Eine zeitlang wirkte es ja so, als ob man „Tenet“ als den Film platzieren möchte, der nach dem Lockdown die Kinos wieder öffnet. Dann verschob sich der Kinostart ja doch immer wieder. „Tenet“ wurde in den sozialen Netzen dadurch früh als der Film bezeichnet, der eben doch durch die Zeit reist – nur immer weiter nach hinten. 😉 Jetzt ist er aber da. Und ja – die Besprechung ist spoilerfrei.
Herzlichen Glückwunsch zur Rekrutierung
Die Frage ist nur: zu was? Kaum hat der von John David Washington gespielte CIA-Agent einen haarigen Einsatz und Folter überlebt, wird ihm die frohe Botschaft verkündet. Wer sein „neuer“ Auftraggeber ist, weiß er nicht. Er kennt nur ein Codewort: Tenet. Zumindest erfährt er noch, dass es eine Technologie gibt, die Inversion möglich macht und offenbar aus der Zukunft stammt. Inversion erlaubt, dass Dinge für unsere Augen „rückwärts“ laufen. Möglich ist das durch eine bestimmte Strahlung, die Objekte und Organismen invertiert. Es gibt Anlass zur Vermutung, dass in der Zukunft ein Krieg oder Ereignis stattfindet, das alle beeinflusst. Mehr noch: das die Zukunft unsere Gegenwart bekriegt. Es gilt also so schnell wie möglich soviel wie möglich über den Ursprung der Inversion herauszufinden. Dazu wird dem Protagonisten Neil (Robert Pattinson) zur Seite gestellt – die erste Spur führt von der invertierten Patrone zu Waffenhändlern.
„TENET Trailer German Deutsch (2020)“, via KinoCheck (Youtube)
Temporale Zangenoperation
Es ist schon eindrucksvoll und auf attraktive Weise schräg, wenn man sieht wie die Patronenhülse aus der Wand zurück in den Lauf der Pistole fliegt. Wenn die Pistole die invertierte Patrone fängt. Und dabei wird es nicht bleiben, es wird noch einiges invertiert in dem Film. Was in manchen Filmen und Lehrstücken über Bewegtbilder ein witziges Gimmick ist, wird hier zum zentralen Kniff. Der Protagonist und Neil versuchen nicht den nuklearen Holocaust zu verhindern, sondern den temporalen. Dabei hält sich Nolan mit Theorie nicht zurück und der Zuschauer muss die relativ schnell verstehen. Das ganze wird in ein teils militärisches, teils taktisch-politisches Sakko gekleidet und so kommt es schon mal zu fancy Wortneuschöpfungen wie der temporalen Zangenoperation. Mein neues Lieblingswort. Wenn ich mal wieder ein Meeting habe, in dem es heiß hergeht, dann packe ich das einfach mal aus und gucke was passiert.
„Mal gucken was passiert“ ist auch ein bisschen das Motto des Films. Tenet ist so schnell, dass es droht den Zuschauer zu verlieren. Ich habe mich einige Male dabei ertappt mich zu fragen: Warte, für wen arbeitet er eigentlich? Wie kam er nochmal dahin? Warum ist er nochmal dort? Moment, warum sind die jetzt nicht invertiert, sondern laufen vorwärts? Achso, weil ihre Umgebung invertiert ist, aber sie selber nicht – klar! Tenet ist damit ein fordernder Film. Vieles im ersten Drittel nimmt man hin und das funktioniert noch. Dann geht es los mit der Inversion und das zweite Drittel hängt einen irgendwie ab. Dann schlägt Nolans Genialität zu, denn er ist auch dieses Mal wieder ganz Regisseur und Autor und hat das Drehbuch selber geschrieben. Im letzten Drittel fügen sich dann alle bisher noch offenen Fragen zu einem emotional und logisch zufrieden stellenden Ende.
Besser noch: Der Film verläuft wie sein Titel Tenet (ein Palindrom) ab der Mitte nochmal zurück zum Anfang. Kein Scherz. Zusammen mit den Bildern der Inversion ist das schon ein geniales Stück Kino, das einem den Kopf noch eine Weile bis nach dem Film verdreht hat. Man kann durchaus sagen, dass Nolan wie schon zuvor bei Inception für Schauwerte gesorgt hat, die man so noch nie im Film gesehen hat. Das ist eine Meisterleistung. Allein die Actionsequenzen sind fantastisch – und handgemacht. Nolan schrottet dafür gar ein Flugzeug. Und die Kampfszenen müssen teilweise rückwärts, teilweise vorwärts choreografiert werden. Wer ein bisschen nachforscht, findet noch eine Menge Kram rings um Tenet, den man nachlesen kann – zum Beispiel das Sator Quadrat, aus dem Nolan offenbar einige der Schlüsselworte hat! 😉 Und Ideen, über die man mal philosophieren kann. Beispielsweise die: wie oft existieren der Protagonist und Neil eigentlich parallel im Lauf der Handlung? Tjahaha. Zählt mal durch. Oder versucht es mal. Der feuchte Traum Cinephiler.
Glatt, Glatter, Tenet
Aber neben den immensen Schauwerten und dem cleveren Drehbuch ist der Film nicht frei von Problemen. Was ist ein Film wert, der seine Zuschauer abhängt? Fakt ist, wenn man Kampfchoreografien auf die Mattscheibe bringt, in der ein Kontrahent vorwärts, der andere mit rückwärts gerichteten Bewegungen kämpft, dann kommt man unweigerlich nicht mehr 100% mit. Die menschliche, vorwärtsgerichtet-gewöhnte Wahrnehmung kann nicht all das erfassen, was hier minutiös geplant wurde. Visuell atemberaubend, aber doch over-the-top. Vielleicht geben deswegen soviele Charaktere im Film den Hinweis, dass man die Inversion nicht zerdenken, sondern intuitiv fühlen soll, naja. Schon wieder cooler ist wie Christopher Nolan einen Zeitreisefilm gedreht hat, der sich mal angenehm anders anfühlt als andere Stoffe des Subgenres und eine ganz eigene Herangehensweise hat.
„TENET- Behind the Scenes Exclusive“, via Warner Bros. Pictures (Youtube)
Von der Atmosphäre her und wenn man den Sci-Fi-Aspekt weglässt, hat Christopher Nolan sich wie noch nie zuvor um den Posten als Regisseur eines James-Bond-Streifens beworben und sowohl John David Washington als auch Robert Pattinson spielen so routiniert, snobistisch, smooth, cool, dass man denken könnte wir sind schon in einem James-Bond-Film. Stellenweise kann der Film einen da aber auch emotional abhängen. Er ist recht elitär. Wir bewegen uns hier in einem Milieu, das auf Yachten Urlaub macht und Pläne schmiedet, die Welt ins Verderben zu stürzen. Hier geht es um steuerfreie Zonen, teure Gemälde und Kopien dessen, um superteure Anzüge und Restaurants. Die werfen hier wortwörtlich mit Goldbarren um sich. 😉 Und alles ist so unglaublich geplant. Pattinsons Charakter Neil lässt dann zum passenden Zeitpunkt noch fallen, dass er einen Master in Physik hat und redet vom Großvater-Paradox, genau dann als wir gerade Einspruch erheben wollten, dass das doch gar keinen Sinn macht mit „Die Zukunft bekämpft die Gegenwart“ – aber da haben wir gar keine Chance, die sind uns halt voraus. Hier wird geklotzt, nicht gekleckert. Die erste Stunde ein schöner Eskapismus, aber dann irgendwann ist alles zu glatt und zuviel.
Genial, meta, zuviel
Nolan hat mit seinen genialen Drehbuch und den fantastischen Actionsequenzen zuviel gewollt. Schon die Hälfte hätte einen spannenden und eindrucksvollen Film ausgemacht. Es gibt viele lose Enden und Formeln, die zu kurz kommen und deswegen nicht aufgehen. So hat Nolan, vielleicht im Bemühen auch mal die ständige Kritik um den Mangel an anspruchsvollen Frauenfiguren in seinen Filmen zu beheben,eine Nebenstory um Kat (Elizabeth Debicki) eingefügt. Sie ist die Frau des großen, bösen Antagonisten Andrei Sator (Kenneth Branagh) und rückt nur vorrangig deswegen in die Wahrnehmung unserer Agenten bis die Sache persönlicher wird. Dabei geht es auch um ein gefälschtes Gemälde, das aber neben der wirklich hervorragenden Show Kenneth Branaghs als böses Mastermind in den Hintergrund gerät. Das alles bläht den Film aber stark auf. Und neben all den starken, glatten, superbösen oder supergerechten männlichen Hauptcharakteren, geht auch hier die weibliche Protagonisten wieder unter und bekommt stattdessen vorher sogar noch richtig eine gewatscht, weil sie ja bisher nie hinterfragt hat, was für ein Arsch ihr Mann eigentlich ist. Nolan hat kein Talent als Autor von Frauenrollen, sorry.
Auch die ganzen physikalischen Implikationen der Inversion (Wärmelehre, Atmen „invertierter Luft“ = ausgeatmeter Luft, hola!) werden kurz erklärt bevor die Action weitergeht und sind danach kaum noch Thema. Der Pool an Implikationen ist eigentlich enorm. Das volle Potential des Gedankenspiels kann gar nicht ausgeschöpft werden, obwohl der Film schon zweieinhalb Stunden lang ist. Schade. Summa summarum ist Tenet ein unglaublich durchdachter Film, der uns kitzelt und fordert und gerade deswegen unwiderstehlich ist. Ich kam aus dem Kino und war gehypt. Ich kam aber auch aus dem Kino und dachte: warum den Zuschauer mit der Geschwindigkeit durch soviel Ideen und soviel Storyline schicken?
Seine Hauptcharaktere, seine Theorie, seine Actionsquenzen und visuellen Schauwerte sind allererste Sahne. Aber der Film ist zu überfrachtet mit Ideen und Details, die dem Zuschauer die Freiheit rauben nachzudenken, wahrzunehmen und alles zu entdecken. Man entdeckt vielleicht nicht mal alle Gimmicks. So fiel mir erst gegen Ende des Films auf: hey, wie ist eigentlich der Name des Protagonisten? Genau das ist das Gimmick, das seit Anfang des Films vorbereitet wurde – seine Rolle heißt Protagonist. Vorher wird ihm wortwörtlich mehrmals erklärt, dass er eine Randfigur ist. Tja, falsch gedacht. Schön meta. Aber man hat kaum Zeit das zu schätzen.
Tenet, USA, 2020, Christopher Nolan, 150 min, (7/10)
Was nur sieben Sterne? Bevor jetzt wieder alle fragen, warum ich den Film zerreiße – ich lege ja sehr ausführlich dar, was ich daran gut und was weniger gelungen finde. Sieben von zehn ist mehr als die Hälfte. Wenn 10 ein filmisches Meisterwerk ist, dann ist sieben „gut bis sehr gut“. Und genauso sehe ich „Tenet“. Seit „Tenet“ habe ich nun übrigens etwas Angst davor, was passiert, wenn Christopher Nolan die Rekursion entdeckt! 😉 Das wird ein Spaß. Die fast philosophische Frage „Ist ein genialer Film gut, wenn er den Zuschauer abhängt“ möchte ich mal zur Diskussion stellen. Dabei unterstelle ich natürlich niemanden, dass er den Film nicht kapiert hätte. Aber Hand auf’s Herz: es ist gerade bei manchen teils invertierten/teils vorwärtslaufenden Sequenzen nicht möglich jedes Detail zu erfassen oder einfach nur wahrzunehmen, oder seht ihr das anders? Und an der Stelle frage ich mich eben: ist das so gut, dass es schon wieder schlecht ist? Wie bewertet ihr das? Derweil spekuliere ich über die Sequels, die wohl eher sowas wie Prequels sind – LOL. Denn der Film deutet sehr direkt an, dass da noch was kommen kann. Sollte. Wird. Oder schon ist!?
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