ausgelesen: Brian K. Vaughan, Cliff Chiang, Matt Wilson „Paper Girls“

Stony Stream, Cleveland; irgendwann in den 80er Jahren: die 12-jährigen Mädchen Erin, Mac(Kenzie), KJ und Tiffany sind Paper Girls und während sich andere Teenager von Trick’n’Treet erholen, stehen sie am Morgen nach Halloween früh auf und tragen aus. Da typischerweise nach Halloween immer noch ein paar überdrehte, kostümierte Spaßvögel unterwegs sind, beschließen sie ihre Routen zusammen abzufahren. Erin ist „die Neue“, während sich die anderen bereits kennen. Darunter die vorlaute, rauchende Mac; die in Games vernarrte Tiffany und KJ, die sich vielleicht(?) noch nicht bewusst ist, dass sie in Mac verschossen ist. Irgendwann im Laufe des Morgens gibt es einen seltsamen Knall, der Himmel zeigt ungewöhnliche Sternbilder, Flugsaurier landen um sie herum und sie begegnen humanoiden Kreaturen, die in einer fremden Sprache sprechen. Noch wissen es die Paper Girls nicht, aber sie sind inmitten des Krieges zwischen unterschiedlich gesinnten Zeitreisenden gelandet.

Generationskonflikt(e)

Der Comic Paper Girls startete 2015 und wurde 2019 zum Abschluss geführt. Die Reihe umfasst 30 Ausgaben, die in Deutschland verteilt auf 6 Sammelbände erschienen. Geschrieben wurde die Reihe von Brian K. Vaughan, gezeichnet von Cliff Chiang und von Matt Wilson koloriert. Noch bevor Stranger Things ab 2016 auf heimischen Mattscheiben mit Nostalgie-Faktor Geschichten über Freundschaft und Monster erzählte, machte das Autorengespann eine Gruppe Mädels zu Heldinnen, wo gefühlt vorher nur Jungs waren (so auch vorrangig in Stranger Things, Eleven habe ich natürlich nicht vergessen). Ein weiterer Teil der Erfolgsformel, die sie sich teilen ist das angenehme Genre-Mittelding aus Mystery, Science-Fiction und Coming-of-Age. Und gerade das treibt Brian K. Vaughan auf die Spitze, indem er die Mädchen von einer Ära in die nächste stolpern lässt. Die ungewollten Zeitreisen lassen sie teilweise ihre späteren Ichs begegnen und ihre Lebensentscheidungen hinterfragen.

Insofern hat Paper Girls also nicht nur einen, sondern zwei Generationskonflikte zu bieten. Einerseits werden die Mädchen zum Spielball des Kriegs zwischen Zeitreisenden, die sich passenderweise Oldtimer und (in Ermangelung eines offiziellen Namens) Teenager nennen. Man gestatte mir an der Stelle ein herzhaftes LOL. Zwar ist der Konflikt in den die Mädchen geraten alles andere als lustig und sie springen dem Tod mehr als ein Mal von der Schippe, aber der Krieg ist eine fantastische Metapher auf das Erwachsenwerden und den Clash zwischen Generationen und ihren Werten. Wer kennt nicht das Seufzen der Eltern „Also früher hätte es sowas nicht gegeben“ oder den Satz „Also zu meiner Zeit“. Und genauso wenig wie wir manchmal die „Oldtimer“ verstehen, werden unsere Nachfahren mal über unsere Ansichten die Augenbrauen heben und die Nase rümpfen. Nur wird hier die Metapher auf die Spitze getrieben, wenn sich die Fraktionen mit Riesenrobotern und Monsterwürmern bekriegen oder riskieren, dass durch ihr massives Timey-Wimey-Zeitreise-Geschwurbel die Welt untergeht.

Zur bewährten Formel des Stoffs gehört natürlich auch, dass die Mädchen während all der Abenteuer zusammenwachsen und ihre Freundschaft ihr höchstes Gut wird. Zudem wachsen sie an den Entscheidungen und Ängsten, die sie ausstehen müssen. Einige von ihnen stellen sich bereits sich selbst, andere v.A. durch die Konfrontation mit ihren zukünftigen Ichs und dem Ausblick auf ihr künftiges Leben. Was zur Hölle hat mich dazu gebracht Wirtschaft zu studieren? Warum habe ich mich von meiner Familie entzweit? Warum habe ich nichts anderes mit meinem Leben angefangen? So wird der Generationskonflikt auch mit sich selbst ausgetragen und entlarvt ihre Motivationen und inneren Konflikte. Warum lasse ich mich von Games einlullen, die über meine familiären Konflikte hinwegtäuschen? Warum habe ich mich nie meinen Ängsten gestellt? Was ist eigentlich so „schlimm daran“, wenn sich zwei Mädchen küssen? (Natürlich überhaupt nichts!) In Kombination mit der ständigen Bedrohung: Erwachsenwerden auf die harte Tour.

„Regel Nummer 3: Ein Zeitungsjunge hält sich an seine Route. Vom Anfang bis zum Ende.“

Paper Girls ist stilistisch großartig. Zwar reift der Zeichenstil im Laufe der Reihe noch und wird weniger chaotisch, stattdessen feingliedriger. Eine großartige Konstante und Aushängeschild des Comics ist die stets auf einige Farben beschränkte, stimmungsvolle Farbpalette der einzelnen Kapitel. Ein heimliches Stilmittel sind natürlich auch die 80ies Vibes im Gegensatz zu den wirklich sehr coolen und abwechslungsreichen Zukunftsvisionen. Lediglich das Apple-Product-Placement hätte nicht sein müssen. Das aber wohl größte Plus ist wie dem Paper Boy hier die Paper Girls entgegen gesetzt werden und die Landschaft von Teenager-Mystery-SciFi-Popkultur um mehr Diversität bereichert wird. Und nicht nur das! Vom ersten Band an erfährt auch die LGTBQ+ Community Repräsentation. Paper Girls gelingt damit ein längst überfälliger Rundumschlag in punkto Inklusion, den ich wohl am allermeisten an der Reihe feiere. Dass Paper Girls auch als Serie umgesetzt werden soll (Quelle: Deadline, 07-2019), kann ich mir entsprechend gut vorstellen, fürchte aber die halbgaren Vergleiche zu Stranger Things.

Was in Paper Girls etwas krankt ist die Auflösung des Konflikts und Logik. Einerseits macht das Erzähltempo und die aberwitzige Aneinanderreihung von Superlativen (Riesenwürmer! Riesenroboter! Flugsaurier! Zeppeline! KIs! Zeitreise! Zeitreise-Schrott!?) die Reihe zu einem bunten, spannenden Trip, andererseits verliert man sehr schnell den Überblick, wer jetzt eigentlich zu welcher Fraktion gehört. Kleine, spannende Details wie das Verbreiten von Nachrichten mittels Comic Strips werden nur relativ kurz erwähnt. Bände 1-4 sind so mit Details und neuen Situationen vollgestopft, dass ich konsequent Antworten vermisst habe. Die kommen dann ab Band 5. Wer wie ich die Bände mit zeitlichen Abständen liest, wird sich zwangsläufig gar nicht mehr versuchen zu fragen, ob jetzt wirklich alles sinnvoll aufgelöst wurde, sondern eher in einem Modus des „akzeptierens“ verfallen.

Die Recherche (oder das Mehrmals-lesen) zeigt, dass auch tatsächlich nicht alles 100% aufgelöst wurde (Stichwort „Editrixes“), aber im Großen und Ganzen funktioniert es. Das konfuse entsteht leider oftmals, wenn man das Mysterium immer größer und tiefer anlegt und dabei den Leser schnell verlieren kann. Es hilft die Fraktionen „high-level“ zu betrachten. Trotz des vielen „Babbles“ und Overheads an Motiven ist Paper Girls ein cooler Gegenentwurf zu einseitig besetzten Heldengeschichten und begeistert mit Diversität, dem trockenen Humor der Mädchen und einem zumindest sehr spannenden, wenn auch künstlich wilden Ritt durch die Jahrhunderte.

Fazit

Sehr coole, diverse Reihe, mit der man am besten lebt, wenn man sie direkt hintereinander liest um alle Zusammenhänge zu verstehen oder indem man bereit ist das eine oder andere nicht verstehen zu müssen.

Meine Besprechungen zu den einzelnen Bänden: 1-2, 3, 4

Besprochene Ausgaben: aus dem Cross Cult Verlag

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

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