ausgelesen: Michel Faber „Das Buch der seltsamen neuen Dinge“

Weinst du, wenn du die Nachrichten hörst? Nicht immer? Nie? Ist es nicht beschämend, dass uns die Nachrichten nicht jeden Tag die Tränen in die Augen treiben? Sind wir abgestumpft? Oder ist der Selbstschutz nötig um zu funktionieren? Ist es vielleicht gar kein Zeichen von Kälte, sondern ein notwendiger Abstand? Michel Faber geht diesem Phänomen in seinem Roman Das Buch der seltsamen neuen Dinge auf den Grund. Darin wird der Pastor Peter Leigh auf den fernen Planet Oasis geschickt. Auf der Erde lässt er seine Frau Bea zurück. Zwar ist sie sein emotionaler Anker und Ratgeberin in allen Belangen, aber es kann aus Kostengründen nur eine Person geschickt werden. Der Abschied fällt ihnen schwer. Die Reise ist hakelig. Und hat wenig Platz für Weltraum-Romantik. Kaum, dass sich Peter auf Oasis einlebt, driftet er von Bea ab, mit der er nur Textnachrichten austauschen kann. Und Bea leidet auf der Erde. Anfangs gibt es schleichende Symptome und leise Anzeichen, später ist klar: während er dort oben missioniert, geht die Erde vor die Hunde.

Irgendwo in dem Buch (genauer gesagt auf S. 63) fällt in eher unspektakulärem Zusammenhang die Phrase „wie Karten des Unkartierbaren“. Und so ähnlich fühlt es sich an Michel Fabers Roman zu lesen. Das Buch der seltsamen neuen Dinge kommt ganz ohne den üblichen Kitsch verschiedener Genres aus. Das demonstriert auch schon die wenig glorreiche Ankunft Peters. Zwischen Ohnmachtsanfällen, Schweißausbrüchen und den Problemen sich an das Klima auf Oasis zu gewöhnen ist wenig Platz für Pathos. Die Basis und deren Bewohner sind alles relativ desillusionierte Praktiker, die für Peters Erläuterungen von Glauben und Bibel relativ unempfänglich sind. Und sie flippen auch nicht wegen der Oasier aus. Die finden sie eher komisch. Komisch im Sinne von seltsam, nicht ha-ha.

„Das wars, jetzt wusste er, was an diesem Ort so entmutigend war. Es gab kein Bemühen nach dem Himmel zu greifen. Keinen Turm, keine Kuppel, kein Fahnenmast, nicht mal ein bescheidenes Dreiecksdach. Hier jetzt ein Kirchturm!“ p.143

Peter kann es kaum erwarten die Eingeborenen zu treffen. Aber auch hier ist das Buch fernab allen Space-Opera-Kitsches, denn die Oasier haben zwar rudimentär humanoide Körper, aber kein Gesicht so wie wir es kennen. Ohne deutbare Mimik muss Peter anhand anderer Anzeichen lernen abzulesen wie es ihnen geht, was sie umtreibt und was sie möglicherweise denken. Immerhin kann er sich ins gemachte Nest setzen. Denn seine Vorgänger haben den Oasiern bereits ein wenig Englisch beigebracht. Und die Oasier fahren auf die Bibel und Glauben ab. Sie sind wissbegierig und empfangen Peter wie einen Ehrengast.

Natürlich umgibt sich Peter bald schon viel lieber mit seiner wichtigen Aufgabe und missioniert die, die schon längst missioniert wurden, statt sich mit Beas Problemen und der Rationalität der Wissenschaftler und Techniker auf der Basis auseinanderzusetzen. Die sind alle disconnected – das Interesse an der Erde ist gering. Ein Orkan? Eine Seuche? Schulternzucken. Und Peter als Geistlicher, der Mitgefühl und edle Weisen predigt, ist davon nicht ausgenommen. Seine Nachrichten an Bea gleiten ab in Mansplaining und eine Art religiöse Borniertheit. Immerhin in Maßen. Michel Faber bleibt dicht an seinen Charakteren, vermittelt beide Sichtweisen glaubwürdig. Und das obwohl Bea nur durch die Nachrichten zu Wort kommt, die sie Peter schickt. Das ist meisterlich gelungen. Auch Peters zunehmende Hilflosigkeit seine Ehe aufrecht zu erhalten.

Wir als Leser sind Eingeweihte, aber nicht Allwissende. Zwar lesen wir Peter und Beas Nachrichten, die sich von der restlichen Erzählung durch das Schriftbild optisch abheben, aber wir werden zur Sichtweise von Oasis verschoben. Was auf der Erde abgeht, erfahren wir auch nur durch Beas Nachrichten. Aber das schockiert. Und offenbar den Leser mehr als Peter. Im Gegensatz zu Bea sehen wir übrigens, was Peter editiert und doch nicht an sie abschickt. Es ist krass zu sehen wie unfähig Peter ist all die guten, hoffnungsvollen und Trost spendenden Worte auch an seine Frau zu richten. Ihre Ehe bröckelt – sie basierte viel darauf wie Bea Peter einst rettete und darauf, dass sie zusammen waren. Das fällt nun weg. Die Distanz und Latenz der Nachrichten zehrt an ihrer Liebe, dem gegenseitigen Verständnis und v.A. der Einschätzung der Lage. Als ob Peter gar nicht versteht, was Bea da schreibt. Damit adressiert Faber das fehlende Mitgefühl und die Konzentration stets nur auf das um uns herum. Das kennt scheinbar nicht mal Halt vor Liebe, Sehnsucht und Ehe. Aber er macht uns keinen Vorwurf. Dass Peter denkt sich großen Aufgabe zu widmen, wird auch klar. Und die Wahrheit ist: irgendwem bedeutet es etwas, was er tut. Wie so oft gibt es kein Gut, kein Böse, sondern reichlich Graues dazwischen.

Für diese Parabel ausgerechnet einen Geistlichen zu nehmen ist schon irgendwie ein Geniestreich. Und fairerweise muss man sagen: das ist nur meine Interpretation. Das Buch der seltsamen neuen Dinge lässt dafür eine Menge Spielraum. Auch das Erkunden des fremden Oasis ist spannend. Dort schmeckt das Wasser leicht nach Melone, die Nächte dauern drei Tage an und es ist lähmend schwülwarm. Den Dunkel-aquamarinblauen Himmel würde ich auch gern mal sehen. Trotzdem liest es sich nicht wie ein Abenteuerroman oder eine Space Opera. Michel Faber und Übersetzer Malte Krutzsch bleiben bei den Zwischentönen. So ganz zufällig ist es aber sicherlich nicht, dass die Ausgabe von Kein & Aber an das klassische Bibel- und Gesangsbuchformat aus dem Sonntagsgottesdienst erinnert. Dünne, eng bedruckte Seiten in einem relativ kleinformatigen Buch, dass durch die Masse recht dick im Durchmesser ist. Der Vergleich zum Das Buch der seltsamen neuen Dinge wie die Oasier die Bibel nennen, drängt sich auf.

„Hier ist es immer noch dunkel, wir sind genau in der Mitte der Dreitagenacht. Draußen war ich nicht, aber ich habe den Regen gesehen. Der Regen hier ist sagenhaft. Er pendelt vor und zurück wie so ein Perlenvorhang.“ p.76

Auch erfrischend anders ist die Sprache und Schrift der Oasier, die sich im Buch oftmals wiederfindet. Sie haben Probleme Zischlaute auszusprechen. An den Stellen finden sich bis zuletzt oasische Zeichen. Die Oasier sind unaufgeregt, aber nicht unemotional – sie nehmen auch den Tod gelassen. Zumindest soweit wir das durch Peter Augen wahrnehmen können. Es ist erfrischend, dass man sich bis zum Schluss keinen Reim auf die Oasier machen kann. Aber soviel: sie sind fasziniert vom Eskapismus der Bibel. Glaube ist die Fähigkeiten die Hoffnung nicht zu verlieren. Vielleicht ist das der Wirkungstreffer, der den unaufgeregten Oasiern den Kick gibt. Vielleicht merkt auch Peter, dass die Missionierung hier entweder nie notwendig war oder schon erfolgreich. Oder dass die Religion hier als etwas ganz anderes ausgelegt wird, das er aufgrund der Sprachbarriere und Andersartigkeit zwischen Mensch und Oasier nie in der Gänze vermitteln kann. Vielleicht gelingt es ihm an total unerwarteter Stelle etwas zu bewirken. In seiner nächsten Nähe. Nähe. Wie weit ist Nähe? Manchmal ist es einfacher Fremden zu helfen als denen, die einem an nächsten stehen – wie Bea später auch Peter vorwerfen wird. Vielleicht müssen wir uns alle nur gegenseitig nahe bleiben.

Das Buch der seltsamen neuen Dinge ist 2014 erschienen und wurde 2018 bei Kein & Aber für den deutschsprachigen Markt veröffentlicht. Und die Ausgabe hat eine wirklich tolle Aufmachung mit dem goldglänzenden Umschlag. Das Buch ist abwechslungsreich und interessant. Es gibt viele Aspekte, in denen man sich verlieren kann wie die Ehe Peters und Beas, die Oasier und der fremde Planet, der leicht hoffnungslose Unterton der Arbeiter auf Oasis und wie man einen fremden Planeten von der Erde aus versorgt, Religion und Glaube – und was mit der Erde passiert!? Kann man sich nicht für alles gleichermaßen begeistern, kann der ganze andere Rest dann sehr langatmig wirken. Und ist wohl auch nur was für Leser, die gern selber interpretieren und die Botschaft suchen wollen statt sie erklärt zu bekommen.

Der Niederländer Michel Faber ist vielleicht einigen unbewusst bereits ein Begriff durch seine bisherigen Veröffentlichungen. Eine davon wurde später als Under the Skin mit Scarlett Johansson als Film adaptiert und war auch in der Filmblogosphäre und Cineasten-Szene viel diskutiert, gehyped und gemocht. Auch in dem Film geht es um Mitgefühl – hier am Beispiel eines Aliens. Ich kann auch den Film sehr empfehlen, wobei er einige Szenen und eine Botschaft hat, die es in sich haben. Witzigerweise habe ich gerade erst gelesen, dass auch Das Buch der seltsamen neuen Dinge verfilmt wurde. Amazon brachte 2017 einen Serienpiloten unter dem Namen Oasis mit Richard Madden in der Hauptrolle raus. Aber der Fokus hat sich deutlich zu einem postapokalyptischen Setting a la „rettet die Erde (oder auch nicht)“ verschoben. Schade.

Oasis Pilot Trailer from Left Bank Pictures on Vimeo.

Fazit

Buch mit spannenden Ideen, das aber etwas Interpretationsvermögen und Ausdauer erfordert, aber zumindest für mich eine wichtige Botschaft vermittelt.

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-0369-5779-1, Kein & Aber Verlag

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

3 Antworten

  1. Avatar von voidpointer
    voidpointer

    Huii, das klingt wieder nach einem sehr interessanten Buch. Danke fǘrs Review und die interessanten Zitate.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ja sehr gern doch! 🙂 Es ist wirklich interessant, aber man braucht etwas Atem und Geduld. Dafür gibts viel zu diskutieren.

  2. Das klingt wirklich nach einem aussergewöhnlichen Buch! Schon allein die verschiedenen Formate (Nachrichten, oasische Schriftzeichen) interessieren mich und es klingt nach der perfekten Mischung azs SciFi und Überlegungen aus unserer Welt 🙂

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