfern die sie retteten bringen sie in Lebensgefahr, kaum dass sie aus den in ihre DNA geprägten Mustern ausgebrochen ist. Sonmis Geschichte wird als Verhörprotokoll festgehalten und deckt grausame Details der Konzernokratie genannten Herrschaftsform auf, die sich durch Markenwahn definiert.

(6) [Zachary – Mystery/Abenteuer – Monolog – ferne Zukunft]
In der fernen Zukunft sind die Menschen wieder Bauern und Hirten, tauschen auf dem Markt und leben in einer Welt ohne technische oder medizinische Errungenschaften. Sagen, Mythen und Riten beherrschen ihren Alltag. Auch der Ziegenhirte Zachary wird von inneren Dämonen und Geistern der Vergangenheit heimgesucht. Er muss sich in vielerlei Hinsicht überwinden, als er einer Prescient helfen soll seine Heimat zu kartieren. Die Prescients sind ein Volk, das auf einem hohen technischen Standard lebt und nur selten auf Hawaii landet um mit Zachary und seinen Leuten Tauschhandel einzugehen. Was Zachary zusammen mit der Besucherin erlebt, erählt er in seinem Monolog.

Das ist aber noch lange nicht alles…

Hintergrund

…die Geschichten sind nämlich sehr besonders angeordnet. Das beginnt mit der am weitesten zurückliegenden Geschichte und geht chronologisch weiter. So wie in der obigen Reihenfolge. Aber mit einer Besonderheit: jede Geschichte wird bis zu einem bestimmten Wendepunkte erzählt. Dass heißt etwa bis zur Hälfte, dann beginnt die nächste. Und immer so weiter. Bis zu Zacharys Monolog. Der wird in einem Stück erzählt und dann geht es in umgekehrter Reihenfolge mit den zweiten Hälften der restlichen Geschichten weiter. Also:

Ewing – Frobisher – Rey – Cavendish – Sonmi – Zachary – Sonmi – Cavendish – Rey – Frobisher – Ewing

Das schöne daran ist, dass das Leben einer Person das der nächsten Hauptfigur maßgeblich beeinflusst oder verändert hat. So liest Robert Frobisher Adam Ewings Tagebuch, Luisa Rey liest die Briefe von Frobisher an Sixsmith, Cavendish liest den Roman über Luisa Reys ersten Fall, Sonmi sieht die Verfilmung von Candendishs Martyrium und Zachary sieht eine Aufnahme von Sonmi. Aber das ist noch lange nicht alles: in dem Buch gibt es soviele Verknüpfungen zwischen den Personen, dass man sich wie ein Entdecker fühlt. Eins haben aber alle Geschichten und ihre Protagonisten gemeinsam: sie befinden sich in einer aussichtslosen Lage. Sie werden unterdrückt, leiden unter der Beschränktheit ihrer Gesellschaft und Zeit, werden betrogen und bedroht. Sie sind alle irgendwie Gefangene und brechen aus. Mit mal mehr mal weniger glücklichem Ausgang.

Meinung

Ich liebe dieses Buch!
Die versteckten Hinweise und Eigenarten der Charaktere, die vielen Verbindungen und Mitchells sprachliches Genie – es ist großartig. David Mitchell gibt jeder der 6 Geschichten einen ganz eigenen Ton, indem er den typischen Schreibstil der damaligen Zeit annimmt. So ist Adam Ewings Tagebuch in geschwollener Sprache verfasst und beinhaltet für die Zeit übliche Wendungen und Schreibweisen. Für die in der Zukunft spielenden Geschichten erfindet er gar einen eigenen Sprachstil und rhetorische Besonderheiten.

Außerdem ist für jeden was dabei: eine Komödie, ein Abenteuer, ein Drama, ein Krimi, Sci-Fi, usw. Lachen, Schießen, ein bischen Liebe und Schocker. Und wenn wir manchmal am Ende des Tages das Gefühl haben nichts ausrichten zu können auf dieser Welt, zeigt uns dieses Buch, dass wir das vielleicht schon längst getan haben.

Also insgesamt: Ein fantastisches Buch!

In meinem nächsten Beitrag werde ich statt einer Buchreview einen Vergleich zwischen dem Buch (2004) Der Wolkenatlas und der Verfilmung (2012) machen.

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

6 Antworten

  1. […] ich habe endlich David Mitchells Der Wolkenatlas zu Ende gelesen und darüber ja auch schon meine Meinung kund getan. Ein großartiges Buch! Nicht ganz so großartig finde ich Shades of Grey: Geheimes […]

  2. […] “Cloud Atlas” aus dem letzten Jahr. Eine spoilerfreie Review des Buchs findet sich hier (mein ‘ausgelesen’-Artikel aus dem April). Ansonsten sei der Leser gewarnt: in diesem […]

  3. […] Mitchell – eins meiner erklärten Lieblingsbücher. Dazu gibt es hier im Blog auch einen Artikel über das Buch und zu den Unterschieden zwischen Film und Buch – letzterer beinhaltet allerdings […]

  4. […] auch Ton und For­mu­lie­run­gen ein wenig — aller­dings nicht in einem Aus­maß wie in Cloud Atlas. Dabei durch­bricht Jess auch ab und zu die vierte Wand. Das alles täuscht aber nicht über die […]

  5. […] Sonmi-451 (David Mitchell, „Der Wolkenatlas“) […]

  6. […] wie wir sie kennen zusammengebrochen ist. Mitchells fragmentarischer Stil, den man so auch schon in Der Wolkenatlas beobachten konnte, schlägt zu. Und das ähnlich fein verwoben. Wer uns im ersten oder zweiten […]

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