Neulich im Kino … Filmbesprechung zu „Systemsprenger“

Ich weiß gar nicht mehr wann genau ich das erste Mal von „Systemsprenger“ gehört habe. War es das Berlinale-Echo des Films? Egal wie oder wo, schon bei der ersten Erwähnung wurde es zum möglichen Kandidaten für den Oscar als „Best Foreign Language Picture“ gekürt. Soll man nun dankbar sein für die Vorschusslorbeeren, weil er dann möglicherweise ein paar mehr Zuschauer dazu verleitet mal wieder für einen deutschen Film ins Kino zu gehen? Wenn das der Effekt ist und der Film gefällt, dann ist das gut so. Ich gehöre zu den Leuten, die den deutschen Film gern fördern, damit man mehr von denen ohne Schweighöfers und Schweigers ins Kinoprogramm bekommt. Oder ohne Youtuber. Oder sowas. Aber ich schaue meist lieber keine gehypten Filme, weil es nur daneben gehen kann, wenn dir alle sagen wie großartig der Film ist. Oder? Review ist weitestgehend spoilerfrei.

Bernadette bzw „Benni“ (Helena Zengel) ist ein Systemsprenger. Ihre Mutter kann das neunjährige Mädchen nicht zügeln, weswegen Benni von einer Wohngruppe zur nächsten gereicht wird. Pflegefamilien funktionieren bereits nicht mehr, da Bennis Wutausbrüche und unangepasstes Verhalten für ihre Mitmenschen schon mitunter zur Gefahr werden. Das System hat keine Lösung für Kinder wie Benni. Während das Jugendamt fieberhaft nach einer Option sucht, wo sie dauerhaft bleiben kann, wird ihr der Schulbegleiter Micha (Albrecht Schuch) zur Seite gestellt. Der arbeitet normalerweise mit straffälligen Jugendlichen und wendet unkonventionelle Methoden an. Erfolgreich? Oder bleibt Benni ein Systemsprenger?


„SYSTEMSPRENGER Trailer German Deutsch (2019)“, via KinoCheck (Youtube)

Rosa Anorak. Rosa Pullover. Rosa Lolli. Bennis Rosa steht im krassen Gegensatz zu dem, was man oftmals mit der Farbe verbindet. Wenn Benni losschreit, mit dem Messer auf ihren Erzieher losgeht oder die Menschen in ihrem Umfeld mit ihren zarten neun Jahren als Wichser beschimpft, dann ist das gar nicht mehr rosig. Und genau dieses Unbequeme ist das, was uns Systemsprenger direkt ins Gesicht drückt. Wo wir alle gern lieber so wie Bennis Mutter abhauen und wegschauen würden, gibt es tagaus tagein Menschen, die das nicht tun. Um Kindern wie Benni einen Weg in die Normalität und Akzeptanz zu ebnen. Systemsprenger schaut wortwörtlich dahin, wo mancher lieber wegschauen möchte und macht die Leistung von Jugendämtern und Erziehern sichtbar. Nicht aber zwingend den Hintergrund Bennis. Das Verhalten ihrer Mutter, ihres Mackers und die eine oder andere beiläufige Bemerkung gibt einem eine zarte Vorstellung davon wie Benni so wurde. Aber es ist deutlich nicht Teil des Films die Geschichte von physischer oder psychischer Misshandlung, Verwahrlosung, Verrohung, Überforderung und Milieus zu erzählen.

Tatsächlich wirkt es schon fast unbefriedigend verstehen zu müssen, womit sich der Film befasst. Mit der Bekämpfung von Syndromen ohne an der Wurzel anpacken und die Vergangenheit ungeschehen machen zu können. Das Unbequeme von Systemsprenger ist schwer zu verdauen. Im Grunde ist das eine Verbeugung vor Helena Zengel, die im zarten Alter von elf Jahren (vermutlich sogar noch weniger) sowohl Sehnsucht, als auch Zorn unglaublich real auf die Leinwand bannt. Ihre Leistung ist regelrecht hypnotisch. Auch die anderen Darsteller überzeugen auf ganzer Linie: Albrecht Schuch als harter Kerl, der beginnt zu verzweifeln. Gabriela Maria Schmeide als Frau vom Jugendamt, die sicherlich schon eine Menge gesehen hat, aber an dem was in Bennis Fall mitschwingt in einer sehr berührenden Szene sichtlich an ihre Grenzen stößt. Lisa Hagmeister als überforderte Mutter, in deren Kopf gar nicht ankommt wie sehr sie ihrem eigenen Kind schadet. Und noch soviele Beispiele mehr.

Wenn Benni in den Wald Mama schreit und nur ihr eigenes Echo hört, dann hat mich der Film schon gekriegt. Aber wie so oft bei Filmen mit dem was man gerne als „unbequemes Thema“ bezeichnet, sind sie nicht einfach zu schauen. Wo sind denn die Anti-Aggressions-Trainer und Therapeuten? Wer arbeitet denn eigentlich mit dem Kind? Kommt keiner dazu, weil Benni im Film immer austickt, bevor jemand mit ihr arbeiten kann? Pillen und von Gruppe zu Gruppe reichen. Das wirkt schon wie großer Aufwand, der viele Menschen verbrennt, aber ist das zielführend? Die Abwesenheit von Lösungen wirkt lähmend. Auch auf den Zuschauer. Und verwehrt einem Geschlossenheit. Wie im richtigen Leben? Ich bin mit dem Gedanken nicht warm geworden. Er ist ebenso unbequem wie Bennis Verhalten. Er fordert auf hinzuschauen. Das ist gut, aber eben schwer. Gepaart mit der geradlinigen aber etwas schmucklosen Weise in der er gedreht ist, sagt er: Das ist ein Ausschnitt aus der Realität von Erziehern. Nicht jeder Zuschauer wird sich aber mit dem was er sieht zufrieden geben können. Und auch nicht jeder wird sich damit abfinden können oder damit schwer tun (so wie ich). So ist das mit der Realität. Hier und da kann man über die beeindruckende Leistung und Vorbereitung der Regisseurin Nora Fingscheidt nachlesen. Das nenne ich nah dran an der Materie. Lasst die Frau mehr Spielfilme drehen!

Systemsprenger, Deutschland, 2019, Nora Fingscheidt, 120 min, (7/10)

Sternchen-7

Wie erging es euch mit „Systemsprenger“? Harter Tobak, großes Gefühlskino, schwer greifbar – ich habe schon alles gehört, aber die Meinungen sind vorwiegend positiver und überschwänglicher als meine. Hat er die Nominierung als „Best Foreign Language Picture“ sicher? Und ist das überhaupt wichtig? Und ist es gut, wenn dieses Echo dafür sorgt, dass Leute wieder Lust haben für einen deutschen Film ins Kino zu gehen? 

Eine Antwort

  1. […] hat es mich im November ins Kino verschlagen. Systemsprenger hat mir an und für sich gefallen, aber nicht so überschwänglich wie das allgemeine Medienecho. […]

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