Bitte nicht diesen wunderbaren Animationsfilm mit dem etwas drögen 2006er Spielfilm mit Edward Norton verwechseln. L’Illusionniste erschien eigentlich nur in Österreich unter dem Titel Der Illusionist und beißt sich im deutschen Raum bei einer Direct-to-DVD-Veröffentlichung unter dem Titel The Illusionist, mal L’Illusionniste, durch. Er handelt vom verkannten Zauberkünstler Tatischeff, der in den 1950er Jahren durch Paris und später das Vereinigte Königreich tingelt und versucht sich durchzuschlagen. Mit durchwachsenem Erfolg. Mal bleiben die Sitzreihen in den Theatern und Veranstaltungshäusern leer, mal wird er frenetisch in einer kleinen schottischen Gemeinde gefeiert. Nicht selten macht es den Eindruck, dass er mit seinem frechen Hasen im Hut und anderen Tricks aus der Mode ist. So wird die Boyband gefeiert und die Fans flippen aus, Minuten später ist bei seinem Auftritt der Zuschauerraum wie leergefegt. Dabei lässt der Film auf angenehme Weise offen, ob Tatischeff ein Illusionist ist oder tatsächlich Magie beherrscht. Auf jeden Fall legt er eine wunderbare Menschlichkeit an den Tag, als er dem jungen Dienstmädchen Alice ein Geschenk macht und zum Lächeln bringt – was auch eine Art Magie ist. Von da an reisen die beiden zusammen durch englische, schottische und walisische Landschaften.
„The Illusionist | Official Trailer (2010)“, via Sony Pictures Classics (Youtube)
Im Namen des glücklosen Zauberers Tatischeff steckt nicht ganz umsonst Tati. Der französische Schauspieler und Regisseur Jacques Tati, der mit seinem tollpatschigen Monsieur Hulot (u.a. Die Ferien des Monsieur Hulot und Trafic) weltbekannt wurde, schrieb das Originaldrehbuch. Er setzte den Film nie um. Das übernahm stattdessen der Comicautor und Regisseur Sylvain Chomet, auf dessen Konto schon der Animationsfilmklassiker Das große Rennen von Belleville ging. Chomet steht für angenehmes, erwachsenes und facettenreiches Animationsfilmkino. Er lässt Tatischeff ein wenig Hulot-esque erscheinen und liefert nicht nur mit dem Namen des Illusionisten eine großartige Hommage an Jacques Tati. Wie Monsieur Hulot ist Tatischeff ein nettes Kerlchen, das manchmal eben nicht soviel Glück hat. Chomet gibt der Geschichte eine traurig-melancholisch angehauchte Note, die immer wieder von zarter Situationskomik aufgelockert wird.
Der Film entwickelt sich in die Richtung, dass Tatischeff mit seinen bescheidenen Mitteln Alice Perspektiven für ein besseres Leben eröffnet und muss dadurch selber bald jeden Groschen zusammenkratzen. Mit seiner tollpatschigen Art versucht er es u.a. bald als Automechaniker – um nur eins seiner Erlebnisse zu schildern. Hat die Welt noch Platz für Magie und Lächeln? Eine fast düstere Note mischt sich in die letzte Hälfte des Films und verlangt dem Zuschauer Aufmerksamkeit ab bei den Auftritten der Nebencharaktere wie dem Bauchredner und dem Clown. Freunde Tatischeffs und tragische Figuren, denen das Leben trotz ihres Könnens gnadenlos die Daseinsberechtigung oder Aufmerksamkeit entsagt, einfach nur weil andere gerade „cooler“ oder „moderner“ sind. Das Dilemma derer, die auf Bühnen stehen. Und etwas, das ich nicht unterschreibe. Wäre Tatischeff hier, ich würde seine Veranstaltung buchen. Der Animationsstil erinnert stark an Das große Rennen von Belleville mit seinen realistischen Umgebungen und den Figuren, deren herausstechende Merkmale gerne mal etwas überspitzt und detailliert hervorgehoben sind. Die Charaktere sind herrlich menschlich, fast tragisch menschlich und die Animation detailverliebt. Da hat einer Mal ein Loch in der Socke und der störrische Hase aus Tatischeffs Hut einen starken Widerwillen. Der Film setzt auch hier auf Melancholie, wenig gesättigte Farben und streut stets wunderbare Randdetails ein wie das Rupfen von Gänsefedern, die wie Schnee wirken. Es gibt keine Magier, schreibt Tatischeff an einer Stelle in dem fast dialoglosen (und damit wunderbar empathischen und grenzen-überschreitend gültigen Film) und ich stimme nicht zu. Er ist einer. Genauso wie Tati und Chomet.
Der Illusionist (OT: L’Illusionniste), UK/Frankreich, 2010, Sylvain Chomet, 80 min
Jeden Monat stelle ich einen Film vor, den ich für einen fantastischen Film halte – losgelöst von Mainstream, Genre, Entstehungsjahr oder -land. Einfach nur: fantastisch. 😆
Schreibe einen Kommentar