Letzte Woche öffnete die Nippon Connection, das japanischen Filmfestival, seine Pforten als „Ersatzlösung“ in Zeiten von Corona online statt „analog“. Glück im Unglück: wer nicht Urlaub bekommen hätte oder den Weg nach Frankfurt am Main nicht antreten kann, kam zum Feierabend trotzdem in den Genuss japanischer Filme, anregender Vorträge und Podiumsdiskussionen. In der Kategorie „Nippon Docs“ des Festivals werden Dokumentarfilme gestreamed – einige davon als Europapremie. Auch wenn ich mangels Urlaub nicht alle durchsuchten konnte, habe ich mir ein paar anschauen können. Neben dem Fakt, dass sie Dokumentarfilme sind, haben sie außerdem Regisseurinnen als gemeinsamen Nenner und passen damit sehr gut zum Thema der Nippon Connection 2020 „Female Futures?“ Die Besprechungen sind natürlich spoilerfrei.
Ainu – Indigenous People Of Japan
In Regisseurin Naomi Mizoguchis erstem Dokumentarfilm in Langform begleitete sie vier Angehörige der Völkergruppe der Ainu. Hauptsächlich im Norden Japans auf Hokkaidō angesiedelt, versuchen sie ihre Traditionen, die Sprache und Kultur aufrecht zu erhalten. Zur Zeit der Meiji-Restauration im 19. Jahrhundert sollten sich die Ainu der japanischen Festlandkultur unterordnen, erlebten Rassismus, Zwangsumsiedlungen und das beginnende, allmähliche Verschwinden ihrer Kultur. Selbst die Ältesten, die Mizoguchi begleitet, sprechen Ainu nicht mehr fließend. Eine ganze Kultur wehrt sich gegen das Verschwinden.
„Ainu – Indigenous People of Japan // Trailer“, via NipponConnectionTV (Youtube)
Ainu begegneten mir kurz in einem Buch und Film, weswegen ich umso gespannter war mehr über das Volk zu erfahren. Durch die Angliederung an die japanische Bevölkerung („Waji“ wie die Ainu sagen), beruht die Zugehörigkeit eher auf „Bezeichnung“ – andererseits was braucht es mehr als den Willen der Zugehörigkeit zum Aufrechterhalten der Kultur? Unter den Ältesten gibt es mal mehr, mal weniger das Empfinden sich mehr den Ainu oder mehr den Waji zugehörig zu fühlen – oder eben beiden. Für uns mag es kaum vorstellbar erscheinen, dass eine Kultur kaum noch überlieferbar ist und droht zu verschwinden. Das Verschwinden von Staaten, sozialen und gesellschaftlichem Gefüge ist etwas, dass beispielswiese ehemalige DDR-Bürger sicherlich sogar sehr gut nachvollziehen können, aber wie ist es mit einer ganzen Kultur, zu der auch eine Sprache und Rituale gehören?
Mizoguchi fängt einige dieser als Momentaufnahmen ein und hilft damit sie zu bewahren, was ein großer Verdienst ist. Wir hören Ainu-Lieder, Sagen, erleben Feste. „Als Momentaufnahmen“ bedeutet allerdings auch, dass es verhältnismäßig wenig Erklärungen zu den Ainu selber gibt. Vorrangig dreht sich die Dokumentation um ihre Bemühungen beispielsweise die Sprache oder Kunst des Webens aus Baumrinde weiterzugeben. Viele Aspekte wie der Glaube (offenbar an Naturgötter) oder der Rassismus, dem sie nach der Zeit der Restauration begegneten, kommen für meinen subjektiven Geschmack zu kurz. Die Dokumentation selber ist einwandfrei gedreht, nur nicht ganz so modern wie sie sein könnte in ihrer Wahl an Szenen, Einstellungen, Blenden oder sogar gemessen an kleineren Details wie Fonts und Typeneinsatz. Nichtsdestotrotz ist sie ein wichtiges Dokument und ein Dienst an einem ganzen Kulturkreis, da die Online-Recherche zeigt, dass wenig schriftliches über die Ainu digital konserviert wurde. Ainu bedeutet übrigens Mensch.
Tipps zum Weiterlesen über Ainu:
Learning an Endangered Language: Ainu
Ainu for Beginners
Ainu – Indigenous People Of Japan (OT: Ainu | ひと), Japan, 2019, Naomi Mizoguchi, 80 min, (6/10)
„Naomi Mizoguchi – Ainu, Indigenous People of Japan – Video Message“, via NipponConnectionTV (Youtube)
Cenote
Kaori Odas Filmografie beweist, dass sie bewandert ist, was die Darstellung von Kulturen, Mythen und unterschiedlichsten Landstrichen der Welt betrifft. So widmete sie sich bereits u.a. Bosnien und insbesondere bosnischen Minen. In ihrem 81-minütigen Dokumentarfilm Cenote geht es um die gleichnamigen teils mit Wasser gefüllten Höhlensysteme in Mexiko, die auch Gegenstand zahlreicher Sagen und Mythen sind. Sie würden den Übergang zwischen Leben und Tod darstellen. In ihnen würden die Götter hausen. Wer die Kraft der Cenotes unterschätzt, den kommen sie holen und geben ihn nicht wieder her. Man könne sich darin verirren und wird eventuell nie wieder gefunden. Auf den Zuschauer springt der Effekt der verblüffenden Cenotes v.A. deswegen über, weil sie teilweise schwer zugänglich und unwegsam sind und daher wunderbar unberührt von touristischer Neugier. Zumindest so, wie sie uns Kaori Oda zeigt.
„Cenote // Trailer“ via NipponConnectionTV (Youtube)
Das kristallklare Wasser gibt den Blick auf unberührte Flora und Fauna frei. Lichtstrahlen brechen sich. Die Wasseroberfläche ist wie ein Spiegel. Herunterfallende Tropfen und Lichtreflektionen werden surreal verzerrt und gefiltert zu einem schwarz-weißen Feuerwerk. Sauerstoffblasen sammeln sich an der Decke von mit Wasser gefüllten Höhlen. Was eben noch so einladend, frisch und lebendig aussah, wirkt plötzlich lebensfeindlich und außerirdisch. Kaori Oda vereint all die Eindrücke in einem experimentellen Empfindungskino, in dem sich Zuschauer*innen aussuchen dürfen, was sie hineininterpretieren und daraus herauslesen möchten. Die Aufnahmen aus den Cenotes werden von Bildern der Einheimischen unterbrochen, von Sequenzen aus Volks- und Schlachtfesten und unterlegt mit Erzählungen von Legenden über die Cenotes. Meine Lieblings-Lesart ist die von Kindern, die aus einem früheren Leben erzählen, nachdem sie die Cenote überwunden haben. Aber die Masse an Eindrücken, Reizen und Deutungsarbeit macht müde und fordert. So faszinierend sie ist, erschöpft sie doch stark nach mehr als einer Stunde. Ein verblüffender Dokumentarfilm, der gefühlt in eine andere Welt versetzt, aber auch sehr fordernd ist. Da Oda dort offenbar selber tauchte und Kamera führte, ziehe ich meinen imaginären Hut doppelt!
Cenote (auch: Ts’onot, OT: セノーテ), Japan/Mexiko, 2019, Kaori Oda, 81 min, (7/10)
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Ich gestehe: Dokumentarfilm ist normalerweise nicht mein Genre. Ich schaue auf das Jahr verteilt vielleicht zehn Dokus, wenn ich gut bin. Aber das Programm der „Nippon Connection“ hatte dermaßen spannende Themen und vielfältige Formen, dass ich nicht widerstehen konnte. Letzten Endes habe ich nicht mal alle geschaut, die mich interessiert hätten. Die beiden hier könnten unterschiedlicher kaum sein, haben aber noch eine Gemeinsamkeit: sie adressieren Folklore, Überlieferungen und Sagen. Und funktionieren v.A. dank der spezifischen geografischen Orte, an denen sie entstanden sind. Welche Dokus habt ihr zuletzt gesehen und wie haben sie euch gefallen? Habt ihr evtl auf der „Nippon Connection“ sogar die beiden hier gesehen? Kanntet ihr die „Ainu“ oder „Cenotes“?
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