Seine Geschichte hat Amin bisher noch niemandem erzählt. Aber es fühlt sich nach dem richtigen Zeitpunkt an. Und sein Freund Tobias gibt ihm Zeit, hört zu, stellt die richtigen Fragen. Wenn Amin seine Geschichte jetzt nicht erzählt, fürchte er für immer zu einer anderen Person zu werden. Zu der Person, die er sich bei Betreten der dänischen Landesgrenze ausdenken musste, um der Hölle zu entkommen, in der er so lange existiert hat. Aber existieren ist nicht dasselbe wie leben. Wir als Zuschauende erleben im Folgenden wie Amir in Rückblicken seine Geschichte erzählt. Vom Aufwachsen in Afghanistan, Entdecken seiner Homosexualität, wie man seinen Vater verschwinden ließ, wie sein Bruder immer verzweifelt und unsicherer versucht dem Wehrdienst und sicheren Tod zu entgehen und letzten Endes der Flucht seiner Familie. Es beginnt eine brutale Odyssee, die entsprechend sensibel erzählt wird. Vielen Zuschauenden macht Flee das erste Mal bewusst, was es bedeutet zu fliehen, fliehen zu müssen. LKWs und Container, in denen die Luft ausbleibt. Viel zu viele Menschen auf einem Schiff. Platzende Träume, Aussichten, Korruption, lebensbedrohliche Situationen und mitten darin Menschen, die versuchen irgendwie durchzukommen.
Flee basiert auf wahren Begebenheiten. „Tobias“ ist hier ein Alias für den Regisseur Jonas Poher Rasmussen, der versprechen musste, die Identität seines Freundes zu wahren. Anzunehmen, dass das der Hauptgrund ist, warum Flee teil-animiert ist. So sorgt die Animation aber auch dafür, dass man Amins Geschichte umso besser nachvollziehen kann. V.A. weil in den Animationen viel von Amins Gefühlswelt mitschwingt. Einer der Horrormomente des Films ist, wenn sich Amin die Wassermassen vorstellt, die seine Familie verschlingen, wenn das marode Boot kentert, mit dem sie flüchten. Nicht alle können schwimmen. Wen rettet er zuerst? Wen kann er überhaupt retten? Animation scheint das Versprechen zu haben, dass man die Inhalte leichter konsumieren kann, weil oftmals damit das Label des Kinderfilms verbunden wird. Wir wissen, dass das nicht so ist. Aber der Aspekt, dass die Realität hier analog oder digital gezeichnet wurde und damit eine Abstraktion einer Realität ist, hält die Illusion besser aufrecht als es der Live Action Film tut. Obwohl auch der Fotografie und damit ein Abbild ist.
„FLEE – Official Trailer“, NEON, Youtube
Trotzdem ist Flee auch eine Dokumentation, denn sie gibt die wahren Geschehnisse nachweisbar wider. Die animierten Sequenzen werden immer mal wieder unterbrochen von Originalaufnahmen der Zeit. Einer McDonalds-Eröffnung in Russland, wo Amin und seine Familie Jahre zubringt während ihrer Odyssee. Historische Aufnahmen der Konflikte in Afghanistan. Zeitgeist und manchmal auch Comic Relief wird transportiert durch die zeitgenössische Musik, die Amin auf seinem Walkman hört. Roxettes Joyride hat wohl nie so viele, so widersprüchliche Gefühle geweckt wie hier. Es gibt so viele markante, sensible Szenen, die lange nachhallen. Beispielsweise wenn Amin die Lichter der Stadt an sich vorüberziehen sieht, während er einen weiteren Fluchtversuch unternimmt und sich fragt – wo werde ich landen? Werde ich zurückkommen? Werde ich meine Familie wiedersehen? Werde ich überleben? Flee ist ein Augenöffner, wenn man es zulässt. Bis zum 28.07. kann Flee in der Arte Mediathek gestreamt werden. Außerdem ist der Film auf Französisch auf Youtube streambar, ebenfalls bei Arte.
Flee, Dänemark/Frankreich/Schweden/Norwegen, 2021, Jonas Poher Rasmussen, 90 min
Header image uses a Photo by Kilyan Sockalingum on Unsplash
Jeden Monat stelle ich einen Film vor, den ich für einen fantastischen Film halte – losgelöst von Mainstream, Genre, Entstehungsjahr oder -land. Einfach nur: fantastisch. 😆
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