Jeder hat so Autoren, deren Geschichten und Erzählweisen mehr und öfter ins Schwarze treffen als die der anderen. So ist das bei mir und Naoki Urasawa. Nachdem ich sein 20th Century Boys (und 21st Centurys Boys) gelesen und geliebt und Pluto verschlungen habe, war es aber Zeit zurück zu den Ursprüngen zu gehen. Denn mein erster „Urasawa“ war Monster (モンスタ). Damals erschien der Manga in Deutschland bei Egmont Manga & Anime vollständig in 18 Bänden. Aber ich weiß nicht woran es lag, ich habe nicht weitergelesen. Heute denke ich, dass ich zu jung war (damals ca 15 oder 16) und den Manga nicht schätzen konnte. Das Thema ist auch nicht gerade leichtgewichtig und die Aussicht auf 18 Bände war wohl erschlagend. Inzwischen sind die Bände aus der Veröffentlichung von Egmont schwer zu bekommen, größtenteils vergriffen. VIZ Media brachte 2013 für den englischsprachigen Markt aber im Zuge der VIZ Signature Collection die sogenannte Perfect Edition von Monster raus, die die in 18 Bänden abgeschlossene Reihe auf neun Bände zusammenfasst und für Sammler ein zudem schmuckes Äußeres hat. Und was ich da nun in neun dicken Türstoppern vor mir aufgetürmt sehe ist vielleicht einer der besten Manga, die ich bisher gelesen habe – und das schließt Comics und Graphics Novels mit ein, ich bin mir noch unschlüssig, ob nicht auch Bücher allgemein.
Alle Leben sind gleich viel wert
Für den aufstrebenden Gehirnchirurg Kenzō Tenma könnte es nicht besser laufen. Er hat bereits in Deutschland Medizin studiert, arbeitet 1986 in Düsseldorf und hat eine hohe Erfolgsquote bei seinen Patienten, die nicht selten schwierige Fälle sind. Außerdem ist er mit Eva, der Tochter des Klinikleiters, liiert. Aber ihm wird der Ruf des Überfliegers nicht hinterhergeworfen. Er schiebt harte und lange Schichten und schreibt nebenbei wissenschaftliche Abhandlungen, auf denen in großen Lettern der Name seiner Chefs steht. Als man ihn bittet statt eines armen Einwanderers zuerst eine angesehene Person des öffentlichen Lebens zu operieren, willigt er ein. Der arme Einwanderer stirbt und Kenzō kann sich vor Schuldgefühlen nicht mehr im Spiegel anschauen. Bei der nächsten Gelegenheit muss er sich zwischen einem kleinen Jungen mit einer lebensgefährlichen Kopfverletzung und dem Bürgermeister entscheiden. Dieses Mal folgt er nicht den Anweisungen des Chefs und operiert den, der zuerst da war: den kleinen Jungen Johann. Der überlebt, der Bürgermeister stirbt und Kenzō hat seine Gunst bei den meisten in seinem Umfeld verspielt. Johann und seine Zwillingsschwester Anna bleiben ein Mysterium. Wer hat dem Kleinen in den Kopf geschossen? Und hat die Schwester alles gesehen? Sie wurde mit eingeliefert, steht unter Schock und spricht kein Wort. Kurze Zeit später sind zwei Ärzte der Klinik tot und die Kinder verschwunden. Was ist hier passiert?
Neun Jahre später ist Kenzō Chefarzt, aber der Weg dahin war steinig, obwohl er im Laufe der Zeit die Leben hunderter gerettet hat. Die Verlobung mit Eva ist schon lange geplatzt. Aber Kenzō bereut nichts, er ist sich sicher, dass er richtig gehandelt hat. Eines nachts wird er Zeuge des Mordes an einem seiner Patienten. Kenzō erkennt in dem Täter Johann, inzwischen ein gut aussehender, blonder Mann mit einem engelsgleichen Gesicht. Der Mord ruft den BKA Ermittler Lunge auf den Plan, der auch die Morde in Kenzōs Umfeld im Jahr 1985 damit in Verbindung bringt und Kenzō zum Hauptverdächtigen macht. Den mysteriösen blonden Mann hat ansonsten niemand gesehen. Kenzō beginnt selbst Ermittlungen anzustellen und entdeckt auf bitterste Art, dass er mit Johann einem Monster das Leben gerettet hat und schwört diesen Fehler rückgängig zu machen und Johann umzubringen. Kenzō begibt sich auf eine Reise voller Entbehrungen und Verlusten, während er der Verbrechen verdächtigt wird, die Johann begangen hat.
„Das Monster in meinem Selbst ist so groß geworden!“
Monster teilt viele typische Merkmale von Urasawas Geschichten. Zum Einen schickt er Kenzō auf eine Jahre andauernde Reise durch Europa. Kenzō verfolgt Johanns Spur durch ganz Deutschland und muss erkennen, dass er alle seine Adoptiveltern umgebracht und eine regelrechte Blutspur hinterlassen hat. Er macht außerdem Anna, Johanns Schwester ausfindig, die seit den Ereignissen in Düsseldorf 1985 in einer anderen Familie glücklich als „Nina“ aufwuchs und lediglich von schlimmen Albträumen geplagt wird. Nachdem Kenzō Anna konfrontiert und Johann auch hinter ihr her ist, verfolgt der Manga auch Annas Spurensuche. Nicht nur nach Johann, sondern auch nach den Ursprüngen der Kinder und einer Kindheit, an die Anna quasi keine Erinnerung hat. Urasawa entführt uns an zahlreiche Schauplätze der realen Welt, v.A. Deutschland und die Tschechoslowakei und führt unsere beiden Helden immer mal wieder zusammen und trennt sie. Und manchmal lässte er sie Johann bedrohlich nahe kommen.
Dabei macht Urasawa wieder einmal von seinem typischen Merkmal Gebrauch und lässt auf der langen Reise viele der Personen, die Anna/Nina und Kenzō begegnen die Geschichte weitererzählen. Das macht die teilweise langen Wege der Charaktere glaubhafter und die Dauer ihrer zermürbenden Reise, resultiert aber in Mammut-Längen von 18 Mangabänden bzw hier 9 Türstoppern. Die vielen Nebenhandlungen sind aber keinesfalls sinnlos. Sie charakterisieren und härten Kenzō und Anna/Nina, lassen sie Spuren und Hinweise sammeln und Verbündete treffen. Ich behaupte sogar, dass diese Nebenhandlungen Urasawas große Stärke sind, denn die Charaktere tauchen oftmals irgendwann wieder und der Blick „von außen“ auf unsere Protagonisten, quasi durch die Augen der Nebencharaktere, ist in sehr empathisches Stilmittel. Diese Nebenhandlungen sind meist rührend oder schockierend – in jedem Fall dienen sie dem Manga und liefern viele der denkwürdigsten Szenen. Ich denke gern zurück an Richard Braun und seinen Kampf mit dem Alkohol, der auch die Figur des Psychologen Julius Reichwein einführt, der ein enger Verbündeter Kenzōs wird. Oder Dieter! Noch ein kleiner Junge, aber mit einem entlarvenden Blick auf die Welt. Den Magnaten Schuwald, der mehr Herz hat, als die Öffentlichkeit denkt. Oder Rudy Gillen, der ebenfalls Psychologe ist und der immer wieder Psychopathen und Serienkiller interviewt, die Urasawa an real existierende angelegt hat. Gillen muss mit Erschrecken feststellen, dass einige dieser gestörten Geschöpfe von einer einzigen Person manipuliert wurden. Wer kann das wohl sein? Und wie beispielsweise Richard Braun und Dr Gillen müssen einige von ihnen über sich hinauswachsen, denn der extreme Fall von Kenzō, Johann und Anna erfordert extreme Aktionen. Im Falle einiger geht das gut aus, im Falle anderer nicht. Die Spannungskurve und manche von Urasawas Nebenhandlungen sind vorhersehbar. Das Schicksal vieler Charaktere ist es nicht. Auch Kenzō passiert im Grunde alles, was passieren kann. Es ist schließlich sehr unwahrscheinlich, dass er bei einer jahrelangen, fieberhaften Suche nach Johann nie von der Polizei geschnappt wird, wo doch überall Fahndungsplakate mit seinem Gesicht hängen, oder? Urasawa verzichtet auf solche Tropen.
Denkwürdig sind auch die wenigen Szenen in denen sich der erwachsene Johann und Kenzō begegnen und sich die Frage stellt: kann er es? Kann Kenzō Johann wirklich umbringen? Moralisch ist Monster ein Meisterwerk, denn es stellt sich u.a. die Frage, ob auch jetzt nicht noch alle Leben gleich viel wert sind? Und das ist nur eine von vielen Zwickmühlen in die Urasawa den Leser und Kenzō schickt. Ein Krimi ist unter Umständen nur so gut wie der Big Bad, der Gegenspieler. Urasawa charakterisiert Johann anfangs als fast zu perfekt. Er scheint keine Schwächen zu haben. Er sieht gut aus und kann Menschen förmlich lesen. Er weiß was er sagen und wie er sich verhalten muss, um unschuldig zu wirken, um zu bekommen was er will. Er hinterlässt keine Spuren, er manipuliert, er ist quasi unfehlbar. Urasawa geht sogar soweit uns einige Kapitel lang statt Kenzō oder Anna Johann beobachten zu lassen, der friedlich vor sich hinstudiert und den kein Wässerchen trüben kann bis sein aktueller Plan deutlich wird. Der ebenso widerwärtig ist. Er kann so gezielt manipulieren, dass es ihn wenig kostet einen Menschen mit einigen gezielten Sätzen und ein bisschen Recherche in den Selbstmord zu treiben und sich dabei nicht mal wirklich die Hände schmutzig zu machen. Er ist wahrlich ein Monster. Schade ist, dass Johann seinen Verfolgern meist wirklich um Nasenlängen voraus ist. Das nervt schon ein bisschen und lässt ihn wie einen Übermenschen wirken und irgendwie „unwirklich“, auch wenn nicht alle seine Pläne vollends aufgehen. Und wenn man schon denkt, dass der Manga zu konventionellen Mustern von Gut und Böse folgt, dann muss Kenzō die Grauschattierungen entdecken: was hat Johann zum Monster gemacht? Denn auch dieses Monster ist nicht als Monster zur Welt gekommen.
„I’ll tell you a really terrifying story“
Kenzōs Spurensuche nach Johann greift mit Leichtigkeit die europäische Geschichte während des kalten Krieges wieder auf sowie nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Es spielt auch die Geheimpolizei und deren Machenschaften in der Tschechoslowakei eine Rolle. Alles ohne viel Pathos oder langatmige Geschichtsaufsätze, sondern lädt stattdessen dazu ein Wikipedia aufzumachen und nachzulesen. Urasawas Manga ist außerdem gut recherchiert. Wenn man des Deutschen oder Tschechischen mächtig ist, wird man viel Freude daran haben die Labels und Straßenschilder zu lesen, oder auch mal im Dialog ganze Sätze, sonstigen Lokalkolorit und glaubhafte lokale Namen. Der Zeichenstil Urasawas entwickelt sich natürlich im Laufe der Bände, wer den Manga gerade beendet hat und nochmal Band 1 aufmacht, entdeckt dort viel weichere Linien. Kein Wunder, Urasawa hat sieben Jahre(!) an dem Manga gearbeitet. In den späteren Bänden findet man epische großformatige Panels, die Schlüsselmomente ins rechte Licht rücken und einen insgesamt dramatischeren Einsatz von Panels. Die Hintergründe sind detaillierter und seine Charaktere sind natürlich im Laufe der Zeit im Manga gealtert. Urasawas Zeichenstil ist sehr realistischer Natur und bedient keine Manga (oder v.A. Shoujo-Klischees) von Kulleraugen oder Ähnlichem. Stattdessen sind die (angeblichen) menschlichen „Makel“ seine Stärke – Gesichter wie man sie überall um sich herum sieht. Alte Menschen, ungewöhnliche Nasen, beleibtere Charaktere, Charaktergesichter – er kann es alles. Und zwar meisterlich. Daher kann es vom Stil (vielleicht aber nicht von der immensen Länge) ein guter Manga für Einsteiger oder von Fans westlicher Comics und Graphics Novels sein.
Die lange Reise von Kenzō, Anna, Johann, Dieter und wie sie alle heißen ist nicht an allen Punkten einfach zu folgen. Insbesondere die letzten drei, vier Bände las ich mit einem kritischen Auge und fragte mich wie all das zusammenpasst, was aufgedeckt wurde. Eine Eigenschaft von Urasawas Manga ist, dass die Enthüllungen von Hundertsten ins Tausendste führen und zwischendurch ist es leicht vom Glauben abzufallen. Wie passt das alles zusammen? Hat er sich da jetzt nicht verheddert? Ist das nicht etwas unwahrscheinlich? Aber es fügt sich tatsächlich im letzten Band alles zusammen. Und Anna hat recht, wenn sie sagt „I’ll tell you a really terrifying story“ – sie ist furchtbar, insbesondere dann, wenn das „echte Monster“ enthüllt wird und die einzige Erinnerung, die nur Johann hat. Es liefert eine glaubwürdige Erklärung dafür wie ein Mensch ein Monster wird. Monster sind offensichtlich von Menschen gemacht.
„Do you know what it means, to destroy a human being’s basic sense of right and wrong? // What happens when you wake upt the monster within a human heart? // A human being … ahuman being needs to enjoy the taste of food … // to look forward to picnics on the weekend // to relish a beer after a day’s work … // a human being … a human being … „ Vol. 09, p. 234, Wolfgang Grimmer
Leider bedient Urasawa einige Tropen und man wird öfter das Gefühl haben, dass man diesen Handlungsbogen schon mal so oder so ähnlich wo anders gelesen hat. Er kommt nicht ganz um konventionelle oder vorhersehbare Nebenhandlungen drum herum. Eine von diesen bequemen Eigenschaften ist der stets überlegene Johann. Aber wer kann es Urasawa übel nehmen? Er schafft so viele Geschichten von liebenswürdigen Nebencharakteren und Bildern vom klassischen Gut und Böse. Oftmals werden Charaktere anfangs als böse oder einfältig dargestellt, aber Urasawa lüftet den Vorhang und zeigt uns, was den Menschen im inneren bewegt wie am Beispiel des Unterwelt-Bosses, der seinen Neffen sucht, der im selben Kinderheim landete wie Johan. Und so bricht Urasawa immerhin mit vielen Konventionen und beweist eine tiefe Empathie für den Menschen, die menschliche Natur, die uns manchmal zuwider handeln lässt und das menschliche Herz, das doch nie ganz erkaltet. Einer dieser Brüche mit den Konventionen ist Wolfgang Grimmer, mein erklärter Lieblingscharakter. Aus ihm hätte ein „Johann“ werden können, wurde aber nicht. Stattdessen wurde er ein Held. Wenn auch ein unglücklicher.
Es war ein Ritt – und es müssen so an die 4000 Seiten Stoff gewesen sein. Aber es war ein wunderbarer, erschütternder. Einer, der mich schlauer gemacht hat und mich mit vielen Schicksalen und wunderbaren Charakteren konfrontiert hat. Eine bereichernde Reise.
Fazit
Unbedingt lesen, auch wenn es Ausdauer erfordert. „Monster“ ist einer der besten und bereichernden Manga, die bisher gemacht wurden. Ein wunderbarer empathischer, spannender, manchmal bedrückender Manga, der vor Allem das Krimi- und Thriller-Genre bedient, aber auch mit glücklichen Momenten und Comedy die Stimmung aufzulockern weiß. Der Manga erzählt eine viele Jahre umspannende Geschichte, die von Menschen und Monstern handelt.
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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