Filmbesprechung „0.5 mm“ & „Café Funiculi Funicula“ (JFFPlus 2021)

Seit 2016 bewirbt das Japanese Film Festival (JFF) die ganze Bandbreite des japanischen Films. Zuerst in Südostasien und Australien, dann in immer weiteren Ländern wie beispielsweise auch Teilen Europas. Zwischen November 2020 und März 2021 fand nun die letzte Runde statt – dieses Mal als Online-Filmfestival, dessen Beiträge nach Anmeldung auf der Webseite von JFF zum kostenfreien Streamen zur Verfügung stand. Und weil ich den japanischen Film liebe, konnte ich nicht widerstehen und bespreche heute zwei Filme, die berühren, aber einen sehr unterschiedlichen Ton haben. Die Besprechungen sind selbstverständlich spoilerfrei.

0.5 mm

Mit 0.5 mm gibt Momoko Andō ihr Langfilmdebut – mit der Betonung auf lang. In dem über drei Stunden andauernden Film verkörpert Sakura Andō die Altenpflegerin Sawa Yamagishi, die infolge eines nennen wir es mal unglücklichen Zwischenfalls Job, Zuhause und Bankguthaben verliert. Sie sitzt auf der Straße und beschließt das zu tun, was sie kann: alte Leute pflegen. Den Teufelskreis aus: hast du keinen Wohnsitz, hast du keinen Job; hast du keinen Job, hast du keinen Wohnsitz überspringt sie einfach und drängt sich v.A. älteren Herren relativ forsch oder offensiv auf, die anfangs alle sehr davon überzeugt sind, dass sie keine Pflegerin brauchen, aber sie dann am liebsten gar nicht mehr gehen lassen wollen.

Das mag im ersten Moment so klingen, als ob Sawa sich (sexuell?) ausbeuten lässt. Viel mehr ist es aber so, dass sie innerhalb bestimmter Grenzen ihre Reize nutzt und stattdessen die alten Herrschaften ausbeutet um erstmal ein Dach über dem Kopf zu haben. Aber zum Einen ist nie nur Lüsternheit der Auslöser, sondern allgemein gefasst Triebe, Ambitionen und Wünsche, die durch das Alter gedimmt werden, aber nie ganz verschwinden. Und Sawa scheint eine der wenigen zu sein, die sich dessen bewusst sind und sehr offen damit umgeht. So ist es für einen der alten Männer Status und das Bedürfnis etwas aus sich zu machen; für einen anderen schlichtweg die Gesundheit, für einen anderen sind es nie aufgearbeitete Kriegserfahrungen. Zum Anderen ist ihre Ausbeutung der altern Kerle recht kuschlig. Sie mag sich zwar in deren Haushalt einschleichen, aber sie hilft dort auch. Genäß ihrer Profession verbessert sie die Lebensqualität durch ihren Beistand, ihr Fachwissen und Empathie ungemein.

Der Film adressiert damit unterschwellig die Hilflosigkeit der (nicht nur japanischen) Gesellschaft angesichts Vergreisung. Und allen voran wie man respektvoll und wenn nötig belehrend mit all den Lebensgeschichten und Gefühlen umgeht, die bei den Pflegebedürftigen zu schnell neben Krankheit und Alter übersehen werden. Aber an den ca drei/vier Episoden aus Sawas Leben bei fremden, alten Leuten wird auch adressiert, dass manchen nicht mehr zu helfen ist. Der Film hat dabei einen unschlagbaren tragikomischen Ton, bei dem man sich manchmal nicht zwischen Lachen und Weinen entscheiden kann. Warum musste er aber nur über drei Stunden lang sein!? Bis die Botschaft und Sawas Motivation klar ist, kann der Film durchaus Zuschauer verlieren, die sich aus Sawas Aktionismus keinen Reim machen können. Davon mal abgesehen sind die Schwestern Sakura Andō (spielt Sawa) und Momoko Andō (Regisseurin) eine unglaublich gute Kombination.

0.5 mm (OT: 0.5ミリ), Japan, 2014, Momoko Andō, 196 min, (8/10)

Sternchen-8


„映画『0.5ミリ』予告編“, via シネマトゥデイ (Youtube)

Cafe Funiculi Funicula

Mal für die Länge eines Kaffees zurück in die Vergangenheit reisen? Klingt verlockend, oder? Denn in der Zeit kann man ja auch nicht zuviel Unfug anstellen. Das funktioniert im Café Funiculi Funicula. Die Regeln sind denkbar einfach. Man muss sich an einen bestimmten Platz setzen, von einer bestimmten Person den Kaffee eingeschenkt bekommen, an den Zeitpunkt denken und um zurückzukommen muss man den Kaffee ausgetrunken haben, bevor er kalt geworden ist. Das erleben wir anfangs noch an einem schönen, harmlosen Beispiel, in dem eine junge Frau versucht der Liebe ihres Lebens ein Liebesgeständnis abzuringen oder selbst eins zu machen. Kazu Tokita (Kasumi Arimura), der der Laden gehört und deren Aufgabe es ist den Kaffee einzuschenken und die Reise zu initiieren, erfährt dadurch von vielen Schicksalen. Manche davon tragisch sogar bis hin zu ganz persönlichen.

Der Film fährt basiert auf einer mehrteiligen Literaturvorlage von Toshikazu Kawaguchi und vertritt die Zeitreise-Philosophie von „da es schon passiert ist, kann der Eingriff in die Vergangenheit die Gegenwart nicht mehr ändern“. Was der Film stattdessen hervorhebt ist wie wichtig Abschluss, Aufarbeitung und emotionale Sicherheit ist. Ein Mann, der zurückreist um noch einmal mit seiner Frau zu sprechen, bevor diese dement wurde und ihn vergaß. Eine Frau, die ihrer verstorbenen Schwester noch einmal sagen will, dass sie sie liebt. Bei den Zeitreisen geht es nicht (zwingend) darum zu versuchen zu ändern, was bereits passiert ist, sondern sich selbst zu ändern und zu erfahren wie man mit dem was geschehen ist umgeht.

In jedem Fall, so tragisch er auch anfangs wirken mag, kehren die Zeitreisenden an ihren Platz zurück und haben ein leichteres Herz und verstehen die Umstände und sich selbst besser. Diese „Genki“-Atmosphäre verströmt der Film wunderbar mit einem (je nach Zuschauer) mehr oder weniger stark wahrgenommenemen Hang zum Kitsch. Auch mir war das stellenweise schon fast alles zu sehr Happy End, aber wenn ich mir das von einem Film gefallen lasse, dann von diesem. Café Funiculi Funicula ist ein Fantasy-angehauchtes Feelgood-Movie mit einigen schönen Twists, die ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr übermäßig überraschend sind, aber den Zuschauer das Herz leichter macht und den Wunsch weckt ein magisches Café zu eröffnen… .

Cafe Funiculi Funicula (OT: コーヒーが冷めないうちに), Japan, 2018, Ayuko Tsukahara, 117 min, (9/10)

Sternchen-9


„【Movie】Café Funiculi Funicula (English subtitles Trailer)“, via TBS Global Business (Youtube)

Header image uses a photo by Carolina Garcia Tavizon on Unsplash

Ich habe je gesagt, dass die beiden Filme wenig miteinander gemein haben. 😉 Irgendwie sind aber beide ein Stück weit Iyashikei, d.h. sie haben auf ihre eigene Weise eine heilsame Wirkung. Während „0.5 mm“ eher Indie ist und den Zuschauer viel selber zum Deuten mit auf de Weg gibt, zelebriert „Cafe Funiculi Funicula“ eine angenehme Art von Kitsch. Tolle Filme. Kennt ihr sie zufällig auch? Und haben sie auf euch heilsam gewirkt?

Eine Antwort

  1. […] verfolgt. Außerdem habe ich die beim JFF Plus online gesehenen Filme besprochen, so zum Beispiel 0.5 mm und Café Funiculi Funicula, die beide ganz schön emotional waren. Vor ein paar Tagen erst erschien der Erfahrungsbericht von […]

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