ausgelesen: André Aciman „Call Me by Your Name“

Alle, die ihn gesehen haben lieben den Film Call Me by Your Name. (Oder?) Ich auch. Aber am Anfang sprang die Chemie zwischen Elio und Oliver nicht so ganz auf mich über. Was in den Köpfen der beiden vorging, erschloss sich mir nicht. Da war diese Ahnung „vielleicht erzählt das Buch das anders“. („Besser?“) Deswegen ist das nun einer der seltene Fälle, dass ich nach dem Schauen des Films eben doch seine Literaturvorlage lese. Und weil mir Call Me by Your Name mit Italien als primärem Handlungsort als perfekte Urlaubslektüre und Eskapismus erschien. In diesem Jahr vielleicht noch mehr als in allen anderen.

Der Erzähler Elio erinnert sich zurück an die 1980er Jahre. Genauer gesagt als er 17 Jahre alt war und wie jedes Jahr den Sommer auf dem Landsitz seiner Familie in Italien verbrachte. Sein Vater ist Literaturprofessor und lädt jedes Jahr einen Doktoranden ein, um mit ihm zusammenzuarbeiten und zu wohnen. In diesem Jahr traf es den 24-jährigen Oliver. Er sieht aus wie ein Hollywoodstar mit seinen blonden Haaren und der braungebrannten Haut. Seine übermäßig lässige Attitüde trägt dazu bei, dass er den Spitznamen „Moviestar“ bekommt. Aber er ist auch tatsächlich charmant und schnell bei allen gern gesehen. Elio ist anfangs davon verwundert, sieht das auch mit etwas Zynismus, ertappt sich aber dabei wie auch er dem „Moviestar“ gefallen will. Als beide auch intellektuell auf einer Ebene liegen und sich über Literatur und Musik austauschen können, verliebt sich Elio in den Gast. Der Beginn einer verzweifelten Liebe, in der sich Elio nach dem anderen verzehrt und das dem Leser förmlich greifbar werden lässt wie verzweifelt er sich wünscht, dass seine Gefühle erwidert werden.

„Today, the pain, the stoking, the thrill of someone new, the promise of so much bliss hovering a fingertip away, […] – all these started the summer Oliver came into our house. They are embossed on every song that was a hit that summer, in every novel I read during and after his stay, on anything from the smell of rosemary on hot days to the frantic rattle of the cicadas in the afternon – smells and sound I’d grown up with and known every year of my life until then but that had suddenly turned on me and acquained an inflection forever colored by the events of that summer.“ p.10

André Aciman schreibt mit allen Sinnen. Man kann förmlich das Surren der Insekten hören, die Wärme auf der Haut fühlen und vor Allem das Verlangen, die Verzweiflung und Anspannung, die Elio empfindet bei dem Gedanken, dass Oliver nur ein Zimmer weiter schläft, läuft, atmet. Zum Greifen nah. Abgesehen von dem Anhimmeln einer Person, den Erwartungen, Hoffnungen und Zweifeln, die mit dem Verliebtsein einhergehen; ist das Buch aber auch ein körperliches, leidenschaftliches und damit erotisches. Alles davon könnte schnell in Kitsch und eine Gay-Groschen-Novel abdriften, aber es ist auf eine so sinnliche Wiese und so smart und clever geschrieben, dass sich der Vergleich nicht ansatzweise stellt. Jeder der mal geliebt hat, wird das Verlangen und verzweifelte, die Höhen und Tiefen des Verliebtseins in Elios Tour-de-Force wiedererkennen.

So – war es nun das perfekte Sommerbuch? Und gab es mehr Einblick in die Gedanken der Charaktere, insbesondere Elios? Check und check. Das liegt wohl auch in der Natur der Dinge, da das Buch aus der Perspektive Elios geschrieben ist. Natürlich hat der Film wiederum andere Qualitäten. Auffällig ist, dass man die Bedeutung einiger Details aus dem Film wiedererkennt und erst durch das Buch versteht wie gravierend diese Details sind. Beispielsweise die Bedeutung und v.A. Transformation der Bedeutung von Olivers Erkennungszeile „Later.“ Oder auch die Bedeutung griechischer Literatur, Philosophie und des verhängsnisvollen Pfirsichs. Als kleine Auffrischung kann ich diesen Artikel auf headstuff.org empfehlen. Witzigerweise wird übrigens das englische Hörbuch von Armie Hammer gelesen, der in der Verfilmung eigentlich den Oliver spielt. Ein nicht unwesentlicher Bestandteil, der zu der Spannung und kniffligen Situation Elios beiträgt, ist das Ablaufdatum, die sichere Abreise Olivers. Erst die Gewissheit eines Endes und die Unsicherheit macht vieles im Leben kostbar – ja das Leben selber. Aber eine Sommerliebe oder Aussicht darauf noch anziehender? Allerdings gibt es auch ein paar Aspekte in punkto Endlichkeit, die mir zu Denken geben.

Was mir schon beim Film, aber auch hier zu denken gibt ist die Frage nach dem Coming-out. Es scheint von vornherein ausgeschlossen für Elio oder Oliver zu sein offen homo- oder bisexuell zu leben. Oder ist das nur meine Interpretation und ein Schubladendenken, über das sie in Wirklichkeit erhaben sind? Ich lege diverse Zeilen so aus, dass sowohl Elio und Oliver das ausschließen. In Anbetracht der Zeit? Ihrer Karrieren? Ihrer Religion? Warum ist das für Elio ein Problem, wo seine Eltern doch offenbar sehr „dezente Juden“ sind wie auch im Buch mehrmals erwähnt wird!? Einerseits schön, weil so geht es um die Liebe. Andererseits unbefriedigend, weil doch recht bald klar ist, dass das eine große Liebe ist. Ein Once-in-a-lifetime. Und noch unverständlicher, wenn doch klar ist, dass es im Kanon des Buchs schwule Paare gibt und diese mehr oder weniger akzeptiert werden.

Auch die Reaktion Elios und seines Vaters ist verhalten als sie ein offenkundig schwules Paar besucht. Stattdessen werden sie als klischeehaftes Paar belächelt. Die Gründe für Elios und Olivers Entscheidungen haben viele potentielle Erklärungen. Berufliche, gesellschaftliche Gründe? Oder sind sie schlichtweg nicht mutig genug in Anbetracht der damaligen Zeit? Die naheliegende ist aber vielleicht, dass das Buch einfach nicht davon handelt. Dass es keine große Parabel über die böse, engstirnige Gesellschaft ist, sondern eben über eine Liebe. Eine, die alles verändert hat. Punkt. Und es ist unglaublich gut und treffsicher wie Aciman sie festgehalten hat. Tatsächlich fällt es mir auch schwer zu glauben, dass die Fortsetzung Find Me ansatzweise mithalten kann ohne dabei in das unangenehme Muster zu verfallen den Lesern einen Wunsch zu erfüllen oder schlichtweg „nur“ einen Fandom oder „Trend“ zu bedienen. Vielleicht hat die ja aber der eine oder die andere von euch schon gelesen?

„How you live your life is you business. But remember, our hearts and our bodies are given to us only once. Most of us can’t help but live as though we’ve got two lives to live, one is the mockup, the other the finished version, and then there are all those versions in between. But there’s only one, and before you know it, your heart is worn out […].“ p.225

Fazit

Großartiges Buch über Liebe und Verlangen

Besprochene Ausgabe: ISBN 9781786495259, Atlantic Books

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

8 Antworten

  1. Avatar von voidpointer
    voidpointer

    Uii, das hast Du aber schön geschrieben. Ich kenne nur den Film. Das letzte Zitat hat es aber in sich.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Oh dankeschön, das freut mich zu hören.
      Jaaa das Zitat, ne? Das hat mich auch ganz schön umgehauen. Im Film kommt das Zitat auch vor – hab neulich verglichen und danach nochmal den Film geschaut. 🙂 Aber da ist es wohl etwas untergegangen. Konnte mich noch an die Szene und die Quintessenz erinnern, aber nicht mehr an den Wortlaut. Wirklich ein tolles Buch.

  2. Avatar von donpozuelo
    donpozuelo

    Ich habe den Film gesehen und liebe ihn nicht

    So wie du das hier schreibst, sollte ich vielleicht auch eher das Buch lesen. Den Film fand ich nur von der Atmosphäre und diesem Urlaubsfeeling her toll. Sonst konnte er mich nicht so für sich gewinnen

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ah ^^“ Kannst du sagen, woran es lag?
      Vielleicht wäre es dann mit dem Buch tatsächlich anders!?. Mir hat es beim Film sehr gefehlt mitzubekommen, ob Elio Oliver nun hasst oder liebt oder langsam beginnt sich zu verlieben – das war etwas kryptisch. Von seiner Außenwirkung her, hätte es auch eine Hassliebe sein können, während er im Buch nun ja, klarer positioniert ist. Es ist ja aus seiner Perspektive geschrieben. Dafür macht das Buch mehr ein Geheimnis daraus, warum ihre Beziehung „unmöglich“ ist, wo der Film sich etwas klarer positioniert.

      1. Avatar von donpozuelo
        donpozuelo

        Die Atmosphäre im Film war toll. Das war ein Italien-Urlaub, der wunderbar war. Für mich fehlte ein wenig die Emotionalität zwischen den beiden. Deren „Liebe“ kam für mich so ein wenig aus dem Nichts und hat mich alten Filmromantiker nicht so wirklich packen können. Das wirkte mir teilweise zu aufgesetzt

        1. Avatar von Miss Booleana
          Miss Booleana

          Das ging mir aber beim Film auch so! Steht auch so ähnlich in meiner Besprechung von damals. Vielleicht doch das Buch lesen 😉

          1. Avatar von donpozuelo
            donpozuelo

            Vielleicht

  3. […] Buch ist auch eines, das den Sommer channelt und das Blut in Wallung bringt: André Acimans Call me by your name. Langläufig auch durch die oscarprämierte Filmadaption bekannt, macht das Buch die Chemie […]

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