Isserley fährt mit ihrem Auto über schottische Land- und Schnellstraßen immer auf der Suche nach dem Objekt ihres Interesses: Männer, die am Straßenrand stehen und eine Mitfahrgelegenheit suchen. Groß und muskulös sollen sie sein. Frauen? Damit kann sie nichts anfangen. Schmächtige, kleine Typen? Nichts für Isserley. Sitzen sie erstmal in ihrem Auto, rückt sie ihren tiefen Ausschnitt zurecht und versucht die Aufmerksamkeit ihrer Passagiere auf sich zu ziehen. Kaum hatte sie einen, schnappt sie sich den nächsten. Under the Skin ist aber keinesfalls das, wonach es im ersten Moment klingen mag. Sie fragt sie aus. Sie entscheidet. Wird sie jemand vermissen, setzt sie sie einfach ab. Wenn nicht, werden die Männer nie wieder gesehen.
Ich habe immer eingebläut und von allen Seiten zurückgespiegelt bekommen: „per Anhalter fahren kann ganz dumm für dich ausgehen.“ „Gerade als Frau.“ „Mach’s einfach nicht.“ „Da ist man viel zu ausgeliefert.“ Under the Skin scheint zu Beginn der feministische Take auf diese Warnungen zu sein. Hier ist es eine Frau, die als Räuber auftritt. Aber schnell häufen sich die Fragen während des Lesens. Warum ist es Isserley so wichtig wie die Männer gebaut sind? Was passiert mit den Männern, sobald Isserley den Hebel umlegt hat und sie auf dem Beifahrersitz betäubt werden? Warum wird Isserley als so seltsam aussehend beschrieben?
„Being a freak was so wearying.“
p.75
Denn ja, neben Isserley als Ich-Erzählerin widmet sich auch immer ein Absatz der Gedankenwelt der Männer, die sie mitnimmt. Viele dieser Gedankenwelten sind düster. Manche haben sofort einen Plan oder Hintergedanken, sobald sie die Beifahrertür geschlossen und neben Isserley Platz genommen haben. Aber nicht alle. Sie alle spüren aber, dass irgendwas an Isserley anders ist. Ihre Proportionen? Sitzt sie nicht auch irgendwie unbequem? Wir bekommen bald einige Hinweise, dass Isserley kein Mensch ist und dass sie im Auftrag von jemandem handelt. Dass sie nicht allein ist. Aber zu wem auch immer sie die Männer bringt und was dort passiert – es ist offenbar vollkommen okay für sie Isserley den Lockvogel spielen zu lassen. Im Gegensatz zur gleichnamigen Verfilmung mit Scarlett Johansson in der Hauptrolle, geht das Buch aber in die Vollen und erzählt uns, was es mit all dem auf sich hat. Und das ist verblüffend und ich weiß bis heute nicht, was ich faszinierender finde. Die in seiner Botschaft deutlich eingeschränktere, aber arthousige Verfilmung oder das Buch, das schon an bittere Satire grenzt?
Michel Faber ist seit Das Buch der seltsamen neuen Dinge für mich einer der Autoren mit den wohl spannendsten Ideen. Aber auch welchen, die sehr in unserer Gegenwart verwurzelt sind und uns den Spiegel vorhalten. Relativ durch Zufall bekam ich mit, dass auch eines seiner Bücher die Vorlage zum Film Under the Skin war. Dass ich den schon kannte, tat der Sache keinen Abbruch und der Wunsch nach mehr Hintergrund, mehr Auflösung groß. Die habe ich bekommen.
Isserley gehört zu einer Spezies, die sich selber im Buch als „human“ bezeichnet, während Menschen für sie sogenannte „vodsel“ sind. Vodsel sind für sie eine Spezies niedrigerer Klasse. Nach dem feministischen Take bekommt das Buch einen der erstaunlicherweise in eine ganz andere Richtung verläuft und auch Fragen darüber aufruft, warum Isserley diesen Job macht. Warum sie solche Prozeduren über sich ergehen ließ, die ihr Erscheinungsbild offenkundig in etwas verwandelt haben, indem sie sich nicht wiedererkennt? Etwas, das sie gar abstößt. Die Antwort ist: sie hat das nicht freiwillig getan. Sowohl das, was ihr passiert, als auch das, was den Männern passiert, ist eine Metapher auf Ausbeutung und Disrespekt. Und der ist bekanntermaßen besonders einfach, wenn es um den eigenen Wohlstand geht. Das ist alles noch sehr vage? Natürlich, ich spoilere nicht. Aber das Buch wird konkret und wird überraschen.
„The men – […] had fussed around her from the moment she arrived, […] but she was brave, yes, she was a plucky girl, and they would treat her as if nothing odd or ugly was about her at all, for she and they were all the same under the skin, weren’t they?“
p.152
Ausbeutung wird hier zwischen den Zeilen demonstriert anhand der Tortur, die Isserley jeden Tag in Kauf nimmt, wenn sie in das Auto steigt. Oder auch anhand der dauerhaften Entstellung ihres Körpers, die dafür sorgt, dass sie sich nie wieder in ihre Heimat-Gesellschaft integrieren oder eine Familie gründen kann. Es ist durchaus vergleichbar mit der Ausbeutung, die manchen Menschen durch andere Menschen angetan wird – in unserer Realität, unseren Tagesnachrichten, an Arbeitsplätzen, in der Öffentlichkeit. Oder den Disrespekt, wenn jemand, der noch nie diskriminiert wurde, die Probleme von marginalisierten Gruppen nicht anerkennt. Es ist leicht über Feminismus die Nase zu rümpfen, wenn man noch nie der Abschätzigkeit, physischen oder psychischen Übergriffen ausgesetzt war. Oder wenn man noch nie dem ausgesetzt war, was Isserley in ihrem Auto erlebt.
Ein Mann, den Isserley mitnahm und der sie sexuell belästigte, wurde später tatsächlich als vermisst gemeldet und in den Nachrichten als „vulnerabel“ beschrieben. Später wird sie darauf angesprochen, ob sie nicht Mitleid mit ihren „Opfern“ hätte. Es ist sehr schwer einerseits auch selbst Opfer zu sein und Mitleid zu empfinden.
„There was always a tendency to anthropomorphize. A vodsel might do something which resembled a human action; it might make a sound analogous with human distress, or make a gesture analogous with human supplication, and that made the ignorant observer jump to conclusions.“
p.174
Bei all diesen Themen könnte man nun annehmen, dass das Buch einen zerschmettert. Tatsächlich ist es keine leichte Kost und es enthält reichlich Trigger für Massentierhaltung, sexuelle Übergriffe, Diskriminierung, Substanzmissbrauch und sicherlich noch einiges anderes, das ich vergessen habe. Michel Faber lässt uns aber nie im Stich. Er streut gerade so viel Comic Relief ein, das die Bitterkeit der Geschichte nicht ihre Wirkung verliert, wir aber auch ab und zu einen Grund bekommen die Mundwinkel beim Lesen zu heben. Was für Situationen können das inmitten all dem sein? Sagen wir mal so: manchmal haben Issereley und ihre Auftraggeber keine Erklärung für die Welt der vodsel, ihre komischen Begriffe oder Verhaltensweisen. Und wie sind wir darin als Leser:innen? Können wir mit Isserley nun mehr Empathie haben? Ihr verzeihen, was sie tut? Könnte sie es?
Vielleicht geht Buch-Isserly genau daran zugrunde. An den Widersprüchen, denen sie ihre Gesellschaft aussetzt. Einerseits wird sie ausgebeutet, andererseits muss sie tough sein, um es durchzustehen, andererseits wird sie vorverurteilt, dass sie nicht genug Empathie hat. Film-Isserley ergeht es mit ihrer Empathie nicht besser. Denn am Ende stellt sich heraus: wir sind unter der Haut gleich, ja. Aber es gibt immer jemanden, der uns zu etwas weniger gleichem machen will. Und entmenschlicht.
„You’re not well girl, are you?“
p.270
Fazit
Kurz, überraschend, reich an Triggern, aufrüttelnd und passt in keine Genre-Schubalde – interessante Mischung.
Besprochene Ausgabe: ISBN 978-1-78689-052-8, Canongate Books
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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