Review: Paul Gravett „Manga – Sechzig Jahre japanische Comics“

Ich habe schon ziemlich lange keine Buchreview außerhalb meiner Kategorie ausgelesen geschrieben, die monatlich im Blog erscheint. Aber Ende des vergangenen Jahres habe ich sehr viel gelesen und das will euch nicht monatelange vorenthalten. Insbesondere, wenn mich das Buch so begeistert hat wie dieses Fachbuch über die Entwicklung der Mangas. Anstatt der üblichen Kategorien Manga Manie, The Anime Diversity oder Wunderbarer Webcomic gibts deswegen heute außer der Reihe eine Buchreview.

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Paul Gravetts 176 Seiten starkes Buch aus dem Jahr 2004 konzentriert sich auf die Entwicklung des Manga und schließt dabei historische und gesellschaftliche Umbrüche mit ein. In 10 Kapiteln plus Einleitung werden verschiedene Entwicklungsstufen, bedeutende Persönlichkeiten und zahlreiche Beispiele anhand von vollständigen Mangaseiten aufgezeigt. Inzwischen hat Manga zwar eine über siebzigjährige Geschichte, das tut dem Buch aber keinen Abbruch. Gravett beginnt mit dem Aufkommen des Manga nach dem 2. Weltkrieg. Die amerikanischen Besatzer brachten Comichefte mit – eine gelungene Abwechslung zum Nachkriegsalltag und der Orientierungslosigkeit in diesen Zeiten. Verlage griffen das Modell auf, brachten billiger produzierte, aber dickere Bände raus. Das heißt: dünnes Papier und lediglich einfarbiger Druck, aber mehr Inhalt. Insbesondere die Schwarz/Weiß-Abbildung ist bis heute geblieben, genauso wie der Hang zu Sammelbänden, auch wenn es heute eher Manga-Magazine sind, die auf eine beachtliche Seitenzahl kommen. Dazwischen liegt aber eine lange Geschichte. Wer hätte gedacht, dass Manga lange Zeit speziell für den Verleihmarkt der Bibliotheken gedruckt wurden? Eine Erfolgswelle schwappte los. Künstler wie Osamu Tezuka blieben hartnäckig, wurden veröffentlicht, plötzlich bekannt und oft kopiert. Gravetts Buch verfolgt den Weg des Manga über Inakzeptanz zu Akzeptanz, über Diversität bis hin zum Aufkommen von Sportmanga, populären anderen Genres, der Welle an Mangazeichnerinnen bis hin zu internationaler Bekanntheit des Manga. Im letzten Kapitel wird selbst europäischen oder amerikanischen Mangas und Manga-Magazinen Platz eingeräumt. Es wird praktisch kein Kapitel der Geschichte ausgelassen und für alles ein Platz gefunden. Genauso auch für die gängigen Vorurteile, erotische Manga und den Zusammenhang zwischen Manga- und Animeindustrie.

Jedes der zehn Kapitel beginnt mit einem informativen und mit Quellen untermauerten Sachtext, der mit zahlreichen Beispielen und Bildern versehen ist. Die Künstler und ihre Werke oder allgemein Beispiele für das Thema des Kapitels befinden sich auf den Folgeseiten des Sachtexts. Darunter: ganze Mangaseiten und zahlreiche Illustrationen. Dabei beschäftigt sich ein Kapitel mit dem Manga no Kamisama (dem Manga-Gott) Osamu Tezuka. Fun-Fact am Rande: selbst Google schlägt direkt Osamu Tezuka vor, wenn man nach Manga no Kamisama sucht. Der gelernte Arzt hat praktisch den Manga wie wir ihn heute kennen maßgeblich geprägt und durch seine Beharrlichkeit dem Medium zu einem enormen Aufschwung und Akzeptanz verholfen. Sein Stil wurde durch Walt Disneys Mickey Mouse und andere Cartoons beeinflusst. Elemente wie Speedlines und geschickte Perspektiven hat er vom Cartoon auf das Medium Comic übertragen und damit wiederum neue Maßstäbe gelegt was die Darstellung von Bewegung, Geschwindigkeit und erzählerische Dramatik betrifft. Er ist einer der wenigen Zeichner, der alles ausprobiert hat. Jungs-Geschichten, Mädchen-Geschichten, politische und historische Manga, er hat selbst ein Manga-Magazin rausgegeben. Seine humanistische Denke und Liebe zum Comic ist bewundernswert:

„Comics sind eine internationale Sprache, die Grenzen und Generationen überwinden und eine Brücke zwischen den Kulturen sein kann.“ (Osamu Tezuka)

Gravetts Buch untermauert alles was er recherchierte mit einem umfassenden Quellenverzeichnis und beginnt mit einem Zeitstrahl, der einem hilft die Ereignisse einzusortieren. Ein großes Plus des Buches war für mich, dass in jedem Kapitel so zahlreiche Farbseiten mit Manga und Illustrationen angefügt sind (siehe unten). Das hilft wahrscheinlich auch dem letzten interessieren Leser zu zeigen wie vielfältig Manga sind und jedes Genre und jeden Stil bedienen.

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Dabei macht Gravett auch nicht Halt davor die gängigen Vorurteile über Manga zu adressieren und aufzuzeigen wo das Gerücht herkommt und wieviel Wahrheit dran ist. So beispielsweise die leider zu langlebige, falsche Ansicht, Manga seien einzig und alleine gewalttätige, groteske oder grenzwertig-erotische Manga. Dem geneigten Leser sei also gesagt: es gibt einige Seiten, die werden schockieren. Insgesamt ist es aber ein sehr genau recherchiertes Buch, das einen sehr detaillierten Überblick über die Entwicklung des Mediums schafft. ich gebe zu, dass ich mehrmals angefangen habe das Sachbuch zu lesen und immer wieder abgebrochen habe und lange nicht über die Einleitung und das erste Kapitel hinauskam, weil ich zufällig diese Informationen schon wusste. Aber das Weiterlesen hat sich gelohnt – ich habe sehr viel erfahren. Am erstauntesten war ich über die Details wie die Leihbücherei-Industrie, die einzig und alleine für Bibliotheken produzierte und wieviel ein Zeichner zu Beginn der Geschichte der Manga verdiente. Welche Stoffe sich wann entwickelten und gefragt waren. Dass viele Künstler wie Osamu Tezuka imitiert, sogar kopiert wurden – sogar ganze Geschichten. Bootlegs ist keine besonders neue Erscheinung. Auch dass Shoujo (Mädchenmanga) oder Josei-Manga (Manga, die sich thematisch an erwachsene Frauen richten) anfangs von Männern gezeichnet wurden, hat mich erstaunt. Die Emanzipation der Frau ist nur ein Beispiel dafür wie gesellschaftliche Entwicklungen das Medium Manga beeinflusst haben. Frauen wollten nicht mehr, dass Männer Geschichten erzählen, von denen sie denken, dass sie Frauen interessieren. Sie begannen selber als Mangazeichnerinnen zu arbeiten. Schufen vollkommen neue Geschichten, Genres und Stile. Das Buch hat einiges zu bieten und ich kann es jedem empfehlen, der sich intensiver mit der Geschichte der Manga befassen möchte. In seiner Neutralität und dem Ausmaß an niedergeschriebenen Fachwissen würde ich das Buch auch gerne allen ans Herz legen, die bisher nichts mit Manga am Hut hatten, aber offen sind. Auch wenn die über 150 Seiten wie ein ziemlicher Hammer wirken, wenn man sich noch nicht primär für Manga interessiert.

Es gibt zahlreiche Mangafreunde da draußen, die vehement verneinen, dass Manga seine Wurzeln im amerikanischen Comic hat. Auch darauf geht das Buch ein, indem es Hokusai und seine erzählenden Bilder aufgreift. Der Gedanke durch Bilder zu erzählen ist offensichtlich tief verwurzelt in der japanischen Kultur. In einer Dokumentation, die ich mal gesehen habe, hat jemand gesagt, dass die japanische Kultur oftmals Bestandteile anderer Kulturen aufgegriffen, aber perfektioniert hat. Sei es Prozellan, seien es Schriftzeichen, seien es Manga. Und tatsächlich bietet für mich die japanische Comicindustrie so viel mehr Bandbreite als die amerikanische. Wie seht ihr das? Kennt ihr das Buch und wie hat es euch gefallen? Welche Literatur und Sachbücher über Manga könnt ihr empfehlen? Oder welche Dokumentationen?

2 Antworten

  1. Klingt sehr spannend! 🙂 Also ich lese ja gerade „A Geek in Japan“, in dem werden (natürlich kürzer gefasst) auch Manga und Anime angesprochen, ebenso wie die Hokusai-Zeichnungen. Die sind aber wohl auch ein Muss, wenn es um Japan geht. 🙂 Mich würde interessieren, ob das Buch auch ein wenig in die Zukunft blickt. Immerhin scheinen die Anime- und Mangabranche mittlerweile ja leider eher auf dem absteigenden Ast rumzudümpeln, weil der Sprung in die digitale Welt nicht so richtig klappt und es mal wieder an Geschäftsmodellen fehlt. Deswegen fände ich es schön, wenn mich da mal ein Fachautor (oder gerne auch eine Miss Booleana) beruhigen und schreiben könnte, dass es Manga in seiner heutigen Vielfalt auch noch 2216 geben wird. 😀

  2. […] Library Blog, 2018 [2] A Beginner’s Guide to LGBTQ+ Manga, New York Public Library, 2019 [3] Manga – sechzig Jahre japanische Comics, Paul Gravett [4] The Popularity of Gay Manga in Japan: What are ‘Bara’ and ‘Yaoi’ and Who Are Its Fans?, […]

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