ausgelesen: Sharon Dodua Otoo „Adas Raum“

Vielleicht liegt es daran, dass man mir ein bisschen zuviel über Adas Raum erzählt hat, kurz bevor ich es schon mal lesen wollte. So nahm ich das Buch von der Liste der 22 Bücher für 2022 mit in die Liste der 23 für 2023. Ein Jammer, denn es war ein sehr berührendes und sehr forderndes Buch. Und der Spoiler war wie sich später herausstellte nicht wirklich einer. Adas Raum handelt von vier Adas in vier Zeitaltern an vier Schauplätzen. 1459 ist Ada eine Mutter, die gerade ihr zweites Kind in Accra (Westafrika) begraben musste. 1848 ist sie (eine fiktionalisierte Version von) Ada Lovelace, einer Mathematikerin in London. Ihre dritte erzählte Reinkarnation ist Adelajda. 1945, Zwangsprostituierte im KZ bei Nordhausen. 2018 dann ist unsere „Ada“ namentlich Augusta Adanne Lamptey. Werdende Mutter in Berlin, die händeringend eine Wohnung sucht. Und da ist immer die Angst, dass sich die Geschichte ihrer Reinkarnationen wiederholt. Welt, was tust du Ada an?

Ada erlebt den Tod ihrer Neugeborenen in Ghana, wird eines Armbands beraubt und deswegen mehrmals umgebracht. Teilweise wird ihr auch ihre Sexualität, Eigenständigkeit und Identität genommen. Sie erlebt Mysogynie in verschiedenen Zeitaltern und Formen – bis zum Femizid. Von ihrem Geliebten wird Ada Lovelaces wissenschaftliche Arbeit im Jahr 1848 abgetan mit den Worten „Wenn das, was du beschreibst, wahr wäre, wäre es schon von einem Wissenschaftler entdeckt worden!“ (p.22) Als Ada entgegnet, dass sie die Wissenschaftlerin ist, die das entdeckt hat, ist er so empört, dass er das Haus verlässt. Als ob es ihm etwas wegnehmen würde, ihn persönlich beleidigt. Dieser Mann ist hier in der Fiktion übrigens ein berühmter Autor, der nie beim Nachnamen genannt wird. Aber er heißt Charles und einer seiner Romancharaktere Murdstone. Ich hatte nicht erwartet ihn hier zu treffen. Auch nicht hatte ich erwartet, dass mich Adas Geschichten so fordern würden. Die Reinkarnationen lassen anfangs wenig Hoffnung zu. Jede von ihnen geht mehr oder weniger wissentlich auf einen Abgrund zu. Manchmal geht es ganz schnell, manchmal quälend langsam. Regelrecht in meine Albträume verfolgt hat mich die der Zwangsprosituierten Ada. Einer, der in einer Welt voller Zahnloser, Beraubter, Täter-Opfer und Opfer-Täter noch weniger zugestanden wird als allen anderen. Sie darf nicht mal mehr sich selbst haben.

„In der Sammlung von Momenten flüchte ich meistens in einen rötlichen, schwebenden Raum hinter meinen Augenlidern. Von dort kann ich das Geschehen aus so etwas wie einer wissenschaftlichen Distanz betrachten. Ich kann. Aber ich will es nicht. Ich will es nie.“ p.28 (Ada in Nordhausen)

„Ich kenne den Blick. Tja, denke ich. So viel Opfer kannst du nicht sein, wenn dir noch dein Pimmel gehört. Und da ich keinen Besitz habe, kann ich nicht einmal recht oder unrecht haben. Ich schaue es also einfach an: ein Weder-Täter-noch-Opfer, ein Weder-gut-noch-böse, ein Weder-Mann-noch-Kind, ein Nichts.“ p.30 (Ada in Nordhausen)

Die Schicksale Adas werden uns häppchenweise in verschiedenen Schleifen genannten Abschnitten aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Dass das Buch nie zu schwermütig wird, erledigt der Wechsel. In den ersten Kapiteln ist es Ada selber, in den nächsten sind es die Charaktere rund um Ada. Später sind es gar die Täter. Und dazwischen erzählt auch mal ein Besen. Denn das überraschendste Feature ist wohl das Wesen. Alles wird beobachtet von einer Entität, die immer wieder den Platz von Gegenständen in Adas Peripherie einnehmen muss bis diesem Wesen auch nach wer weiß wievielen Iterationen und Reinkarnationen ein Leben als lebendiges Wesen vergönnt ist.

Dieses Bewusstsein wandert mal in einen Türklopfer, mal in einen Besen, mal ist es Adas Raum, der all die Dinge beobachten muss, die der in einem KZ zwangsprostituierten Ada angetan werden. Es ist ironisch, dass dieses Bewusstsein später ein Pass sein wird, etwas das von manchen kaum beachtet wird, aber in entscheidenden Momenten größtes Glück oder Verhängnis bedeuten kann. Vor Allem im Angesicht des Brexit, dem die britische, schwangere Ada in Berlin entgegen sieht. Die Entität ist nicht allwissend aber nah dran und darf deswegen Gott begegnen. In dem durchweg feministisch angehauchtem Buch ist Gott auch, wie kann es anders sein, eine Frau.

„In manchen Gegenden reicht es aus, wenn ich ein vierblättriges Kleeblatt bin, in anderen Orten sind sie begeistert, wenn ich die Nummer acht verkörpere. Eine Kuscheldecke, ein positiver Asylbescheid oder Top-Surgery genügen, um Wärme, Erleichterung oder Begeisterung hervorzurufen.“ p.139

Die Entität ist nicht nur unsere Möglichkeit von der Grausamkeit etwas Abstand zu nehmen, die Ada angetan wird. Sharon Dodua Otoos Konstruktion ist schlau, sie lässt uns durchatmen. Diese Stimme darf auch ironisch sein, sie darf uns auch erheitern. Sie fiebert wie wir mit Ada mit und fragt sich bangend, ob am Ende doch noch das Kind zur Welt kommt und Ada Mutter sein darf? Das geraubte Armband zurückkehrt, wo es hingehört? Ada sowohl Freiheit als auch Seelenfrieden zuteil wird? Nach all den Etappen leiden wir mit Augusta Adanne Lamptey in Berlin besonders mit. Sie hat die Chance, das ihr alles gelingt. Das alles in ihrer Geschichte kumuliert. Sie hat all unsere Hoffnung. Dabei beginnt es für Ada in Berlin erstmal weniger hoffnungsvoll. „In Deutschland wurde Ada schlagartig zur Schwarzen und spürte es sofort.“ (p.203) heißt es und wir müssen befürchten, dass sich die Welt um Ada vielleicht gebessert hat, aber noch lange lange nicht angekommen ist. Als sie eine Wohnung in Berlin sucht ist sie manchen zu schwanger, manchen zu schwarz. Letzten Endes findet die Geschichte aller Adas diese Ada auf eine unerwartete Weise.

Anfangs ist es schwierig dem Geschehen zu folgen und es dauert die Erzählstimmen einzuordnen. Ich fand es besonders schwierig die Nebencharaktere von der Erzählstimme des Wesens zu trennen. Aber alles fügt sich und ist dann eine Lektüre, die man kaum aus der Hand legen kann. Die eindringlichen Schilderungen der verschiedenen Arten von Diskriminierungen spannt einen Bogen über ähnliche, aber nie ganz gleiche Formen der Diskriminierung. Die lange Geschichte der Diskriminierung gegen schwarze Frauen – im von Kolonialismus und Rassismus brutalisierten Accra des Jahres 1459 wie auch im Berlin des Jahres 2019. Eingebettet darin die genommene Selbstbestimmung der (nehme ich an) weißen Adas 1848 und 1945. Adas Raum ist ein unfassbar cleveres, hartes, aber vor Allem bewusstes Buch. Im Nebensatz findet man darin weibliche Perspektiven und noch weiter gespannt gesellschaftlichen Diskurs bis in die kleinsten Nebensätze. Kaum merklich bekommen Informatiker:innen extra Futter, in dem wir mit Entitäten zutun haben, mit Schleifen und Iterationen. Wie passend, dass die Ada in Berlin Informatik studiert.

Fazit

Intelligentes und forderndes Buch über weibliche Realitäten

Besprochene Ausgabe: ISBN 978-3-10-397315-0, Fischer Verlag

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

6 Antworten

  1. Avatar von donpozuelo
    donpozuelo

    Oh. Danke für den Tipp. Das klingt sehr interessant. Kommt direkt mal auf die Liste

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Da du dich in Berlin besser auskennst als ich (hab ich so in Erinnerung!?), hat das vielleicht auch noch was von Lokalkolorit 🙂

      1. Avatar von donpozuelo
        donpozuelo

        Da ich jetzt seit fast 15 Jahren hier wohne, sollte sich das mit Lokalkolorit hoffentlich wiederfinden

        1. Avatar von Miss Booleana
          Miss Booleana

          Na dann … 🙂

  2. […] „Welt, was tust du Ada an?“, fragt Bloggerin und gleichfalls (unter anderem) Computer-Expertin Miss Booleana. […]

  3. […] Sharon Dodua Otoo teilte Zeilen der somalisch-britischen Autorin Warsan Shire, die meinem Gefühl über die Welt […]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert