Es ist nicht das erste Mal, dass ich darüber schimpfe. Man könnte annehmen, dass Ryūsuke Hamaguchis Ruf nach dem Oscar-Gewinn und dem sensationellen Echo zu Drive My Car dafür sorgt, dass Kinos sich die Finger danach lecken seine Filme ins Programm aufzunehmen. Das war nicht so. „Wheel Of Fortune And Fantasy“ aka „Das Glücksrad“ suchte ich vergebens zum angedachten Kinostart im September 2022 in meiner Umgebung. Dafür bekam ich nun spät aber doch auf der Nippon Connection 2024 die Gelegenheit. So wichtig wie nie: die Besprechung ist spoilerfrei.

Ryūsuke Hamaguchi, der Zauberer, hat uns drei Geschichten mitgebracht, die alle eine Gemeinsamkeit haben: Zufall und Fantasie spielen jeweils eine große Rolle. Im ersten Kurzfilm reden zwei Freundinnen während einer Taxifahrt über Beziehungen. Die eine von ihnen (Hyunri) erlebt gerade den Magic Moment, die filmreife Romanze. Die andere (Kotone Furukawa) hört gebannt zu und nachdem sie ausgestiegen ist, tritt sie eine mittelschwere Beziehungskatastrophe los. Im zweiten Kurzfilm versucht eine Studentin (Katsuki Mori) ihren Professor (Kiyohiko Shibukawa) zu verführen. Es läuft nicht wie geplant. Im dritten und letzten Segment begegnen sich zwei Schulfreundinnen (Fusako Urabe, Aoba Kawai) nach vielen Jahren wieder und haben jede Menge zu sagen.

Das mag jetzt nach wenig Aufhängern klingen, aber jede der Geschichten hat ein Element des Zufalls, das für einen gewaltigen Twist sorgt. Obwohl alle drei Kurzfilme sehr dialoglastig und vom Typus her klar Slice of Life sind, machen die kuriosen Situationen sie spannend und abwechslungsreich. Rein auf dem Papier mag außer Dialog nicht viel passieren. Aber auf Beziehungsebene passiert alles. Und dann so, dass im Kinosaal mehrmals Geräusche wie die hier zu hören waren: „echt jetzt?“ – *gasp* – „Nicht doch!“

Neben dem Zufall spielt auch Fantasie eine überdeutliche Rolle. Mal dient sie dem Ausloten mehrerer Möglichkeiten. Im ersten Film spielt Kotone Furukawa in ihrer Rolle als Meiko mehrere Ausgänge für ihr Dilemma durch. Im zweiten Film ist Fantasie eher sinnlich auszulegen. Im Segment um die Schulfreundinnen sorgt Fantasie für ein ungewöhnliches Happy-End. Und so sind auch alle drei Geschichten tonal vollkommen anders, erzeugen eine eigene Atmosphäre, haben aber eines gemeinsam: sie unterhalten unfassbar gut.

Wofür man sich bei Ryūsuke Hamaguchi und etwaigen Casting Directors bedanken muss ist wie herrlich gegen den Strich einige Rollen besetzt wurden. Kiyohiko Shibukawa darf beispielsweise mal was anderes als den Bad Boy spielen. Was sich mir nicht ganz erschlossen hat ist aber die Gedankenwelt von Meiko aus dem ersten Film. Auch dass im dritten Segment anfangs erwähnt wird, dass ein Computervirus zum Ende des digitalen Zeitalters geführt hätte, erscheint mir wie ein plot device, das es gar nicht gebraucht hätte. Es soll ganz klar erklären, warum die Schulfreundinnen nicht in Kontakt blieben (kein Social Media mehr, keine schnellen und einfachen Kommunikationskanäle). Andererseits sind auch nicht alle social media power user!? Trotz der kleineren Meckerei ist Wheel Of Fortune And Fantasy für mich ein kleines, erzählerisches Meisterwerk, das Beziehungen als das zeigt was sie sind: dramatisch, überraschend, ein Hort von Glück wie Schmerz.

Wheel Of Fortune And Fantasy (OT: 偶然と想像 „Gūzen to sōzō“), Japan, 2021, Ryūsuke Hamaguchi, 121 min, (9/10)

„Wheel of …“ wurde dann mein Favorit aus dem diesjährigen Festival. Quasi gleichauf mit Yoko. Ist jetzt die Spannung raus? Wollt ihr die weiteren Beiträge jetzt alle nicht mehr lesen? Das müsst ihr euch wohl selber beantworten. 😅 Es kommen noch sechs Reviews für sechs Filme und ich habe es bei keinem bereit, dass ich ihn gesehen habe. Hattet ihr schon die Gelegenheit „Wheel of …“ zu schauen? Ich mag den deutschen Titel nicht so besonders, weil er es weniger auf den Punkt bringt als Originaltitel und der internationale. Daher beließ ich die Bezeichnung so wie auch beim Filmfestival: bei dem internationalen Titel.