Unsere Home-Office-Tage sind entweder gezählt oder es hat bedingt durch die Pandemie doch ein Umdenken zu flexiblerem Arbeiten stattgefunden. In welche Richtung es geht, werden wohl die nächsten Monate zeigen. Zumindest in den Berufen, in denen das überhaupt eine Option ist. Calvin Kasulke hat einen Roman geschrieben, der damit genau zur rechten Zeit kommt. In Several People Are Typing dürfen Leser:innen dem Slack-Chat einer Online-Marketing-Agentur beiwohnen. Und was wir dort schon auf der ersten Seite lesen ist entweder ein sehr witziger Gag oder einfach abgefahren. Geralt, einer der Angestellten, wurde offenbar in Slack gezogen. Was mit seinem Körper ist!? Wer weiß. Anfangs glaubt ihm keiner. Stattdessen sind sie glücklich über seine tatkräftige Unterstützung und plötzlich boomende Produktivität. Dann aber häufen sich die seltsamen Vorkommnisse in der Firma und Geralt selber fürchtet um sein Selbst.
Help Center me!
Kann man Several People Are Typing auch lesen, wenn man kein Slack benutzt? Zwar kenne ich Slack in- und auswendig, weil wir das auf Arbeit benutzen, aber ja, ich denke schon, dass man das Buch trotzdem lesen kann. Erstens werden relativ wenige der Slack-Funktionalitäten benutzt, zweitens haben sich die Messaging-Dienste und Chattools inzwischen so stark gegenseitig befruchtet (=Funktionen abgeschaut), dass es für alle Digitalarbeiter:innen common sense ist, was hier passiert. Personen referenzieren sich gegenseitig mit @, man kann Emoticons benutzen, indem man anfängt : zu tippen. Die Text-Entsprechung eines Daumen-hoch-Emoticon ist beispielsweise :thumbsup: . Wenn eine Person tippt, wird das übertragen als „Stefanie tippt …“, was auch den Titel erklärt. Nebenbei werden auch typische Mythen des digitalen Arbeitens aufgegriffen, die nie wegzudenken sind. Beispielsweise die nie alternde Frage „Denkst du der Chef kann unsere Privatnachrichten lesen?
Es gibt unterschiedliche Channel oder Privatnachrichten zwischen mehreren Personen, die quasi Kapitelüberschriften sind und damit intuitiv verständlich sind, auch wenn man Slack nicht kennt. Andere Funktionalitäten von Slack wie Polls, Actions, Anrufe, Huddles gibt es nicht. Das braucht es auch nicht. Genauso wie es keine immens komplizierte Erklärung dafür gibt wie Geralt denn nun in Slack gelandet ist – dankbarerweise. Hätte sich Kasulke in eine überbordende Erklärung verstrickt, hätte das der Sache sicherlich nicht geholfen. 🙂 Lesende werden die Erklärung wahrscheinlich entweder für zu einfach oder ganz witzig halten.
Geralt selber gerät verständlicherweise in Panik, während alle anderen das für einen Scherz halten oder eine lahme Ausrede um länger aus dem Home Office heraus arbeiten zu dürfen. Da seine Produktivität durch die Decke geht, lassen sie ihn aber machen. Willkommen in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts! Geralt unternimmt währenddessen einige Versuche sich aus Slack wieder in die analoge Welt zu katapultieren und diskutiert mit Slackbot, der automatischen Hilfsfunktion von Slack. Aber wie ein Bot eben so ist, gibt der stark vordefinierte Antworten von sich. Oder versteht eben das Problem nicht. Bis sich die Antworten von Slackbot plötzlich doch ändern.
Aber auch abseits dessen ist der Arbeitsplatz von Geralt bunt besiedelt. Kasulke hat Geralts Kolleg:innen sehr individuelle Manieriesmen gegeben. Manche benutzen Interpunktion inflationär!!! 🙂 Andere verständigen sich quasi nur durch Emoticons, die selbst ich als Slack-Power-Userin dann nicht mehr entziffern kann. Man versteht es aber „zwischen den Zeilen“. Auch Geralts Beziehung zu einigen der Personen verändert sich. Beziehungen werden per Chat geknüpft oder wir werden Zeuge von Spekulationen im Gruppenchat, deren Geheimnis dann in einem anderen Privatchat gelüftet wird. Beispielsweise warum Dougs Tisch plötzlich eine Macke hat. Es ist stellenweise wie ein Auszug aus einem typischen, teils-digitalen Arbeitsleben; und einer Telenovela. ^^ Büroleben in a nutshell. Immerhin bekommt Geralt tatsächlich Hilfe durch seinen Kollegen Pradeep, der feststellt: Geralt ist tatsächlich im Slack gefangen und sein Körper vegetiert in dessen Wohnung vor sich hin.
I’m just a bot, though!
Anfangs erschien mir die Form von Several People Are Typing zu einfach. Man hätte soviel machen können! Da Emoticons in Slack ich möchte sagen ein eigenes Kommunikationsmittel sind, erschien es mir fast wie ein Affront und großes Versäumnis, dass die hier in ihrer Textform abgebildet sind (also :thumbsup: statt Daumen-Bildchen). Als Slack in der Firma, für die ich arbeite, ausgerollt wurde, bestand der Chat quasi erstmal nur aus Emojis. 😉 Dasslebe gilt für Situationen, in denen die Angestellten der Agentur ihre Baby- oder Hundefotos posten. Als ich dann aber eine Weile in dem Buch drin war, hat es mich immer weniger gestört. Calvin Kasulke findet viele Möglichkeiten uns all das nie vermissen zu lassen und damit wahrscheinlich auch zeitloser zu bleiben. Die Charaktere haben genug Eigenarten, um sie auseinanderhalten zu können. Der Chef beispielsweise hat einen Ein-Personen-Chat, also quasi Chat mit sich selber, den er als Notizheft missbraucht. Manchmal auch eine Art Tagebuch, wenn er nicht weiß, bei wem er sich über seine Angestellten aufregen soll. ^^ Eine Emoji Bilderflut hätte letzten Endes wohl vom Text und der Handlung an sich abgelenkt.
Tatsächlich ist Kasulkes Entscheidung sogar sehr smart! Er schreibt ein Buch ohne die Mühen zuviel Hintergrund und „Füllmaterial“ zwischen Schlüsselszenen ausdenken zu müssen. Etwas was ich selber beim Schreiben sehr ermüdend finde. Andere Aspekte des Schreibens bleiben aber. Wie beispielsweise: show, don’t tell. Manchmal brauch es erschreckend wenig um im Chat zu verstehen, wie es dem anderen plötzlich geht. Beispielsweise wenn sich jemand in den do not disturb mode stellt, nachdem man die Person reichlich genervt hat oder eine schlechte Nachricht überbringen musste.
„look there was a while there when I thought, you know what, I’ll stay
just stay in here, indefinitely
why fight it, you know, it’s easier here, there’s so much less to deal with
less of everything, less of me“(Geralt) p.216
why would anyone want to remember last week’s internet
Was will der Autor uns nun aber damit sagen? Das Digitale ist böse? Viel mehr adressiert Kasulke unseren Umgang mit dem Digitalen. Insbesondere angesichts dessen, was wir dem Digitalen inflationär anvertrauen, aber auch bereit sind zu vergessen oder zu übersehen wegen des flüchtigen Charakters. Ich fand es beim Lesen faszinierend wie sich die Beziehungen der Kolleg:innen der Firma entwickeln. Liebe, Unbehagen, belanglose Kaffeeküchenunterhaltungen, alles dabei. Aber auch wie leichtfertig sie etwas übersehen. Es gibt eine Kollegin, die offenbar psychische Probleme hat und deren Andeutungen immer bedenklicher werden, aber auf die die wenigstens eingehen. Kasulke nutzt das als großes plot device, aber ein sehr effektives wie ich finde.
Es ist im Digitalen sehr leicht sich jetzt nicht mit etwas kompliziertem beschäftigen zu müssen, wenn man gerade keine Lust hat. Denn da sitzt kein Mensch vor uns, wir sehen den Schmerz nicht und können uns der Situation einfach entziehen. „Oh sorry, habe ich überlesen!“ Fühlten sich manche eurer Freundschaften während der Pandemie auch an als ob ihr jemandem mit einem Stock piekst, um eine Reaktion zu bekommen? Und habt ihr euch manchmal auch so gefühlt, als ob ihr gepiekst werden müsst? Ich saß an beiden Enden. Manchmal sogar gleichzeitig! Und ich könnte nicht mal erklären warum.
Deswegen ist es eine weitere großartige und erschreckende Metapher was Geralt durchlebt. Er hat wortwörtlich Angst, dass er vergessen wird und für immer im Slack bleiben muss. Was würde wohl passieren, wenn es ein Slack-Update gibt? Wenn die Firma aufhören will Slack zu benutzen? Und dann erinnert mich das schmerzlich an nur digital geführte Freundschaften oder Reste digitalen Lebens. Ich habe vor vielen Jahren den Kontakt zu einem Freund verloren, mit dem ich wenn wir uns nicht sahen, lange Unterhaltungen in einem sozialen Netz führte. Die Freundschaft veränderte sich, wir entzweiten uns. Wie sich die Dinge verändern. Früher habe ich mich über jede Nachricht in der Inbox so gefreut, dann einer schwindenden Freundschaft hinterhergetrauert und nun sitze ich ratlos da. Inzwischen weiß ich weder was diese Person wohl so macht und wie es ihm geht und die Plattform gibt es meines Wissens gar nicht mehr. Wieviel Leben, wenn nicht sogar eine ganze Beziehung, ist dort im Digitalen verschwunden? Oder viel mehr: das Digitale war Zeuge und Handlungsort. And now: no more.
Das ist auch eine Frage, die sich Geralt irgendwann stellt und damit wirft Kasulkes Roman für alle die „irgendwie am Digitalen hängen“ sehr viele spannende Fragen auf. Durch die Darstellung in Chatform ist Several People Are Typing sehr einfach zu konsumieren und schnell zu lesen. Ich würde schätzen, dass ich die rund 240 Seiten in um die 2,5-3h gelesen habe. Und ich fühlte mich sehr gut unterhalten mit der Option auf „was zum nachdenken“. Nebenbei erwähnt ist das Buch divers und LGBTQ+ friendly. Ich musste sehr lachen über das Miteinander und die Chats der Charaktere – und auch über den Vergleich, dass eine Firma und zugehöriger Arbeitsplatz ja auch sowas wie ein Kult ist. Wenn man die Insider-Witze sieht, glaubt man das gern. Letzten Endes liegt Kasulkes Antwort für Beziehungen übrigens in der analogen Welt, klammert das digitale aber nicht komplett aus.
„and we keep forgetting to preserve things because it’s just there every day
and why would anyone want to remember last week’s internet — and we
don’t, but we want to remember the fifteen-years-ago internet and that
was last week’s internet, once“(Geralt) p.210
Fazit
Sehr kurzweiliges und angenehmes Buch für alle, die sich auch einigermaßen viel im Digitalen tummeln
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-1-529-35834-6, Hodder
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
Schreibe einen Kommentar