Man kann kaum eine Besprechung von Aftersun lesen, ohne über den Begriff personal filmmaking zu stolpern. Wieviel von dem persönlichen man in die Analyse und die Rezeption stecken muss, überlasse ich anderen zu entscheiden. Aftersun beginnt sehr klar differenziert als Rückblick. Wir sehen ein Home-Video mit klassischer Home-Video shaky cam und entsprechender Auflösung. Dann stoppt das Video und gibt frei, dass wir gerade auf einen Fernsehbildschirm geschaut haben. Mehr noch, wir sehen, dass sich in dem Bildschirm eine Silhouette spiegelt. Ist es die des Mädchens, das wir gerade eben im Video noch als Elfjährige gesehen haben? Ist es. Im folgenden erleben wir rückblickend durch Home Videos und ihre Erinnerungen Sophies (Frankie Corio, erwachsen: Celia Rowlson-Hall) Urlaub mit ihrem Vater Calum (Paul Mescal).
Während des Urlaubs in der Türkei wird Calum durchaus mal für Sophies Bruder gehalten, weil er so jung aussieht. Obwohl zumindest anfangs wertungsfrei, spielt auch Geld eine Rolle. Das Hotel in dem sie unterkommen wird bebaut und All inclusive hat Callum nicht gebucht. Sind das bewusste Entscheidungen, bedauert oder nicht bedauert? Bedauerte wie kleine Momente und Reaktionen zeigen. Die steigern sich mehr und mehr um gegen Ende dann den Eindruck zu vermitteln, dass Calum es gern anders machen würde, aber es nicht kann. Dass sein Leben nicht so verlaufen ist wie er es geplant hätte oder zumindest jetzt gerade nicht so ist wie er es sich gewünscht hätte.
Währenddessen beobachtet Sophie andere Familien. Familien, in denen die Eltern noch zusammen sind. Geschwisterpaare, Freunde und Urlaubsliebschaften. Beziehungen, die alle innig sind wie es dir zu ihrem Vater ist. Ihre Blicke und Reaktionen offenbaren aber auch, das ihr etwas fehlt, aber nicht genau was. Liegt es an den Beziehungen oder materiellen Dingen, die ihr fehlen? Zwischendrin gibt es immer mal wieder ein STOP nach Schlüsselmomenten, in denen die erwachsene Sophie innehält. Wir sind inzwischen ausgebrochen aus ihren Home Videos und erleben die Situationen als wären wir dabei. Auch welche, in denen wir Callum sehen, wenn er alleine ist. Wenn er nicht versucht für Sophie der liebevolle Vater zu sein und sich nichts anmerken zu lassen. Und all das fühlt sich nach und nach an, als ob man auf eine Katastrophe zusteuert. Auf das Aftersun zu dem behüteten gegenseitigen Sonnenmilch auftragen.
AFTERSUN | Official Trailer | Now Streaming on MUBI, MUBI, Youtube
Auf der Mattscheibe passiert die Katastrophe aber nicht. Das Abhandensein des großen Knalls und des großen Dramas wirkt aber (wie so oft) viel besser als wenn man uns die Katastrophe gezeigt hätte. Auch wenn sicherlich manche Zuschauende das als Kunstgriff abtun und langweilig finden. Mit der Nase ins Trauma gedrückt zu werden ist aber kein Qualitätsmerkmal, sondern was der Film in uns auslöst in den Momenten der Erkenntnis oder dem Nachbeben, wenn die Credits laufen. Wir sehen dessen Auswirkung: eine große Verzweiflung, Trauer und viele offene Fragen. Das „Was wäre wenn“ und die Realität und ihre Gefühle, wenn man mit zwanzig Jahren Abstand auf ein Erlebnis blickt. Diese Nostalgie wird übrigens nicht durchweg mit der Urlaubs-Shaky-Cam gefilmt, sondern nur in einzelnen Szenen, die die Nostalgie verblichener, analoger Urlaubsfotos versprühen, den Geruch von Sonnenmilch und das Glühen von Sonnenbrand wieder in Erinnerung rufen.
Nachdem die Endcredits liefen, habe ich einige Male über Situationen mit meinen Eltern nachgedacht. Was habe ich ihnen an den Kopf geknallt, ohne zu hinterfragen wie sich das wohl für sie anfühlt? Wie mag es sich für die erwachsene Sophie anfühlen? Es braucht den großen Knall auf der Mattscheibe nicht, denn der Film weiß wie er diesen in unsere Köpfe und unsere Gefühlswelt verlagert und das ist eine große Leistung. Aftersun ist nicht nur der Fantastische-Film im März, weil Frauentag war, sondern auch weil ich es für den größten Oscar-Snub halte, dass Regisseurin Charlotte Wells nicht für die Beste Regiearbeit nominiert wurde. Der Film ist stand heute streambar auf Mubi.
Aftersun, USA/UK, 2022, Charlotte Wells, 101 min
Header image uses a Photo by Kilyan Sockalingum on Unsplash
Jeden Monat stelle ich einen Film vor, den ich für einen fantastischen Film halte – losgelöst von Mainstream, Genre, Entstehungsjahr oder -land. Einfach nur: fantastisch. 😆
Schreibe einen Kommentar