Fantastischer Film: Nomadland

Im Spätsommer und Herbst 2020 war ich das letzte Mal im Kino. Eigentlich hätte ich gern hier im Blog die Rubrik Neulich im Kino wiederbelebt, die dementsprechend über ein halbes Jahr ruhte. Aber andererseits war Nomadland eben einfach ein fantastischer Film. Zwar habe ich mich im Kino nicht besonders wohl gefühlt (was nicht am Kino lag, sondern an dem Umstand, dass wir immer noch in einer Pandemie leben), aber die Weiten in Chloé Zhaos oscarprämiertem und zu Recht viel gefeierten Film haben mich immer wieder mitgenommen, angenehm abgelenkt und sehr berührt. Nomadland basiert auf dem Buch Nomaden der Arbeit: Überleben in den USA im 21. Jahrhundert von Jessica Bruder und beginnt mit der fast surrealen Statistik der durch den Tagebau und die jobbedingten Siedler entstandenen Ort Empire. Und davon wie es Empire plötzlich nicht mehr gibt als das Geschäft dicht gemacht wird und alle jobbedingt wegziehen müssen. So auch die 60-jährige Fern (Frances McDormand).

Fern entschied sich für ein „Nomadenleben“, in dem sie ohne festen Wohnsitz zwischen den Bundesstaaten von Job zu Job oder Angelegenheit zu Angelegenheit pendelt. Ihr Zuhause ist ihr weißer Van. Wir begeleiten sie durch Nevada, Kalifornien, South Dakota, Nebraska und Arizona. Dabei sehen wir zu wie sie das verglichen zu normalen Umständen lukrativere Saisonarbeiterleben über die Weihnachtsfeiertage nutzt um bei Amazon Pakete zu packen, aber auch wie sie einsam Silvester verbringt und versucht die extrem kalten Nächte im Van durchzustehen. Immer wieder sehen wir wie Fern sich von den Freunden verabschiedet, die sie während der Saisonarbeit gewonnen hat, aber wir sehen auch wie sie manche von ihnen einige Zeit später wiedertrifft. Das illustriert gut, dass Nomadland das Nomadendasein Ferns und ihrer Freunde weder beschönigt, noch als „the way to go“ darstellt, noch verteufelt. Viel mehr ergründet der Film warum für diese spezifischen Personen und Schicksale das Nomadland ein Ort ist an dem sie zu sich zurückfinden und heilen können. Ein Ort, den die meisten von uns nie betreten, weil wir zu beschäftigt mit einem Alltag sind, der noch für uns funktioniert.


„NOMADLAND | Official Trailer | Searchlight Pictures“, via SearchlightPictures (Youtube)

Fern und die anderen „Nomaden“, denen sie begegnet geben früher oder später preis, warum sie sich für dieses Leben entschieden. Die enttäuschende wirtschaftliche Situation und Aussicht auf kaum finanzielle Kompensation im Alter lässt manche die Freiheit und Unabhängigkeit des Nomadenlebens suchen. Andere verarbeiten ihre Verluste – die geliebter Menschen oder den bevorstehenden Verlust ihres eigenen Lebens durch Krankheit. Fern sind gleich zwei wichtige Aspekte ihres Lebens abhanden gekommen – das Gefühl von Zweck oder Berufung und die Liebes ihres Lebens. Chloé Zhao ist es gelungen ein intimes Portrait dieser Personen zu zeichnen, indem sie die Nomaden stets eins mit ihrer Umwelt zeigt.

In Weitwinkel-Shots und natürlichem Licht wirkt das Leben auf Tour und in der Natur glaubwürdig, realistisch und fängt die Landschaft Nordamerikas genauso ein wie sie ist: weitläufig, abwechslungsreich und man meint dort Magie zu spüren, die noch nicht durch Beton begraben ist. Fern, Swankie, Linda May und David (David Strathairn) agieren darin ebenso natürlich und ungekünstelt. Regiestil passt sich Botschaft an, so wie es sein soll. Die Nebenrolle wurden mit echten „Nomaden“ besetzt (Quelle hitc.com) und auch Bob Wells tritt in Erscheinung, der auf Youtube über das minimalistische Leben spricht. Es geht nicht darum irgendwen zu bekehren, sondern die Gründe für unterschiedliche Lebensmodelle aufzuzeigen und dass die sich nicht einfach so fügen, sondern existieren. Meistens eine Entscheidung und eine Lebensgeschichte voraus ging und nicht „Quatsch“ ist, weil wir sie nicht verstehen oder den Wunsch nicht teilen können.

Nomadland, USA, 2020, Chloé Zhao, 108 min


„The Freedom of Nomadland’s Unique Direction – A Breakdown“, via Thomas Flight (Youtube)

Header image uses a Photo by Kilyan Sockalingum on Unsplash

Jeden Monat stelle ich einen Film vor, den ich für einen fantastischen Film halte – losgelöst von Mainstream, Genre, Entstehungsjahr oder -land. Einfach nur: fantastisch. 😆

5 Antworten

  1. […] aussieht. Mein erster Besuch nach der langen pandemie-bedingten Durststrecke war aber eigentlich Nomadland, der sich aber gerade dann als „Fantastischer Film“ aufdrängte. Was aber immer noch […]

  2. Avatar von donpozuelo
    donpozuelo

    Mich hat der Film nicht so einfangen können. Ich fand ihn gut, aber mir war er tatsächlich in Teilen einfach zu dokumentarisch. Das Thema an sich fängt Zhao aber echt wundervoll ein… mir war gar nicht bewusst, dass es in den USA diese Nomaden so wirklich gibt.

    So als Bester Film des Jahres hätte ich ihn jetzt aber nicht angesehen. Da muss ich sagen, hat mir vor kurzem „Minari“ echt sehr viel besser gefallen.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Minari fand ich auch echt toll. Für den hatte ich mehr Oscars erwartet.

      1. Avatar von donpozuelo
        donpozuelo

        Oh ja, ich definitiv auch.

  3. […] seit langem mal wieder dieses „Heute Kino!“-Gefühl. Für mich war der Kino-Öffner Nomadland. Und das war ein […]

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