Es fällt mir überraschend schwer in Worte zu fassen, was der letzte Evangelion-Film in mir ausgelöst hat und was für eine Bedeutung er hat. Als Teenager war „Evangelion“ für mich wohl das was man als „Wirkungstreffer“ bezeichnen kann. Es ist ein Anime, der zeigt wie stark Fiktion sein kann, zeitgleich wieviel Verständnis es für das „Mensch sein“ hat. In mehreren Phasen meines Lebens gab es Charaktere in Evangelion, mit denen ich mich identifizieren konnte. Nebenbei war die Mythologie interessant, die technischen Details unheimlich spannend und so detailiert umgesetzt. „Evangelion“ teilte sich lange den Platz meiner Lieblingsanime und -serien im Allgemeinen mit „Cowboy Bebop“. Zeitgleich habe ich wie viele Fans geflucht, wann denn nun endlich der letzte Rebuild-Film kommt oder ob dieses Ende sein musste oder warum Hideaki Anno und Team dieses oder jenes getan hat!? Und jetzt ist es da. Das wirkliche Ende von „Evangelion“. Die Besprechung ist so spoilerfrei wie möglich.
Wenn ein Mecha einen Engel mit dem Eifelturm verprügelt, …
… kann das nur Evangelion sein. Ist es eine kleine Verbeugung vor den Fans Evangelions überall auf der Welt? Spielt deswegen die Eröffnungssequenz in Paris? Während WILLE um Misato, Ritsuko und Maya in Paris versucht verbliebene EVA-Ersatzteile von EURO-NERV zu „bergen“, wandern Asuka, Rei und Shinji ziellos durch das verwüstete Neo-Tokyo und Umgebung. Das Ziel kennt nur Asuka. Shinji sackt mehrmals traumatisiert in sich zusammen und Rei wartet auf „Anweisungen“, denn das ist alles, was man ihr beigebracht hat. Sie kommen letzten Endes in einem Dorf Überlebender des Near Third Impact an, indem die drei Pilot*innen einige bekannte Gesichter wiedersehen.
„EVANGELION: 3.0+1.01 THRICE UPON A TIME – Official Trailer | Prime Video“, via Amazon Prime Video (Youtube)
Was danach folgt ist Läuterung, Rührung und sogar Comic Relief. Wenn Rei, die nie wirklich unter Menschen gelebt hat, mit den „Basics“ des Lebens konfrontiert wird („Was ist Arbeit?“), macht das Spaß und berührt gleichermaßen. Umso mehr als sich die Frage stellt: wie geht es weiter für sie? Es passiert selten, dass man mittendrin im Film weint, statt am Ende. Dieses Mal hatte ich Anlass. Shinji hingegen ist von Selbstmitleid und Thanos (Todestrieb) zerfressen. Er hat mit Kaworu wieder eine Person verloren, die ihm viel bedeutet und bedauert, dass er die Fehler der Vergangenheit wiederholt hat. Dass sich Menschen wie Asuka (trotz ihrer Schroffheit), Rei oder die Dorfbewohner um ihn kümmern, hält er für unverdient. Es ist ja nicht, dass ihn niemand gewarnt hätte und gesagt hätte, dass er nicht wieder in einen EVA steigen soll. Irgendwie schafft er es aber aus der Stasis als er hört, dass sein Vater noch einen weiteren Versuch unternimmt den Plan zur Vollendung der Menschheit durchzusetzen und erneut EVA Einheit-13 startet. Shinji zieht daraus seine Schlüsse was zutun ist.
Jetzt auch mit „meta“
Selten haben Brüche in einer Filmreihe so gut funktioniert. Trotz des Ausfluges aufs Land, wo sich ein Rest überlebender über Wasser hält und versucht aus dem Nichts eine Zivilisation aufzubauen, findet der Film wieder zu Kämpfen und dem Punkt wo es psychedelisch und schwer durchschaubar wird. In diesem Tal, in das Evangelion früher oder später immer hinabsteigt, kann man als Zuschauende*r nur „akzeptieren“ und zwischen den Zeilen lesen was passiert. Mit etwas mehr Serienwissen klappt’s vielleicht auch besser mit dem Verstehen. Dass Evangelion aber so gut mit Comic Relief und heilsamer Konfrontation mit lieben Gesichtern der Vergangenheit Shinjis aufräumt: chapeau. Was ab hier folgt sind etliche Verbeugungen vor der Serie, vor ihren Charakteren und deren langer Reise. Fast jede neue Erkenntnis kommt einem wie ein Geschenk vor. Manche Sätze scheinen gar nur für uns eingebaut zu sein. Wenn zum Beispiel Gendou Ikari sagt, dass er Kinder noch nie leiden konnte. Aha!? Ja, wir hatten so eine Ahnung, wenn ich mal für die überwiegende Zahl der Zuschauenden sprechen darf. 😉
All diese Referenzen sorgen natürlich viel weitere Rührung und Aha-Effekte. So wird was einige Schlüsselmomente der Serie und Filme betrifft der Spieß umgedreht. Es gib ein lange erwartetes klärendes Gespräch zwischen Shinji und seinem Vater. Währenddessen ist es dann plötzlich Gendou, der auf der Therapiebank im Zugabteil Platz nehmen darf und uns erklärt wie er dahinkam, wo sie jetzt alle sind. Auch die Rolle Kaworus wird transparenter, tragischer und rührender. Zeitgleich räumt er mit dem seit dem ersten Film angedeuteten Theorie auf, dass sich die Geschichte wiederholt. Dass es bereits etliche Iterationen aus Shinjis gab, die in den Roboter steigen und damit hadern. Und mit sich hadern. Und Kaworus, die versucht haben ihm zu helfen. Jeder bekommt nochmal seine 15 Minuten Ruhm. Asuka bekommt eine durchaus andere Storyline als in der Serie. Aber sie alle dürfen dieses Mal wachsen, sich verändern und es dieses Mal (vielleicht) besser machen. In vielerlei Hinsicht dreht Evangelion: 3.0+1.0 Thrice Upon a Time den Spieß verglichen zu End of Evangelion oder der Serie um. Meisterhaft ist wie der Film am Ende Filmsets referenziert, sich vor Kaiju-Klassikern verneigt, in Key Frames und Storyboards zerfällt. Bis zum Ende.
Goodbye, Evangelion!
Der letzte Rebuild-Film lässt Fans mit einem Gefühl zwischen Wehmut und Euphorie zurück. Wer das Franchise 26 Jahre verfolgt hat, schaut nun nach den vergangenen neun Jahren Wartezeit auf einen Status Quo, den man nur als berührend bezeichnen kann. Ohne zuviel verraten zu wollen ist Evangelion erwachsen geworden. Die Serie handelte von Teenage Angst. Von Verwundbarkeit und Zurückgezogenheit. Davon, dass die eigenen Wünsche aus purem Eigensinn und Eigennutz über das Wohl der Mitmenschen gestellt werden. Es schien ein Gefühl zu sein, dass die Schöpfer des Franchise nur zu gut kannten. Wo sind wir 2021? An einem Punkt, an dem wir abschließen können. Und das nicht nur mit der Rebuild-Filmreihe, sondern sogar mit der Serie. Evangelion: 3.0+1.0 Thrice Upon a Time erklärt die „Neon Genesis“ – 26 Jahre nachdem die Serie erschien. Und bringt das, was dort angefangen wurde zum Abschluss. Ich hatte nicht gedacht, dass das gelingen kann.
Kann all das aber auch gleichermaßen verstanden werden, wenn man nicht bereits seit 26 Jahren über Evangelion brütet? Animeserien, Manga und diverse Filme verfolgt hat? Eine Weile den Gehirnschmalz bemüht hat um alle Zusammenhänge zu verstehen? Vielleicht. Aber es kann sicherlich nicht gleichermaßen gefühlt werden. Wie bewertet man das? In diesem Fall mit der Höchstwertung. Zwischenzeitlich wollte ich wegen des ständigen offensiven Fanservice, der kaum nachvollziehbaren Kämpfe und des Fancy-Buzzword-Dropping („Das ist das Anti-Universe! Das ist der Golgotha-Apparat! TYP ERLÖSER!“) Abzug geben. Aber andererseits ist Evangelion: 3.0+1.0 Thrice Upon a Time zu einem großen Teil meta. Es referenziert sich selbst und löst all seine gestreuten Fäden auf. Und wofür Evangelion von Anfang an steht ist eben all das. Ja, auch mit seinem Buzzword Bingo und seinen Fanservice. All das kann aber nicht schmälern was für eine Genugtuung es ist zu sehen, dass Evangelion schlussendlich wachsen durfte. Das Ende ist optimistisch. Ich hätte mir keinen besseren Abschluss vorstellen können.
Evangelion: 3.0+1.0 Thrice Upon a Time (OT: シン・エヴァンゲリオン劇場版: „Shin Evangerion Gekijōban:“), Japan, 2021, Hideaki Anno/Kazuya Tsurumaki/Katsuichi Nakayama/Mahiro Maeda, 156 min, (10/10)
„【MAD / AMV】 One Last Kiss / エヴァンゲリオン【改・2.0】“, via テイク / take (Youtube)
Mehr zu Evangelion hier im Blog:
Besprechung der ersten drei Rebuild-Filme
Besprechung der Serie
Mehr Futter für die Evangelion-Obsession
Kann man das Gewicht dieses Films fassen, wenn man gerade erst die Rebuild-Filme geschaut hat? wirklich: ich bin mir darüber absolut uneins und auf eure Meinung gespannt. Natürlich gibt es reichlich Logiklücken. Warum beispielsweise die EVAs nach hinten raus so lange auf Batterie laufen können. Waren das nicht typischerweise 5 Minuten? 😉 Da sind wir wohl drüber. Aber irgendwie ist mir das dieses eine Mal … herzlich egal. Es ist eine große Genugtuung zu was für einem Schluss und v.A. Rundumschlag über alle Filme und die Serie hinweg Evangelion zu einem Ende findet, das nichts ignoriert und zeigt wie gut es sich im Kern verstanden hat. Die Produktionsgeschichte und Gefühlsleben des Schöpfers Hideaki Anno gibt ja nochmal ein eigenes Buch her. „Evangelion“ hat ihn im Laufe des letzten Viertel-Jahrhunderts einige Male in die Krise gestürzt. Ob das jetzt der lang ersehnte Abschluss und die Aussöhnung ist? Ich meine eine entsprechende Note aus dem Ende herauszulesen. Wie hat euch der Film gefallen und was bedeutet „Evangelion“ für euch?
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