„Johatsu“ war der erste Film meines dritten Festivaltages und erster Dokumentarfilm, den ich auf der NIppon Connection 2024 sah. Konsequent wurde jeder Film mit ein paar Worten vom Festivalteam eingeleitet – in einigen Fällen auch unter Anwesenheit eines Gastes oder einer Gästin. In dem Fall war einer der beiden Regisseure anwesend und es gab im Anschluss eine Diskussion, die ich nicht hätte verpassen wollen. Spoilerfrei.
Johatsu heißt soviel wie „die Verdunsteten“ und ist in Japan ein Begriff für Personen, die aus freien Stücken verschwinden und ihr bisheriges Leben hinter sich lassen. Der Dokumentarfilm widmet sich diesen Menschen und denen, die sie zurücklassen. Ebenso auch Agenturen, sogenannten „Night Movers“, die ihnen beim Verschwinden helfen. Unter den Menschen sind welche, die vor physischer oder psychischer Gewalt fliehen, vor der Mafia oder den Schuldenbergen, die sie angehäuft haben. Das Phänomen der Johatsu nahm laut des Films seinen Anfang während der Wirtschaftskrise.
Eine gute Doku erkennt man daran, dass sie keine Position bezieht und die Fakten wertungsfrei spiegelt. Zumindest ist das meine Überzeugung. Dementsprechend steht man während des Schauens von Johatsu vor einigen Fragen und versucht das Gesehene einzuordnen. In einigen Fällen fragt man sich: ok, und hat das Verschwinden ihr Leben jetzt leichter gemacht oder sie einfach nur auf andere Weise zu Gefangenen gemacht? Die Menschen mit Schulden haben immer noch Schulden. Es gibt auch eine Szene, die ich sehr bezeichnend fand, in der Night Movers einer Frau helfen vor ihren übergriffigen Nachbarn zu fliehen. Mit jeder weiteren Bemerkung der Frau über ihre „Feinde“ und die Beobachtung, unter der sie steht, bekommt man aber so eine Idee, dass wegziehen nicht ihre Probleme lösen wird. Das alles wertet der Film nicht. Und das ist auch einerseits gut, um uns zum Nachdenken zu bringen.
Andererseits lässt es uns mit vielen Fragen aus dem Saal gehen, von denen das Q&A immerhin einige beseitigen konnte. Sei es manchmal auch nur die Frage, was die Leute davon haben, wenn sie alle Zelte abbrechen, aber grundsätzlich noch unter demselben Namen leben? Ich gestehe ich hatte im Vorfeld eine sehr fantastische, hollywoodreife Idee von Night Movern. Ich dachte, dass die Johatsus mit einer neuen (möglicherweise gefälschten) Identität ausgestattet werden. Das ist natürlich bürokratisch mehr als schwierig. Zumal in Japan seit Kurzem auch manches durch das My Number-System schwieriger geworden sein dürfte. Darauf geht der Film nicht ein, was mir als eine vertane Chance erscheint und darüber hinaus vieles im Film Dargestelltes als etwas aus der Zeit gefallen erscheinen lässt. Es bleibt der Verdacht, dass die Dokumentation damit zu Zeit ihres Erscheinens schon nicht mehr aktuell ist. Im Q&A nach dem Film sprach Andreas Hartmann My Number tatsächlich an. Dass meine eigene Erwartungshaltung eher etwas unterwältigt blieb, weil Night Mover im Grunde auch eher ein Umzugsunternehmen sind, ist wertungsfrei, weil mein eigenes Problem.
So oder so ist Johatsu ein interessanter Dokumentarfilm, der zum Nachdenken bringt. Die Crew des Films hat zudem besonders sensibel agieren müssen, um nicht den Aufenthaltsort von jemandem zu enttarnen, der oder die nicht gefunden werden will oder darf. Ich habe selten eine Endroll gesehen, in der so wenige Namen konkret genannt werden durften. Bezeichnend.
Johatsu – Into Thin Air (OT: 蒸発 „Johatsu“), Japan/Deutschland, 2024, Andreas Hartmann/Arata Mori, 86 min, (7/10)
„Johatsu“ war mein erster Dokumentarfilm der Nippon Connection 2024 und auch der letzte. Ich habe allerdings mit einigen geliebäugelt. Habt ihr schon mal von „Johatsu“ gehört? Oder ist aus eurem Leben schon mal jemand so mir nichts dir nichts verschwunden? Wie seid ihr damit umgegangen? Einer meiner besten Kumpels von der Uni hat sich nach einem Umzug aufgehört zu melden, was mir ziemlich „Johatsu“ vorkam und irgendwie sehr traurig war. Eine Erklärung habe ich nicht bekommen, aber ihn neulich überraschend in Social Media wiedergefunden … tja. Aber nein, ich glaube nicht wirklich, dass das ein Fall von „Johatsu“ war.
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