Neulich im Kino … Review zu „Moonlight“

„Willst du den besten Film des Jahres sehen?“ steht auf der Postkarte, die auf dem Tresen des Indie-Kinos meines Vertrauens liegt. Ja! ‚Moonlight‘ war mir schon so oft über den Weg gelaufen: auf Film-Webseiten, in den frühen ersten Artikeln darüber welche Filme für einen Oscar nominiert werden sollten, schließlich auf der Liste der Oscar-nominierten Filme und bei den Oscars. Dann kamen die ersten Reviews in der Blogosphäre: die einen begeistert, die anderen etwas unterwältigt. Die Bewertung auf IMDB sieht eher durchschnittlich aus. Wie ist also der „beste Film des Jahres“? Review ist spoilerfrei.

Moonlight erzählt in drei Segmenten aus dem Leben von Chiron. Im ersten Segment quält er sich als Neunjähriger, gespielt von Alex R. Hibbert, durch seine Nachbarschaft in einem Miami, in dem es zwar Palmen gibt, aber nicht die idyllischen Postkarten-Motive die man zu kennen meint. Da, wo Chiron aufwächst, leben viele Perspektivenlose und Drogensüchtige. Wegen seiner schmächtigen Statur wird er von den anderen gehänselt, sie nennen ihn „Schwuchtel“. Chiron kann sich aber nur schwer durchsetzen. Er läuft lieber weg und schweigt viel, das bringt ihm am wenigsten Ärger ein. Als er einmal nicht nach Hause zu seiner Mutter (Naomie Harris) möchte, sammelt ihn Juan (Mahershala Ali) auf, der nicht mit ansehen kann wie der Junge sich in Crack-Höhlen versteckt und bringt ihn zu seiner Frau Teresa (Janelle Monáe). Von nun an kümmern sie sich hin und wieder um ihn, sehr zum Ärger von Chirons Mutter. Im zweiten Segment wird der jetzt ca. sechzehnjährige Chiron von Ashton Sanders gespielt. Die Drogensucht seiner Mutter verschlimmert sich genauso wie das Mobbing in der Schule. Zeitgleich hadert er mit sich selbst und seinen Gefühlen für seinen Schulfreund Kevin (Jharrel Jerome). Im dritten Segment sind ca zehn Jahre vergangen und es hat sich alles für Chiron (Trevante Rhodes) verändert, er lebt ein scheinbar vollkommen anderes Leben bis er eines Tages Kevin (André Holland) wiederbegegnet.

„Moonlight | Official Trailer HD | A24“, via A24 (Youtube)

Selbst wenn man vor Anschauen des Films schon die Inhaltsangabe kennt und damit ziemlich genau weiß, was einen erwartet, wird man überrascht von Moonlights Intensität. Es ist ein kompromissloses Charakterdrama, das in einem sich zum Ende des zweiten Segments zuspitzenden Akts demonstriert wie das Leben einen empfindsamen Menschen demontiert. Wäre Chiron irgendwo anders aufgewachsen, hätte mehr Rückhalt in seinem Leben gehabt oder hätte er von irgendjemandem mehr Liebe gezeigt bekommen, wäre vieles anders gekommen. Nichtsdestotrotz ist sich Chiron insofern selber treu, dass er zwar einen sehr speziellen Weg einschlägt, aber wie sein Ersatzvater Juan ein guter Kerl bleibt. Und man merkt deutlich wie schwer es ist ein guter Kerl zu sein, wenn man von Gewalt, Abhängigkeit und Hass umgeben ist. Chiron kann nicht er selbst sein und wählt seit Kindestagen den Weg sich selbst zu verneinen, klein zu halten, zu schweigen und keine Gefühle zuzulassen. Oder wenn, dann nur, wenn es keiner sieht. Das und der rapide Abstieg seiner Mutter zu einer verzweifelten Crack-Süchtigen sind ein intensives Filmerlebnis, das sich quasi in Nahaufnahmen abspielt. Nicht selten geht die Kamera unangenehm nah ran an die manischen Augen seiner Mutter, die ihn mit zerzausten Haaren empfängt und bequatscht und vielleicht sogar schlägt, nur um ihm ein bisschen Geld für Crack abzuknöpfen. Oder Chirons Blick, wenn ihm das Entsetzen ins Gesicht geschrieben steht, wenn er seine eigene Mutter nicht wiedererkennt. Dabei führt Barry Jenkins vor Augen wie die feinen Fäden des Netzwerks aus Abhängigkeiten und Zwängen des Milieus ineinandergreifen und demonstrieren, dass es eben nicht einfach ist seiner Herkunft zu entkommen und alleine um zu überleben unsichtbaren Gesetzen folge leistet, auch wenn das wider der eigenen Natur ist. Nicht umsonst hat der Regiesseur Barry Jenkins das Theaterstück In Moonlight Black Boys Look Blue von Tarell Alvin McCraney zu einem Drehbuch und Film adaptiert – sowohl Jenkins als auch McCraney sind in einer solchen Nachbarschaft in Miami aufgewachsen. Sie erzählen nicht wie es gewesen sein könnte, sondern wie es war und wie es noch immer ist mit den unsichtbaren Gesetzen.

Und wenn schon alleine diese Ausweglosigkeit und Unfähigkeit der zu sein, der man sein möchte erschreckend ist, so ist es der Verfall von Paula, Chirons Mutter, wirklich Oscar-würdig gespielt von Naomi Harris. So erschütternd wie letzten Endes die Unterdrückten zu Tätern werden und wie den Menschen Liebe versagt bleibt und sie sich nie entfalten können. Geleitet und getrieben von öffentlichen Meinungen wie sich ein Mann / eine Frau / ein Schwarzer / … zu benehmen hat. Wie er zu sein hat. Laut diesen unsichtbaren Gesetzen. Das ist kein Staat, der in mittelalterlichen Zuständen und Weltanschauungen vor sich hin vegetiert. Das ist eine Geschichte, die sich jeden Tag in den ach so hoch entwickelten Ländern der Welt abspielt, wo alle Schulbildung genießen und sich trotzdem menschliche Dramen abspielen, die liebevolle Menschen zerrütten und erschüttern und in ein Leben der Verneinung und Zurückhaltung, einer regelrechten Qual, münden. Aber es gibt diese Leute, die herausstechen wie Mahershala Ali als Juan, der ein Drogendealer ist und eigentlich das Böse in Person sein sollte, aber einer der wenigen ist, der Chiron so akzeptiert wie er ist und sich ein bisschen gegen diese unsichtbaren Gesetze auflehnt. Vielleicht gibt es ja Hoffnung? Ist jeder seines eigenen Glückes Schmied? Man könnte es fast meinen. Ist nur die Frage, ob Chiron es schafft darüber zu sprechen?

Und wieder frage ich: „Wie ist also der beste Film des Jahres?“ Und antworte auf die unpopulärste Art überhaupt. Er ist so gut und intensiv wie er einen berührt und tangiert. Hat man in seinem Leben nie Ausgrenzung erfahren oder verzweifelte, unerfüllte Liebe gespürt, dann wird er einen möglicherweise kalt lassen. Es ist nun Mal so, dass Filme ein bisschen das sind, was man mit ihnen verbindet. Gibt es diesen emotionalen Nährboden, dann nisten sie sich ein und bleiben lange. Für mich? Für mich ist es ähnlich wie wenn ich das Musikvideo zu Macklemore & Ryan Lewis Song „Same Love“ anschaue. Ich könnte heulen wie ein Schlosshund. Und tue das manchmal auch. Moonlight ging mir unter die Haut, weil jede Faser meines Körpers am liebsten schreien wollte: macht das dieser empfindsame Typ (auch wenn er jetzt Grillz trägt) irgendwann nach über zwanzig Jahren Mal Liebe empfindet, Liebe entgegen gebracht wird und dass er glücklich wird und sich nicht verstecken muss. Ich habe selten einen Film geschaut mit solch einer Angst, dass unausgesprochene Gefühle unausgesprochen bleiben.

Moonlight, USA, 2016, Barry Jenkins, 111 min, (10/10)

Sternchen-10

„Moonlight | Hello Stranger | Barbara Lewis“, via Music Remix (Youtube)
https://www.youtube.com/watch?v=5NeVKA43RbI

Ich bin immer noch vollkommen fertig von dem Film. Deswegen müsst ihr jetzt reden. Habt ihr den Film schon gesehen? Wie hat er euch gefallen? Ist er Oscar-würdig?

7 Antworten

  1. Ich glaube, dass du Recht hast, wenn du sagst, ein Film ist das, was man mit ihm verbindet. Ich bin ganz anders aufgewachsen, als ich heute bin und wahrscheinlich damals auch schon war. Moonlight hat mich auch genau da gehabt. Ein wunderbarer und warmer Film. Mochte die Kamera auch sehr gern.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Naja … es wundert einen manchmal wie sehr Filme polarisieren und wie unterschiedlich die wahrgenommen werden. Während die meisten The Big Lebowski für ganz große Kunst halten, finde ich den Film gerade so ok. Und von einigen Bloggern habe ich gelesen, dass sie Moonlight ok fanden, aber nicht für Bester-Film-Stoff halten. Das will ich gar nicht verurteilen oder sowas – sondern es ist halt immer die Frage wie sehr einen ein Film berührt. Und Moonlight hat da bei mir auch eine wunde Stelle getroffen. Der Soundtrack läuft sogar bei mir gerade rauf und runter XD Spotify sei dank.

  2. Ich war von der Ausrichtung des Films positiv überrascht – insbesondere davon, dass er ohne Worte so viel erzählt. Allgemein ist es ein bemerkenswerter Film dessen gefühlvolles und hervorragendes Schauspiel den Zuschauer augenblicklich einfängt und mitnimmt. Er mischt mutig scheinbar Gegensätzliches zusammen und dadurch fragt man sich schon was einen wohl mehr prägt: man selbst oder sein Umfeld? Am Ende ist aber tatsächlich jeder seines Glückes Schmied und doch ist es tragisch, dass die richtigen Werkzeuge einem dazu oft fehlen und viele nahezu barhändig ihr Glück formen müssen.

    Was einen Oscar angeht mag er ihn verdienen, allerdings hat mich Arrival schwer beeindruckt und zumindest 2017 hätte ich den Oscar für den besten Film lieber dort gesehen.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Stimmt, guter Punkt. Gesprochen wird wirklich manchmal sehr wenig und man glaubt den Charakteren doch am Gesicht soviel ablesen zu können. Das hat mich auch sehr begeistert und in den Bann gezogen. Mir kam währenddessen auch oft der Gedanken „Wenn ich denke, dass ich den Charakter so gut kenne und meine seine Gedanken lesen zu können, warum können das scheinbar andere nicht?“ Wirklich ein toller und gefühlvoller Film.
      Das bezüglich der Umwelt und Prägung und den Werkzeugen hast du aber gut formuliert. Manchmal frage ich mich auch wieviel das Umfeld bewegt und wieviel von einem selbst kommt. Ich denke bis auf krasse Ausnahmen ist aber jeder bis zu einem bestimmten Grad selbst in der Lage was zu bewirken. Chiron hat es irgendwann auch aus seiner Nachbarschaft geschafft und zumindest charakterlich und im Inneren auch irgendwo sich selber treu geblieben. Was ich über den Rest denken soll … schwierig. Aber dass er tief drinnen Chiron geblieben ist, hat mich irgendwie berührt und positiv gestimmt.

      Ich komme aber tatsächlich ins Schwanken … zwischen Arrival und Moonlight als bester Film möchte ich mich nicht entscheiden müssen. Aber ja, auch ich finde Arrival immer noch großartig.

      1. Vielleicht fehlt anderen oft die Rückmeldung und dadurch fühlen sie sich dann nicht wahrgenommen, stören sich daran und nehmen dann auch Chiron nicht mehr wahr sondern instrumentalisieren ihn so wie es ihnen gerade in den Kram passt oder bis die Rückmeldung kommt … schwer zu sagen.
        Danke für das Kompliment 🙂 Der Satz hat mich eine Weile begleitet. 😉

  3. Deine Meinung zur schauspielerischen Leistung von Naomi Harris teile ich uneingeschränkt. Die ist echt ne Wucht in dem Film. Ansonsten bin ich aber nur bedingt warm geworden mit dem gezeichneten Milieu und der Figur des Little/Black/Chiron. Musikalisch ist „Moonlight“ aber auch nicht zu verachten. Immerhin ein paar Aspekte blieben für mich positiv in Erinnerung.

  4. […] an der Filmfront war ich diesen Monat recht fleißig. Zum Einen hat es mich für Moonlight und Die rote Schildkröte ins Kino gezogen. Beide haben mich sehr berührt, insbesondere Moonlight […]

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