Serien-Besprechung: „1899“

Die Angabe „Season 1“ kann ich mir sparen, es wird leider keine zweite geben. An dem Tag als ich anfing die Serie zu schauen, wurde auch verkündet, dass „1899“ nicht fortgesetzt wird, obwohl bereits ein Skript für zwei weitere Staffeln vorlag und die Serie große Zuschauerzahlen zu verzeichnen hatte. Aber offenbar nicht genug. So bleibt der neuste Streich der Dark-Macher Jantje Friese und Baran bo Odar unbeendet und wird erschreckend früh abgesetzt. Schließlich wurde die Serie abgesetzt als sie kaum zwei Monate zum Streamen verfügbar war. Da kann man schon mal geschockt sein als. Sagt das nun etwas über die Qualität aus? Und kann man die Serie nun schauen und findet darin einen annehmbaren Abschluss? Die Besprechung ist spoilerfrei mit einem umgehbaren Teil zur Diskussion des Endes.

Treffen sich ein paar Leute auf einem Schiff…

Im Jahr 1899 begegnen sich auf einem Transatlantik-Dampfschiff verschiedene Menschen mit sehr unterschiedlicher Motivation um nach Amerika überzusetzen, aber einer gemeinsamen Hoffnung: etwas hinter sich zu lassen. Verbrechen, Traumata, Armut, Unverstanden zu sein. Die Kerberos unter Kapitän Eyk Larsen (Andreas Pietschmann) hat somit eine illustre, multinationale und multilinguale Crew und Gruppe an Passagieren, irgendwo zwischen erste, zweite und dritte Klasse aufgesplittet. Unter anderem ist an Bord die Medizinerin Maura Franklin (Emily Beecham); das polnische Crew-Mitglied Olek (Maciej Musiał); eine dänische, streng gläubige Familie um die schwangere Tove (Clara Rosager), ihren Bruder Krester (Lucas Lynggaard Tønnesen) und die schon eher fanatische Mutter Iben (Maria Erwolter); eine Geisha (Isabella Wei) und die „Brüder“ Ramiro (José Pimentão) und Ángel (Miguel Bernardeau) aus Spanien sowie die frisch vermählten Clémence (Mathilde Ollivier) und Lucien (Jonas Bloquet). Und – einen blinden Passagier (Yann Gael).

Im Frühstückssaal werden zwischen den Tischen neugierige Blicke ausgetauscht, es herrscht respektvolle Distanz. Bis eine Nachricht das Gefüge empfindlich durcheinander würfelt. Man hätte eine Nachricht erhalten, die eventuell auf die Koordinaten des kürzlich verschollenen Schwesternschiffs Prometheus deutet. Man wolle nun das Schiff suchen und eventuell überlebende bergen. Manche Personen an Bord haben aber keine Zeit zu verlieren um nach Amerika zu kommen, andere haben Interesse daran eben genau die Prometheus zu finden. Bis sich auch die Ungereimtheiten um das verschollene Schiff häufen. Und dann finden sie dort als einziges Zeichen von Leben – einen Jungen.


1899 | Offizieller Trailer | Netflix, Netflix Deutschland, Österreich und Schweiz, Youtube

„What is lost will be found“

Als 1899 angekündigt wurde und das erste Bild der Crew und Köpfe hinter der Geschichte veröffentlicht wurde, machte das schon sehr neugierig. Ein komplett anderes Setting, sogar ein historisches. Aber irgendwie erwartet man sich von Jantje Friese und Baran bo Odar doch schon etwas, das uns ähnlich fordert und ähnlich mysteriös wird wie Dark, oder? Mit dem Hauch Mut was ganz anderes zu machen. Der Trailer zeigte dann leider schon recht deutlich: es ist eben nicht einfach etwas ganz anderes zu machen. Zwar ließ sich daraus noch nicht ablesen, was sie in die Geschichte der Passagiere im Jahr 1899 mischen, aber dass sie einen Hauch Science-Fiction eintreuen war schon relativ klar und brach relativ früh mit der Neugier auf „das neue Ding“ der Dark-Schöpfer:innen. Nicht, dass mich das abhalten würde. 🙂

Was sehr gut funktioniert ist der Rätsel-Faktor und die Beziehungsgeflechte. Es ist ziemlich schnell klar, dass Ramiro und Ángel keine Brüder sind. Ebenso schnell ist klar, dass die Geisha keine Geisha ist, zumindest nicht aus Japan übersetzt. Das alles zu ergründen und zu erfahren hält einen in einem zu gemächlichen Anfang bei Laune. Anfangs ist das mysteriöse, die WTF-Momente und das „was passiert hier?“ unscharf genug umrissen, dass man noch nicht weiß, was hier gespielt wird. Ist es so ein Timey-wimey-Ding wie bei Dark? Oder eine Simulation? Vielleicht ein medizinisches-psychologisches Experiment, medikamenteninduziert? Auf clevere Weise werden zumindest bis zu einem bestimmten Zeitpunkt für verschiedene denkbare Szenarien Hinweise gestreut und man bekommt trotz der Behäbigkeit mit der sich das alles entfaltet schon Lust die eigene Theorie zu bilden, herauszufordern, zu entdecken, was da noch kommt. Viel besser funktionieren plötzlich die Beziehungen, wenn das Rätsel weniger rätselhaft wird, was meine ich schon Ende der zweiten Folge passiert.

„May your coffee kick in before reality does“

Man entwickelt unweigerlich Empathie für die Charaktere und ihre Geschichten, nachdem sie ihr Innerstes offen legen. Dann fühlt sich die Handlung auch nicht nur ver-rätselt an, sondern auch inhaltlich dichter und emotionaler unterfüttert. Die wohl größte Stärke ist wie 1899 nach und nach zeigt wie sich Allianzen bilden und Menschen verstehen, die nicht einmal dieselbe Sprache sprechen. Was das betrifft ist 1899 eine Serie für unsere Zeit, in der doch Meinungen so laut und so zerrissen wirken. Ein multilinguales Projekt, das auf einnehmende Weise zeigt: wir mögen von unterschiedliche Orten kommen, minimal anders aussehen, andere Sprachen sprechen, aber in dem was uns bewegt sind wir gleich und wir verstehen uns auch ohne Worte. Als ob das nicht schon stark genug wäre, stellt sich bald ein bitterer Game of Thrones-Effekt ein, wenn inzwischen lieb gewonnene Charaktere einer nach dem anderen das Zeitliche segnen durch eine unscharf umrissene Bedrohung.

Zudem vereint die Serie mehrere Genres und bedient sie alle gut. Durch das Beziehungsgeflecht sehen wir ein Drama vor uns, aber auch ansatzweise historische Inhalte. Was einige der Charaktere erleben ist Horror. Und vielleicht auch Science-Fiction oder Fantasy. Es fließt sehr natürlich ineinander. Die Weiten des Ozeans, die Säle an Bord, die historischen Kulissen liefern fantastische Bilder mit fantastischer Ausstattung und Vertonung. Das unheilschwangere Dröhnen im Score genauso wie die erneut epischen Kompositionen unterstreichen die Atmosphäre erstklassig. Es ist einer der seltenen Fälle, dass ich sogar die Classic-Rock-Nummern des Scores gut finde, weil sie thematisch hervorragend passen. Ein Symbol, das in Staffel 1 leider nicht vollständig erklärt wird, findet sich optisch überall wieder: das auf dem Kopf stehende, durchgestrichene Dreieck. Genau hinschauen lohnt sich. Man findet es in Teppichen, in Wandbelag, in Klamotten, Schmuck und Briefen.

Was den Rätseleffekt und die Bedrohung betrifft, offenbart 1899 aber auch Schwächen. Zuviele Versatzstücke aus anderen Medien und dieses Mal deutlich schwächere Metaphern verwaschen, was eigentlich eine spannende Idee geworden wäre. Ohne zu spoilern kann ich diese Versatzstücke nicht nennen, aber wer die Serie schaut, wird bald an den einen oder anderen Film erinnert und ein „Kommt mir bekannt vor“-Gefühl erleben. Selbst wenn es auch nur Ähnlichkeiten zu Dark selbst sind. Ein bestimmtes Symbol, rätselhafte Apparate, schweigsame Charaktere, aus dem off lenkende Eminenzen, wiederkehrende Zitate. Das legitimiert aber auch keine Plagiatsgerüchte, wie sie schon mal aufkommen. („1899’s Black Silence Plagiarism Controversy Explained“, ScreenRant 23.11.22) Jantje Friese und Baran bo Odar haben 1899 schon zu ihrem eigenen Ding mit ihrer eigenen Handschrift gemacht. Sicherlich hat 1899 Schwächen. Sicherlich waren die Vorschusslorbeeren von Dark so groß, dass man sich möglicherweise mehr erhofft hat. Bei dem Ende muss man sich aber fragen: hätte es Netflix weh getan eine zweite Staffel zu bestellen unter der Voraussetzung, dass diese einen würdigen Abschluss präsentiert statt eines Cliffhangers? Denn es ist so, dass die erste Staffel vieles auflöst, aber eben auch vieles nicht. Und gerade bei dem Ende wünscht man sich, dass es weiter gegangen wäre. (7/10)

Sternchen-7

Das nachfolgende Video enthält Spoiler


Der 1899-Cast reagiert … | Netflix, Netflix Deutschland, Österreich und Schweiz, Youtube

Gedanken zum Staffelfinale – Spoiler!

Ohne zu spoilern kann man ja nun schwer auf die Twists und Turns eingehen. Einer, der mir einigermaßen Kopfzerbrechen bereitet hat, war die Simulation an sich. Und leider sehe ich es auch als Schwäche der Serie, dass sie ihre IT-Bilder umsetzt wie sie das eben tut. Vielleicht bin ich durch meinen Beruf vorbelastet, aber ich suche zuviel „Sinn“ in einzelnen Elementen und erkenne keinen. Ist der Käfer nun ein versinnbildlichter Bug oder Agentensystem? Die schwarzen Balken ein Virus? Ok, damit kann ich noch umgehen. Aber wie sinnvoll ist die schwarze Pyramide (die große wie die kleine), der ominöse Schlüssel und die Türen zwischen den Simulationen? Als Metaphern macht das optisch sicherlich eine Menge her. Pyramide = Grab, Schlüssel erklärt sich, die Türen sind wortwörtliche Backdoors. Aber es macht keinen Sinn die Simulationen der anderen Personen durch Räume und schon gar nicht mit großen, schweren Türen zu trennen, wenn all das doch eh virtuell ist. Das Herz der Simulation erinnert optisch an einen Quantencomputer. Aneurin Barnard als Daniel steckt daran wild herum um das System zu überlisten. Uff. Da muss man schon über einiges hinwegsehen. Die Anleihen erinnern etwas zu stark an Matrix, Interstellar, Assassins Creed und andere Medien. Aber letzten Endes sehe ich das sogar weniger kritisch als die schwammigen und missinterpretierten Informatik-Metaphern.

Vielleicht ist man sich der etwas misstönenden Informatikanleihen nicht bewusst, wohl aber des Konzepts im Kern. So konnte die Serie bis zum Ende der ersten Staffel viele meiner aufgestauten Fragen beantworten. Beispielsweise warum Elliot (Fflyn Edwards) scheinbar zwischen Realität und Sim wechseln kann. Weil was ich lange für die Realität hielt (die mit der Heilanstalt und dem Büro seines Opas) keine ist und er vermutlich tot oder komatös ist. Auch die Frage, wo sich die Körper befinden, wurde geklärt. Zumindest erstmal, denn in dem wie ich finde sehr gelungenen Analysevideo von Think Story gab es ein paar spannende Ideen. Dass wir die nun nicht sehen werden, schmerzt mich. Aber am meisten tut es weh, dass das Schicksal von all den Charakteren genauso offen bleibt wie die Fragen, die die letzte Episode streut. Ist das auch nur eine weitere Simulation oder sind sie wirklich auf einer Rettungsexpedition, die das Überleben der Menschheit sichern soll? Anzunehmen ist auch, dass falls noch mehr Personen aufwachen, sie einiges zu bereden haben, falls sie sich dann an die Simulation erinnern können. Ich hätte gern gesehen was das für eine Wirkung auf Iben, Tove, Krester, Angel und Ramiro hat. Auf Maura, Eyk, Olek, Ling Yi, ach … ich bedaure es dann doch sehr, dass es nicht weiter geht.

Header image uses a photo by Claire Fischer on Unsplash

Wer es übrigens nicht ab kann Untertitel zu lesen, (verpasst in diesem Fall was) kann auch auf deutsche Synchro umschalten und bekommt genau das. Wie steht ihr zu der Absetzung der Serie? Verdient wegen der kleineren Schwächen? Oder bedauert ihr es auch so stark? Ich tue das tatsächlich, obwohl ich auch hier und da etwas auszusetzen habe. Welche Fragen hättet ihr gern noch beantwortet? Was wolltet ihr gern noch sehen? Bitte versucht Spoiler zu vermeiden oder kennzeichnet diese.

7 Antworten

  1. Avatar von donpozuelo
    donpozuelo

    Ich fand das Konzept echt cool, aber ich muss gestehen so richtig gehooked hat es mich nicht.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ach so gar nicht? Naja, es drängt siche in wenig auf, dass es aus sehr bekannten und beliebten Motiven und Mustern zusammengestückelt ist. Die kann man auch schon mal über haben. Zumindest hat mich das ab und zu etwas abgeschreckt.

  2. Ich mochte die Serie sehr und bin echt traurig, dass es keine zweite Staffel gibt 🙁

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ich auch, Sabine, ich auch … 🙁

  3. […] mir gärt immer noch Unzufriedenheit darüber, dass man 1899 nicht mal eine abschließende zweite Staffel bewilligen konnte. Da schaue ich die nächste Serie, […]

  4. Da ich dann noch rechtzeitig von der Absetzung gehört habe, schaue ich mir nun die Serie doch nicht an. Vielleicht schade drum, weil ich „Dark“ durchaus mochte. Aber eine nicht zu Ende erzählte Geschichte muss ich mir nicht antun…

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ja, da hat sicherlich jeder andere Gründe. Ich war trotz Absetzung neugierig, weil ich wissen wollte … wissen musste … was daran so verkehrt sein soll. Offen gestanden denke ich auch immer noch, dass Netflix schlechteren Serien ein längeres Leben beschert hat. Es reicht wohl häufig, wenn es einfach nur nachgefragt wird.

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