Netzgeflüster: Buch-Besprechung „Scrum Mastery“ von Geoff Watts

Neben der Tätigkeit als Softwareentwicklerin ist es ein schöner Ausgleich Scrum Masterin zu sein. Beides ergänzt sich für mich gut. Wenn ich das Gefühl habe als Entwicklerin gerade nicht unbedingt meine Kreativität ausleben zu können, dann bietet mir die Auseinandersetzung mit dem Team, das Suchen von Lösung und manchmal auch einfach nur das Vorbereiten einer Retro einen Nährboden und ausgewogenen Arbeitsalltag. Trägt das was man tut Früchte, gibt es kaum etwas schöneres im Arbeitsleben. Wenn sich dann Routinen einschleichen, ist es meist ein guter Zeitpunkt mal nach rechts und links zu schauen. So wühlte ich in zwischen uns Mitarbeitern geteilten Liste von Literaturempfehlungen über Agiles. Der Titel „Scrum Mastery“ sprach mich an und sah auch nicht nach Anfängerlektüre aus. Die Besprechung folgt, aber soviel nehme ich vorweg: es ist ein wirklich gutes Buch für all jene, die mit Scrum und dem Agilen schon vertraut sind, aber Impulse brauchen oder einfach eine Erinnerung daran, was Scrum (Master*in) erreichen will.

Von gutem zu großartigem Servant Leadership

Autor Geoff Watts ist in Großbritannien ansässig und langjähriger Coach und Scrum Master. Der vollständige Titel des Buches ist „Scrum Mastery – Von gutem zu großartigem Servant Leadership“, was nun als erstes die Frage nach sich zieht, was ist Servant Leader ist? Zwar habe ich den schon einige Male gehört und kann mir etwas darunter vorstellen, aber Watts erklärt die Ursprünge und die gehen weiter zurück als ich erwartet habe. Der Begriff diente oftmals als Scrum noch in den Kinderschuhen steckte als Erklärung, was genau ein Scrum Master ist, wurde aber schon in den 1970er Jahren durch Robert K. Greenleaf geprägt. Servant Leadership bezeichnet eine Art Führungsstil, in der jemand zuallererst „dient“, das Team bevollmächtigt und auf dessen Bedürfnisse eingeht. Erst an zweiter Stelle steht „führen“. Der Ansatz wäre für die ganze Gesellschaft gewinnbringend, jedenfalls für Unternehmenskulturen. So ist ein Scrum Master jemand, der dem ganzen Scrum Team dient – Entwicklern wie PO. Und auch wenn Watts darauf nicht explizit eingeht, stelle ich die These auf, dass der Scrum Master auch sich selbst dienen muss. Denn nur wer achtsam mit sich umgeht, kann seine Aufmerksamkeit auf all das richten, was Watts als Zielbild erklärt.

In seinem Buch richtet sich Geoff Watts an Leser*innen, die mit Scrum und dem Agilen vertraut sind. Es gibt keine langen Erklärungen wie lang ein Sprint sein, wieviele Stunden eine Retro dauern sollte und keine ausufernden Erklärungen, was ein Product Owner tut. Das Buch ist damit vielleicht nicht für Scrum Neuling geeignet, aber auch nicht ungeeignet. Man lernt sehr gut wie Scrum funktioniert und worauf es ankommt. Erklärungen finden sich sowohl im Text wie auch ein paar in einem Abschnitt über Scrum am Ende des Buches. Weise Entscheidung niemanden damit am Anfang zu langweilen. Neulingen würde ich aber empfehlen zuvor den klassischen Scrum Guide zu lesen, um von Anfang an mit den Begrifflichkeiten vertraut zu sein. Nach einigen Vorworten (die es in der Masse meiner Meinung nicht gebraucht hätte), folgt die Erklärung von Geoff Watts Leitformel wie man von einem guten zu einem großartigen Servant Leader wird. Dazu hangelt er sich an dem Akronym RE-TRAINED entlang, das für nachfolgende Eigenschaften eines Servant Leaders und Scrum Masters steht:

R esourceful (einfallsreich)
E nabling (befähigend)
T actful (taktvoll)
R espected (angesehen)
A lternative (alternativ)
I nspiring (inspirierend)
N urturing (fördernd)
E mpathetic (empathisch)
D isruptive (revolutionär)

Watts widmet sich jeder Eigenschaft in einem extra Kapitel mit jeweils mehreren Unterkapiteln und Fallbeispielen aus dem echten Leben und macht mindestens einmal zu Beginn und am Ende den Unterschied von „gut“ zu „großartig“ klar. „Gut“ ist meistens, wenn man das tut, was der Scrum Master per Definition tun soll. So eine Art Minimumanforderung mit der das Team und Scrum durchaus funktionieren kann. „Großartig“ ist, was den Unterschied macht, um wirklich ein Servant Leader zu sein, der dem Team dient und dabei unterstützt das beste aus sich herauszuholen UND zufrieden zu sein. Der Vergleich ist hilfreich und hat mich einige Male zum Nachdenken gebracht, ob ich mich hin und wieder nur mit „gut“ zufrieden gebe und was ich tue, um „großartig“ zu erreichen? Eine Aussage, die sehr krass ist, aber auch sehr einleuchtend kommt relativ zu Beginn des Buches. Man erkennt, dass der Scrum Master erfolgreich war, wenn er sich überflüssig gemacht hat:

„Ein guter Scrum Master ist unentbehrlich für ein Team. Ein großartiger Scrum Master ist entbehrlich, aber ebenso erwünscht.“ p. 33

Das bedeutet, dass das Team Scrum anwendet und Mechanismen für die Zusammenarbeit gelernt hat und die Prozesse eigenständig durchschaut: es ist das bevollmächtigte Team. Klar, das mag nicht so bleiben und der Bedarf an neutralen Betrachtern mag ab und zu bestehen. Umso besser, wenn der Scrum Master nicht aus der Welt ist. Die Fallbeispiele sind vielfältig und ich mochte beispielsweise das von dem Team sehr, dass zwei Burndown Charts führt. Ein „schönes“ für den PO und das „wirkliche“. 🙂 Aber nicht alle der Fallbeispiele sind so offensichtlich problematisch. Andere sind schon nuancierter. Viele schwierig aufzulösen. Denn soviel macht auf Geoff Watts klar: es ist kein Kinderspiel all das zu erreichen und in allem „großartig“ statt „gut“ zu sein – genauso wie die Bedürfnisse von Teams grundverschieden sind.

Vollzeit- oder Teilzeit-Scrum-Master*in?

Im Anhang des Buches gibt es noch ein paar high-level Erklärungen zu Scrum und ein paar Absätze zur Frage, ob man als Voll- oder Teilzeit-Scrum-Master arbeiten soll. Hier kommen die Knackpunkte, über die man in der Theorie über Scrum und Agiles selten spricht: die Praxis. Üblicherweise kann man als Scrum Master eines Teams eine klassische 40-Stunden-Arbeitswoche nicht füllen. Was tut man also? In mehreren Teams scrum mastern? Oder geteilte Rollen eingehen so wie ich beispielsweise Entwicklerin und Scrum Master bin? Watts spricht sich gegen den Interessenkonflikt aus, der dadurch entsteht. Ich spreche mich gegen die geteilte Aufmerksamkeit in mehreren Teams aus (aus eigener Erfahrung) und dafür, dass man versteht, was das Team tut (zum Beispiel weil man Entwickler, Tester, etc ist oder war). Einen ersten Hinweis darauf, dass an seinem Argument aber durchaus was dran ist, bekam ich als ich oftmals während der Kapitel Nurturing, Inspiring und Enabling dachte „Wo nehmen die die Zeit dafür her?“ So deprimierend es klingen mag. Das Thema ist so komplex, dass es sicherlich mal einen eigenen Artikel wert ist.

Ein gutes oder ein großartiges Buch über Scrum Mastery?

Watts Buch profitiert sehr von den zahlreichen Fallbeispielen aus dem echten Leben, die mich an viele Situationen aus der Praxis oder dem Hörensagen der Praxis anderer erinnert haben. Damit macht er anschaulich, was er mit RE-TRAINED meint und die einzelnen Begriffe bleiben hängen. Schon alleine das macht das Buch sehr lesenswert und lehrreich. Das Plus ist der stete Praxisbezug – auch zu den globalen Themen. Nicht selten schlägt Geoff Watts eine Brücke zu den Unsicherheiten und Problemen die Unternehmen mit der Transformation zum Agilen haben. Menschen streben nach Sicherheit – und Veränderung klingt selten nach Sicherheit. Zwar kann man dafür keine allgemeingültige Lösung anbieten, aber es sensibilisiert dafür. In den einzelnen Kapiteln werden zahlreiche spielerische Ansätze (First of Five, Scrum Bingo, unvm) aber auch Theorien genannt (Nokia-Test, Das Parkinsonsche Gesetz, …), die zum Weiterlesen animieren. Okay,

Link-Listen animieren mich zwar nicht zum URLs abtippen (URL shortener sind hilfreich), aber wir alle wissen ja wie man Dinge in Suchmaschinen eingibt. Ich habe viele Fähnchen in das Buch geklebt. Vorrangig an Stellen, in denen ich mich wiedererkannt und ertappt gefühlt habe; bei Eigenschaften, in denen ich mich verbessern will oder manchmal auch nur bei Fakten, die ich interessant fand oder Mechanismen erklärt werden, die ich gern mal anwenden würde. Zwei sehr schöne Zitate aus dem Buch möchte ich noch teilen, die zwar nicht von Watts selber stammen, aber von den Vätern von Scrum:

„Entwickler sollten besser surfen gehen, anstatt Code zu schreiben, der nicht gebraucht wird.“ (Jeff Sutherland) p. 167

„Ein toter ScrumMaster ist ein nutzloser ScrumMaster.“ (Ken Schwaber) p. 87

Summa summarum kann ich das Buch sehr empfehlen, v.A. denjenigen, die schon Erfahrungen als Scrum Master*in gesammelt haben oder gar denjenigen, die das Gefühl haben mit Scrum auf der Stelle zu treten. Geoff Watts hat außerdem einen Podcast, in den ich mal reinhören möchte. Seinen TEDx-Talk kann ich auch empfehlen, selbst wenn der nicht von Scrum handelt, sondern davon wie man Perfektionismus ausbalanciert – da kann man auch einiges für sich und für Scrum entnehmen. 😉


„Balance your perfectionism to be creative | Geoff Watts | TEDxDurhamUniversity“, via TEDx Talks (Youtube) – ab ca. Minute 2 ist die Audio- und Video-Qualität deutlich besser, also bitte nicht abschrecken lassen

Wie sind eure Erfahrungen mit Scrum oder als Scrum Master? Kennt ihr das Buch? Gibt es Passagen, denen ihr nicht zustimmt oder die ihr als schwierig erachtet? Worin habt ihr euch oder euer Team wiedererkannt? Welche Empfehlungen für Literatur über Agiles habt ihr? Manchmal habe ich den Eindruck und höre das auch wortwörtlich, das Leute Scrum Master werden wollen, um ihre Social Skills zu verbessern oder ihrer Meinung mehr Gewicht zu verleihen (sich endlich durchsetzen zu können – schwierige Motivation). Doch denke ich, dass ein Scrum Master den Drive braucht Prozesse durchschauen und optimieren zu wollen. Der größte Indikator ist, wenn man denkt „Das Team könnte soviel mehr erreichen, wenn sie …“. Es gibt so unterschiedliche Ansätze – welche revolutionären sind euch vielleicht schon mal begegnet?

Netzgeflüster ist eine Kategorie meines Blogs in der ich mich immer zwischen dem 10. und 15. eines jedes Monats Themen aus IT, Forschung, Netzwelt und Internet widme genauso wie Spaß rund um die Arbeit mit Bits und Bytes. 🙂

7 Antworten

  1. Liebe Miss Booleana, danke für den Buchtipp. Ich war selbst auch mal Scrummasterin in Teilzeit, bin dabei aber doch manchmal sehr stark in einen Rollenkonflikt geraten. Heute hat das Team einen Vollzeit-Scrummaster (und ich entwickle in einem sehr viel kleineren Team, wo Scrum so keinen Sinn macht). Es würde mich sehr interessieren, wie du das hinkriegst – lässt du eher deine Teammitglieds-Perspektive raus, wechselst du transparent die Hüte oder hast du auch manchmal das Gefühl zu schlingern, wenn du selbst mitbetroffen bist?

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Hi Ruth,
      ach das ist ja spannend. Was waren das für Situationen (wenn du es teilen darfst), die dich in Rollenkonflikt gebracht haben?
      Den Konflikt nehme ich auch durchaus wahr, aber ich habe nicht den Eindruck, dass er das Geschehen und mich stark beeinflusst. Meistens kriege ich das dann noch mit und schalte einen Gang runter. Ich merke den Scrum Master ja eigentlich nur während der typischen Scrum-Meetings (Plannings, Retro etc.). Ansonsten bin ich eigentlich mehr im Entwickler-Mindset drin. Ergibt sich eine Situation in der man coachen müsste oder das Wissen über Scrum zurechtrücken muss, dann ist das, als ob eine Klingel läutet und dann wechsle ich quasi die Rollen. So ungefähr.

      Aber ich hatte auch schon Retros, wo es mir schwer fiel jetzt die Entwickler- oder Scrum-Master-Brille wegzulegen und die andere wieder aufzusetzen. Vermutlich ist das nicht der beste Ansatz, aber ich mag echt gern wie beides den Alltag bereichert und abwechslungsreicher macht. Ich könnte mir gar nicht mehr vorstellen nur noch zu entwickeln oder zu scrum-mastern. Ob das gut oder schlecht ist!? Schwierig.

  2. Was mich übrigens in Sachen Teams Stärken vielleicht am meisten inspiriert hat, war dieser Vortrag: https://ashfurrow.com/blog/building-better-software-by-building-better-teams/ . Unbedingt lesen! 😉

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ah, danke dafür! Sehr cooler Artikel! „Compassion is an optimization problem: to minimize suffering“ … so wahr. Wie oft habe ich mich mit solchen „brutal honesty“ Menschen rumgeschlagen oder welchen, die lieber weggucken, wenn man jemand struggled …

  3. Ich lese das Netzgeflüster echt mega gerne, weil ich immer so viel lerne! Danke dafür 🙂
    Habe kürzlich im HBR über Servant Leadership gelesen und mag die Idee sehr. Ganz liebe Grüße, Sabine

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Das freut mich sehr! Vielen Dank! 🙂
      Ja, mir erscheint die Idee auch großartig. Wenn man das einmal erlebt hat (meinetwegen durch Scrum) bin ich der Meinung, dass man schwer zurück kann/nicht zurück will. Zumindest geht es mir so …

  4. […] Videos gar nicht aufmerksam, die mir Lösungen versprechen. Neulich wurde in einem Podcast über Scrum eine Frage beantwortet, über die ich selber schon lange mariniere. Suche in der Suchmaschine […]

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