Womit könnte man den Besprechungsmarathon zu den Filmen der Nippon Connection 2020 besser beenden als mit dem persönlichen Highlight? Das ist höchst subjektiv, aber das ist wohl die ganze Kategorie „Fantastischer Film“. 🙂 My Sweet Grappa Remedies handelt von der Bürangestellten Yoshiko (Yasuko Matsuyuki). Sie ist vierzig Jahre alt, kinderlos und einsam. Sie erörtert alle diese Fakten in einer Art innerem Monolog bzw ihrem „Tagebuch“ wie sie es selber nennt. Dabei sind ihre Gedanken und Alltagsbeobachtungen mitnichten depressiv, sondern herzerwärmend und tragikomisch. Sie sehnt sich zwar nach all dem, was viele ihrer Altersgenossinnen haben (Ehemann, Kinder, …), aber sie brütet nicht darüber. Sie genießt die schönen Dinge des Lebens und gönnt sich etwas. An den doch schlechten Tagen ist sie jedenfalls ehrlich zu sich selber. Es ist nicht selten, dass sie im Stillen sagt, sie muss sich zusammenreißen um nicht zu weinen oder dass sie einen Drink braucht. Dabei bewahrt sich der Film eine herrliche, leichte Situationskomik mit einigen skurrilen Szenen.
„My Sweet Grappa Remedies // Trailer“, via NipponConnectionTV (Youtube)
Yoshiko ist der Typ Mensch, der sich gern am Zug hinter einer älteren Dame anstellt und sich vorstellt, dass es ihre Mutter wäre. Sie genießt es ihre neuen Schuhe auf Arbeit auszuführen oder mit ihrem Fahrrad und ordentlich Tempo den Berg hinunterzurollen. Sie stellt sich an einem Bahnübergang vor, dass auf der anderen Seite die Liebe ihres Lebens wartet, damit das Warten nicht wie Zeitverschwendung wirkt. Sie nimmt mal einen anderen Weg zur Arbeit und wenn sich eine besonders schöne Aussicht bietet, dann könnte sie vor Freude darüber weinen. Man kann sagen, dass Yoshiko eine Art erwachsen gewordene und weniger illusorische Amélie ist. Aber die Einsamkeit nagt sichtlich an ihr. Und wie das so ist mit Teufelskreisen: es ist umso schwerer die zu verlassen, wenn die Aussicht besteht verletzt zu werden. Besonders verbessert sich Yoshikos Leben dadurch, dass sie einige ausgewählte Menschen eben doch an sich heranlässt. Namentlich ihre flippige Kollegin Wakabayashi (Haru Kuroki) und deren ehemaligen Kommilitonen Okamoto (Hiroya Shimizu).
Am wahrscheinlich angenehmsten ist, dass der Film überhaupt kein großes Drama oder abendfüllende Diskussionen daraus macht, dass sich Yoshiko in den an die zwanzig Jahre jüngeren Okamoto verliebt. Damit erhebt sich Akiko Ōku über gesellschaftliche Ansichten und verrostete Versteifungen hinweg. Es wird auch die ganze Zeit über von niemandem die Nase über den Fakt gerümpft, dass Yoshiko als Fourty-Something „noch nicht“ verheiratet ist. Aber er nimmt sich Zeit für das Dilemma der Einsamkeit – akzeptiert die dunklen wie die schönen Momente. Denn zu Leben gehört wohl auch wie man mit den schlechten Tagen umgeht. Ich wünschte mir beim Anschauen des sehr rührenden, herzerwärmenden und witzigen Films die Welt ab jetzt ein bisschen mehr wie Yoshiko zu sehen. Sehr wahrscheinlich das Feelgood-Movie 2020. Jetzt muss man nur noch die Daumen drücken, dass der auch bald einen offiziellen Kinostart und/oder Release auf Disc bekommt. Please!
My Sweet Grappa Remedies (OT: 甘いお酒でうがい), Japan, 2019, Akiko Ōku , 107 min
„Akiko Oku – My Sweet Grappa Remedies – Videomessage“, via NipponConnectionTV (Youtube)
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Jeden Monat stelle ich einen Film vor, den ich für einen fantastischen Film halte – losgelöst von Mainstream, Genre, Entstehungsjahr oder -land. Einfach nur: fantastisch. 😆
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