„Dear Esther: Landmark Edition“ (der Kürze halber nachfolgend nur „Dear Esther“ genannt) habe ich Ende letzten Jahres gespielt und vor über einem Jahr für einen sprichwörtlichen Appel und ’n Ei gekauft. Damals habe ich tatsächlich noch gezögert und mir einen Trailer angeschaut. Sah interessant aus, war günstig, hab‘ ich gekauft, aber hat mein Interesse auch nicht ins Unerträgliche gesteigert und ich habe es mir noch etwas aufgehoben. Wer hätte gedacht, dass es für mich das Spiel werden würde, dass mich am meisten umhaut und alles überstrahlt, was ich 2019 gespielt habe?
Dear Esther. The gulls do not land here anymore; I’ve noticed that this year they seem to have shunned this place. Perhaps it’s the depletion of the fishing stock driving them away. Perhaps it’s me.
„Dear Esther“
Mit diesen Worten beginnt das Spiel. Immer wieder redet der namenlose Erzähler, dessen Platz wir in First-Person-Perspektive einnehmen mit Esther. Wir wissen weder wer dieser namenlose Erzähler ist, noch was Esther für ihn ist. Ohne Erklärung landen wir auf einer Insel, die optisch an die Hebriden (Schottland) angelehnt ist. Raue Felsen, Strand, man sieht einen Leuchtturm und einen Funkmast bzw. eine Antenne, deren rotes Blinken uns ab und zu als Orientierungspunkt in der Landschaft dient. Später macht man sogar die Runde durch unterirdische Höhlen, die dem ganzen einen surrealen Touch geben. Man kann nichts tun als Laufen. Was das betrifft, hat Dear Esther die Bezeichnung als Walking-Simulator verdient. Mit unseren Controls können wir unsere Umgebung fokussieren und heranzoomen. Betreten wir einen Raum, machen wir automatisch eine Taschenlampe an. Aber das war’s. Am Anfang ist es frustrierend so wenige Möglichkeiten zu haben. Überall scheinen Hinweise zu lauern. Kenner elektrischer Schaltungen und chemischer Formeln können mal ihr Wissen anwenden. Wir entdecken Papierschnipsel auf dem Boden, aber man kann nicht entziffern was dort steht, selbst wenn man es heranzoomt. Wir können nur laufen und sporadisch meldet sich unser Alter-Ego mit einem weiteren gesprochenen Brief an Esther und wir ahnen schon anhand der Endgültigkeit in seinen Worten, das wir diese Esther nie zu Gesicht bekommen werden.
„Dear Esther – Official Trailer“, via brisck1 (Youtube)
Herauszubekommen was mit Esther passiert ist, wer der namenlose Erzähler ist und was wir auf der Insel möglicherweise finden werden ist das anfängliche Ziel des Spiels. Ein Rätsel, das wir lösen wollen. Das ganz klar story-getriebene Setting wandelt sich nach und nach zu einem emotionalen, aber sehr kurzweiligen Spiel mit einer enormen Sogwirkung. Anfangs schreit man nicht unbedingt Halleluja bei dem was man hier an Gamedesign vorfindet. Die Gestaltung und Controls wirken so, als ob sie selbst für ein 2012 erschienenes Spiel hinter State of the Art zurückliegen. Das Abhandensein von irgendwelchen Controls begeistert nicht unbedingt. Manche Hinweise auf dem Boden sind doch arg schlecht aufgelöste Grafiken. Der Erzähler spricht im Voice-Over ausschließlich auf Englisch. Die sehr eloquente und poetische Sprache macht, dass man sich den Inhalt schwer einprägen kann. Auch wenn sie nicht zuletzt dank Nigel Carringtons Stimme wie Samt für die Ohren sind. In jedem Satz steckt soviel Subtext. Blendet man zur Hilfestellung die Untertitel ein, sind die in einem verhältnismäßig kargen Overlay. Manches gehört zum Setup von Dear Esther und für die Aussage des Spiels braucht es nicht mehr. Manches könnte wirklich schicker sein. Warum ist das Spiel so gut?
Die Geister von Jacobson, Donelly, Paul und Esther
Zum Einen weil die herunterreduzierte Handlung und der emotionale Subtext so gut sind, dass sie das Spiel fast alleine tragen könnten. Unser Erzähler geht über die Insel, redet über die Insel, gewährt kryptische Details über Esther, einen gewissen Jacobson, Donelly und Paul. Man kann sich nicht mal sicher sein, ob er nicht einer der Genannten ist. Sie sind wie Geister, schwer greifbar und vielleicht gar nicht da. Alles ist ein Puzzle, das man zusammensetzen will. Irgendwann wird klar, was mit Esther passiert ist, aber wir wollen mehr. Wir wollen wissen wo die Reise unseres Erzählers auf dieser Insel hingehen kann. Und unsere Reise mit ihm ist schön. Auch wenn die Untertitel, Controls und manches am Design Wünsche offen lässt, so ist es nicht die Landschaft. Die Oberflächen sind ansprechend und realistisch gerendert. Auch wenn es auf manchem Screenshot nicht so rüberkommt, macht das Bewegtbild, dass man meint den Wind auf dem Cliff zu spüren oder dass wir das Gras an unseren Beinen kitzeln fühlen. Wir wissen nicht, was die Insel für unseren Erzähler ist, ob sie vielleicht nur in seinem Kopf ist? Aber über diese Insel zu wandern hat eine raue Schönheit.
Dazu gehört, dass es bewusste Lücken gibt, wo wir nichts hören als den Wind oder die Gedanken des Erzählers. Man gibt uns nie zuviel vor. Weder an Antworten noch durch Soundtrack induzierte Emotion. Aber wenn Musik angespielt wird, dann tut sie viel. Der Soundtrack von Jessica Curry ist fantastisch und verfolgt einen noch lange nachdem man das Spiel das erste Mal durchgespielt hat. Es ist kein Wunder, dass sie später für ein anderes Spiel in Zusammenarbeit mit demselben Studio (The Chinese Room) einen BAFTA gewonnen hat. Der Soundtrack ist stets ruhig mit dynamischen und dramatischen Spitzen, die nie nur schwermütig sind, sondern mit Streichern und Klavier ankündigen, dass man etwas großes, lebensveränderndes vor sich hat. Eins meiner Lieblingsstücke ist I Have Begun my Ascent, This Godforsaken Aerial und Ascension mit einem wunderbaren Chor und einem Ende, das auch im Spiel eins der Schlüsselstücke im Finale ist. Und wenn ich nicht schon vorher beim Spielen geweint habe, dann spätestens wen Ascension endet. Dear Esther ist offensichtlich kein Shooter, es ist kein fröhliches Spiel, aber es ist ein bewegendes Abenteuer, das viel in dem Spieler auslöst. Und dafür braucht es offenbar wenig an Zutaten. Aber die meisten, die es hat wie die Musik, die Game-Landschaft und das Skript, sind erstklassig.
Das zweite Leben von „Dear Esther“
Dabei ist Dear Esther: Landmark Edition sogar ein Remake. 2008 erschien es zuerst unter dem Namen Dear Esther als herunterladbarer Half-Life 2-Mod, von dem man hier einen Eindruck bekommt. 2012 erschien es in der Neuauflage als eigenständiges Spiel, entwickelt mit der Unity Engine im frischeren Look als Landmark Edition. Manches wie die Untertitel mögen optisch noch Potential zur Verbesserung haben, aber für ein Indie-Game bietet es viel für Fans von Story-getriebenen und emotionalen Spielen. Es ist zudem das einzige Spiel, das ich kenne, bei dem es möglich ist es mit „Regiekommentar“ zu spielen. Aktiviert man die entsprechende Funktion in den Einstellungen, hört man an optisch gekennzeichneten Punkten im Spiel Kommentare von u.a. Dan Pinchbeck und Komponistin Jessica Curry, die einige Details preis geben, die mich u.a. dazu veranlasst haben das Spiel mehrmals zu spielen und noch einige Dinge zu entdecken. Durch Jessica Curry erfährt man u.a. auch was der Morse-Code im Track This Godforsaken Aerial bedeutet, den ich anfangs gar nicht als Morse wahrgenommen habe. Ein Hinweis hat gar meine Sicht auf die Dinge nochmal dramatisiert und emotional ziemlich was nachgeschoben. Ein recht cooles Feature. Das bedeutet natürlich nicht, das alle Informationen des Audiokommentars spannend sind … . Übrigens beinhaltet das Spiel an sich auch noch eine ganze Masse an Easter-Eggs.
Insgesamt hat Dear Esther vielleicht nur eine Spielzeit von zwei bis vier Stunden, je nachdem wie viel man rumläuft. Aber es hat ein gewisses Potential versteckte Trophäen freizulegen, mehr Hinweise zu entdecken und Dinge auszuprobieren, die man sich beim ersten Durchlauf nicht traute. So gibt es beispielsweise einen Abgrund im Spiel, den man hinunterspringen könnte. Das und der Fakt, dass die Narrative soviel Interpretationsspielraum offen lässt, machen es einen Tick anziehender als es die Summe der Controls und Interaktionsmöglichkeiten anfangs erscheinen lässt. Doch muss man sich fragen, ob es nicht eine Trigger-Warnung braucht? Dear Esther ist das einzige Spiel, das ich kenne, das einerseits eine Wiedergeburt erlebte und selber von Wiedergeburt handelt, wenn man es so interpretieren möchte; aber andererseits auch mit einer Trophäe belohnt, wenn man sich im Spiel umbringt und das man (mit wenig Optimismus) auch so interpretieren kann, dass der Tod der einzige Ausweg ist.
„The Road to Damascus“
Die Narrative und die Wortwahl ist natürlich eine andere. Dear Esther handelt von Trauerverarbeitung und davon wie man weitermacht, nachdem sich das Leben vollkommen verändert hat und nie wieder so sein wird wie es wahr. Möchte man es so lesen, dann handelt es von Tod. Es handelt von Verlust und Trauer. Es handelt vielleicht auch einfach nur von den unvorhersehbaren und nicht steuerbaren Aspekten des Lebens. Für den einen oder anderen handelt es vielleicht von Glaube, zumindest gibt es einige Verweise auf die Bibel (Stichwort Saulus, Damaskus) oder von Schicksal. Vor Allem handelt es eigentlich davon wie man mit dem umgeht, was passiert. Vom Prozess der Verarbeitung und sich selbst zu ändern. Wie man weitermacht. Wie man etwas anderes wird. Und wem vorher im Leben noch nie etwas passiert ist, das einen verändert hat, der bekommt in Dear Esther eine Ahnung wie sich das anfühlt. Es ist kein einfacher Weg. Aber einer, an dessen Ende Befreiung steht, für den es aber eine Menge Hoffnung und Vertrauen in eine ungewisse Zukunft erfordert. Wo es Trauer gibt, da gibt es schließlich vor Allem auch Liebe, oder nicht?
From this infection, hope. From this island, flight. From this grief, love.
Man merkt vielleicht, das ich schwer angefixt wurde von dem Spiel. Ich bin absolut kein Rewatcher und Rezocker, aber „Dear Esther“ habe ich tatsächlich drei Mal durchgespielt und danach noch einzelne Kapitel. Das einzige Spiel, dass das bisher geschafft hat ist Journey. Wer weiter diskutieren will, kann das gerne mit mir hier in den Kommentaren tun, denn das Spiel bietet sicherlich einiges an Diskussionspotential. Eine Menge an Informationen findet man übrigens auch im Dear Esther Wiki. Was ich außerdem sehr charmant finde, ist dass es mit der Unity Engine erstellt wurde, mit der ich auch mal als Studentin eine ganze Weile gearbeitet habe. Kennt ihr „Dear Esther“? Hat es euch auch so angefixt? Was sind eure Theorien und Lieblings-Deutungsmöglichkeiten? Spoiler bitte vermeiden oder kennzeichnen.
Netzgeflüster ist eine Kategorie meines Blogs in der ich mich immer zwischen dem 10. und 15. eines jedes Monats Themen aus IT, Forschung, Netzwelt und Internet widme genauso wie Spaß rund um die Arbeit mit Bits und Bytes. 🙂
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