Am 21. Juni irrt eine Frau verzweifelt durch Paris. Der Tag ist sowieso schon der längste Tag des Jahres, Sommersonnenwende. Aber für Cleo (Corinne Marchand) ist jede einzelne Minute eine Geduldsprobe. Sie befürchtet Magenkrebs zu haben und wartet auf den Befund ihres Arztes. Der Film beginnt damit, dass sie sich Tarotkarten legen lässt und vom schlimmsten ausgeht. Mal nervös, mal verletzlich zieht sie durch die Straßen von Paris, trifft sich mit ihrer Angestellten Angèle (Dominique Davray) und ihren Kollegen, die ihre Musik komponieren um ein paar Stücke einzuüben.
„Cleo from 5 to 7 / Cléo de 5 à 7 (1962) – Trailer“, via Unifrance (Youtube)
Cleo ist Chansonette, aber ein trauriges Lied macht sie noch nervöser und verzweifelter und sie flieht wieder auf die Straßen von Paris auf der Suche nach Ablenkung. Der Film ist quasi in Echtzeit gedreht. Die einzelnen Episoden sind durchnummeriert und mit Zeitangabe versehen. Die Kamera folgt Cleos Irrfahrt, ihrem Weglaufen, Routen und Blicken. Mal sehen wir in Ich-Perspektive wie ihr Blick einer von bröckeligem Mörtel geäderten Wand beim heruntergehen einer Treppe folgt, mal sehen wir wie ein stiller Beobachter Cleo durch die Straßen laufen und mal als unsichtbare Kamera frontal wie sie mit ihrer Freundin in einer rostigen Karre durch Paris fährt, die so alt ist, dass sie keinen Blinker hat und die Frauen die Hände als Zeichen zum Abbiegen raushalten müssen. Wir sind sehr nah dabei an Cleos Angst, Eskapismus und dem Lebensgefühl in Paris. Einem bunten Treiben gebannt auf Schwarzweißfilm und einer Geschäftigkeit, von der sich Cleo durch das Erwarten einer schlechten Nachricht mal abnabelt, mal händeringend darin nach Ablenkung sucht. In der Art und Weise wie wir mit Cleo durch Paris düsen, erkennt man soviel von der französischen Nouvelle Vague. Übrigens wird für einen kleinen Moment ein Kurzfilm gezeigt, den Cleo und eine Freundin im Kino schauen. Die Darsteller des Films sind verschiedene andere Größen der Nouvelle Vague wie die Schauspielerin Anna Karina und Regisseur Jean-Luc Godard.
Varda ist eine der Vorreiterinnen der französischen „neuen Welle“ und eine große Künstlerin gemessen an der Art und Weise wie sie uns Cleo begleiten lässt. Wie wir trotz des Thema nie an einem dunklen Ort sind. Der Film ist rasant, es wird nie langweilig – auch wenn niemand das Geschehen kommentiert, wissen wir, was Cleo denkt, wenn sie abstruse Begegnungen macht oder Vorzeichen begegnet. Sie vertraut sich verzweifelt den Menschen in ihrem Umfeld an. Cleo ist etwas neurotisch und extrovertiert. Will geliebt werden, will, dass sich die anderen Sorgen um sie machen. Agnès Vardas Film hat eine Protagonistin, die anfangs etwas naiv ist, eine Lebefrau, für die alles Schöne ein Geschäft und der Inhalt ihres Lebens ist. Sie sagt „Solange ich schön bin, bin ich tausend mal mehr lebendig als alle anderen“ und beruhigt sich beim Anblick ihres makellosen, ebenmäßigen Gesichts im Spiegel.
Im Gegensatz dazu lässt uns Varda auch die Gedanken anderer Menschen hören, die der Meinung sind, dass Cleo so schön sei, dass sie doch keine Sorgen haben kann. Da treffen sich wohl mehrere Trugschlüsse. Letzten Endes kann jeder nachfühlen wie es Cleo geht. Das Leben war eben noch perfekt, ohne dass man es als solches anerkannte, dann sieht man sich plötzlich mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Wer kann es ihr verübeln? Für Cleo wird der Gang durch Paris ein tröstliches Erlebnis und zu einem der Selbsterkenntnis. Letzten Endes stellt sie sich das erste Mal selbst in Frage. Reißt sich die Perrücke vom Kopf und die übertriebenen Hüte, schaut sich ohne den Ganzen Tand an. Kaum zu glauben, dass Regisseurin Agnès Varda selbst vor wenigen Jahren an Krebs verstarb. Unvergessen bleibt die Odyssee Cleos, die sie an ihrer Angst wachsen lässt und die Bilder von Paris, die Zuschauer*innen in die 60er Jahre versetzen, schnelllebig, sommerlich, lebendig – ein Film wie Fernweh, an dem auch wir ein wenig wachsen. Mit einem Ende, das uns eine ganz klar an sich selbst gewachsene Cleo zeigt.
Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7 (OT: Cléo de 5 à 7), Frankreich/Italien, 1962, Agnès Varda, 90 min
„Video Essay: Death and the Maiden („Cleo from 5 to 7″, Agnès Varda)“, via Idàn Sagiv Richter (Youtube) – analysiert den ganzen Film, Spoiler sind zu erwarten
Header image uses a Photo by Kilyan Sockalingum on Unsplash
Jeden Monat stelle ich einen Film vor, den ich für einen fantastischen Film halte – losgelöst von Mainstream, Genre, Entstehungsjahr oder -land. Einfach nur: fantastisch. 😆
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