Filmbesprechung „his“ & „Under the Open Sky“ (Nippon Connection 2021)

Fokusthema der „Nippon Connection 2021“ (NC2021) war „Family Matters“ und widmete sich der Familie im japanischen Film. Und das auf vielfältige Art und Weise. „Klassische“, eingestaubte Rollenbilder werden hinterfragt und hinter die Kulisse der „Familienangelegenheiten“ geschaut. So auch in den zwei Filmen, die ich auf der NC2021 geschaut habe und heute spoilerfrei bespreche.

his

Für Shun (Hio Miyazawa) kommt es vollkommen überraschend als Nagisa (Kisetsu Fujiwara) mit ihm Schluss macht. Umso größer ist der Schock als sein Ex Jahre später mit seiner kleinen Tochter Sora (Sakura Sotomura) im Schlepptau vor der Tür steht. Inzwischen ist Shun Selbstversorger und lebt in einer ländlichen Gegend rund um Gifu. Nagisa war zwischenzeitlich ausgewandert, hat seine Ehefrau Rena (Wakana Matsumoto) kennengelernt, geheiratet und wurde Vater. Aber es hat nicht funktioniert und er befindet sich im Sorgerechtsstreit.


„his // Trailer“, via NipponConnectionTV (Youtube)

Selbstredend ist es nicht ganz zufällig, dass Nagisa Zuflucht bei Shun sucht. Fraglich ist, ob nach dem Vertrauensbruch auch bei Shun wieder erkaltete Gefühle hochkochen. Das Miteinander mit Nagisa und der kleinen Sora erwärmt jedenfalls Shun und weckt Familiengefühle. Der Film thematisiert auch die Überalterung auf dem Land, den Wegzug der jungen Menschen, demografischen Wandel und stellt die Frage, ob die kleine Gemeinde ein homosexuelles Paar akzeptiert und offen aufnimmt. Gegen Ende kommt es auch zu dem unvermeidlichen Gerichtsdrama angereichert mit allerlei Schlammschlacht. Nagisas Homosexualität (oder Bisexualität, das wird nie ganz beim Schopf gepackt) und Homosexualität im allgemeinen wird hier vor Gericht gemäß veraltetem Weltbild als verwerflich und abnorm dargestellt und als Garantie, dass Sora nie „normal“ aufwachsen kann. Hingegen wird auch der Vorwurf in den Raum gestellt, dass sich eine Vollzeit arbeitende Mutter unmöglich ausreichend um ihr Kind kümmern kann. Das Ding ist: wenn ich hätte raten müssen wie der Film verläuft, hätte ich auf all das getippt, was wir gesehen haben.

Das ist gut und schlecht. Gut, weil konventionell und bequem die Mutter als überforderte „Working Mum“ darzustellen. Aber weitaus zu einfach sie neben dem Glas Wein einschlafen zu lassen, während die Tochter Hunger hat. Aber gut in dem Punkt, dass sich die Filmemacher dessen bewusst sind und hier auch auf beiden Seiten adressieren wie sich das Weltbild ändert oder ändern muss. Und dass erstaunlicherweise einige eher dazu bereit sind sich zu ändern als andere.

Es strotzt schon ein bisschen vor Klischees (sehr traditionalistischer Richter beispielsweise), von denen man nur hofft, dass nicht alle von denen noch im Japan der Gegenwart präsent sind. Davon mal abgesehen ist das sehr natürliche Zusammenwachsen Shuns, Nagisas und Soras als auch der Blick auf das Innenleben Renas gut gelungen. Die zarte und langsame Annäherung Shuns und Nagisas nach dem Vertrauensbruch ist einfühlsam gefilmt. his kommt zwar ohne Überraschungen aus, aber zeichnet tatsächlich ein Stimmungsbild über die Vielfarbigkeit von Familien und ist damit allemal ein prächtiges Beispiel von Family Matters. Außerdem versuche ich nun auch regelmäßig das Ei vor dem Kochen mit einer Hand aufzuschlagen. Auch wenn ich dafür nicht ganz soviele Versuchsobjekte opfere wie Shun … .

his, Japan, 2020, Rikiya Imaizumi, 127 min, (7/10)

Sternchen-7

Under the Open Sky

Mikami (Kōji Yakusho) hat seine Strafe abgesessen und darf endlich aus dem Knast. Der inzwischen nicht mehr ganz junge Ex-Yakuza bekommt von allen gesagt „bleib sauber“, „auf dass wir uns nicht nochmal hinter Gittern sehen“ und daraus erschließt sich schon, dass die Statistik gegen ihn ist. Die meisten ehemaligen Insassen werden nach Abbüßen ihrer Strafe wieder straffällig. Mikami versucht es. Er träumt davon seine im Knast erlernten Fähigkeiten als Schneider anzuwenden, einem stinknormalen Job nachzugehen, eine nette kleine Wohnung zu haben und vielleicht seine Ex-Frau wiederzusehen. Er bekommt Unterstützung von seinem Bewährungshelfer (Isao Hashizume), aber der Rest der Welt muss stets und ständig erst von ihm überzeugt werden. Die Vorurteile gegen „Ex-Knackis“ scheinen ihm stets einen Schritt voraus zu sein.

Mikami hat in seinem Leben eher gegen Fausthiebe als gegen Frustration Widerstandsfähigkeit aufgebaut. Er hält sich wacker, lässt sich lange Zeit nicht ins Wanken bringen, wenn die ersten kleineren Rückschläge anklopfen. Den Reporter Tsunoda (Taiga Nakano) zieht er schnell auf seine Seite. Eigentlich wollte er eine Dokumentation über das eventuelle Abdriften in alte Yakuza-Muster drehen, aber er beginnt den Menschen und das Streben nach einem Leben „under the open sky“ in Mikami zu sehen. Und das ist erst der Anfang der kleinen Ersatzfamilie, die Mikami bald um sich schart und die ihm die Daumen drückt. Aber die Prüfung durch das echte Leben ist hart.


„Under The Open Sky // Trailer“, via NipponConnectionTV (Youtube)

Regisseurin Miwa Nishikawa hat mit Under the Open Sky einen Roman Ryuzo Sakis als Drehbuch adaptiert und und mit viel Empathie für die Charaktere verfilmt. Mikamis unumstößlicher Wille „es dieses Mal richtig zu machen“ kommt von Herzen, auch wenn er zugibt, dass auch das Yakuza-Leben mit seinem No-Bullshit-Klima einen Reiz hatte. Er bleibt sich treu, aber er wendet soviel Mut auf zu lernen wie es anders geht, dass er nach und nach ein Umdenken in Tsunoda und den anderen Menschen bewirkt, die ihn kennenlernen. Miwa Nishikawa verpackt das in eine feine Mischung aus Slice of Life, Drama und sogar Comic Relief. Es hat etwas heilsames den starken Ex-Yakuza dabei zuzusehen wie er genauso wie wir einst irgendwann mit der Fahrschule zu kämpfen hat oder das erste Mal ein Smartphones in der Hand hat. Nebenbei versucht er seine Mutter zu finden, Tsunoda soll ihm dabei helfen. Es werden abenteuerliche Theorien aufgestellt, nachdem der Mangel mütterlicher Fürsorge und das Gefühl „abgeschoben worden zu sein“ den kriminellen Werdegang Mikamis als Jugendlicher begünstigt hat. Mikami beweist nach hinten raus aber, dass der Mensch soviel mehr als Statistik ist. Und für Zuschauende gibt es das volle Paket. Sparsam, aber wirkungsvoll eingesetzte Musik. Sympathische Charaktere. Einen ungeschönten Abgesang auf die Ära der Yakuza und das Älterwerden. Und insgesamt ein Film, der soviel zum Lachen und zum Weinen bringt. Aus jeweils den richtigen Gründen. Toller Film.

Under the Open Sky (OT: すばらしき世界, „Subarashiki sekai“), Japan, 2020, Miwa Nishikawa, 126 min, (10/10)

Sternchen-10

Übrigens ist „his“ Preisträger des „Nippon Cinema Award“ der Nippon Connection 2021. Für den Award war ebenso „Under the Open Sky“ nominiert und ich persönlich hätte wohl eher den oder Shiver als Preisträger gesehen. So oder so ist „his“ ebenso ein wunderbarer Film und auch ein würdiger Preisträger. Habt ihr die Filme während der „Nippon Connection“ gesehen? Welcher war euer Favorit für den „Nippon Cinema Award“?

Eine Antwort

  1. […] Under the Open Sky kann ein Ex-Gefängnisinsasse die Statistik besiegen? […]

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