Die Atmosphäre in den Trailern zu „Call Me by Your Name“ hat bei mir irgendwie einen Nerv getroffen. Ein einfühlsam erzähltes Drama über eine schwierige erste Liebe, wenn nicht sogar eine unmögliche erste Liebe unter der Sonne Italiens. Das weckt Erinnerungen an glückliche oder unglückliche Liebe, die von Anfang an ein Ablaufdatum hat und dafür prädestiniert ist, bittersüße Erinnerungen zu hinterlassen. Wenn ich mich jetzt als Armie-Hammer-Fangirl oute, ist noch klarer, warum ich so enttäuscht war, dass der Film in deutschen Kinos verhältnismäßig spät anlief. Jetzt war es endlich soweit. Review ist spoilerfrei.
Im Jahr 1983 verbringt der 17-Jährige Elio (Timothée Chalamet) erneut den Sommer mit seiner Familie in Norditalien. Sein Vater ist Professor für Archäologie und gerade an der Bergung antiker Skulpturen beteiligt. Er stellt regelmäßig Assistenten ein. Diesmal ist es der attraktive amerikanische Student Oliver (Armie Hammer), der in dem Sommer auch ein Buch schreiben und den Rat des Professors einholen will. Die selbstsichere Art des Amerikaners nervt Elio anfangs, aber bald sucht er dessen Nähe und fühlt sich von ihm angezogen. Über die erste Dreiviertelstunde des Films ist es auch für den Zuschauer schwer greifbar, was in den Köpfen Elio und Olivers vorgeht. Beide bemühen sich um Frauen aus der Umgebung. Warum? Dass Elio Oliver anfangs v.A. arrogant findet, wird zwar sehr deutlich, aber die Gefühle und das Geständnis sind sehr meta. Das erinnert an das mühselige Zeichen suchen und jede Mimik und Gestik interpretieren und ggf überinterpretieren – ein Prozess, den Liebe und Anziehung gern mal so mit sich bringt. Der Konflikt liegt in der Zeitangabe – 1983. Da tickten die Menschen wohl noch ein bisschen anders. Was der Trailer außerdem verschweigt, ist dass Elios Familie und auch Oliver Juden sind. In Verbindung mit der damaligen Zeit eine Mischung, die nicht unkompliziert ist. Eine Erkenntnis, die der Zuschauer selber leisten muss, denn der Film hilft dabei nur bedingt. Und so stehen viele unbeantwortete Fragen im Raum, begleitet von der sengenden Hitze Italiens, die der Film eindrucksvoll in Szene setzt. Man fängt förmlich an zu schwitzen, sich an brütend-heiße Sommerferien zu erinnern und wie sich Sonnenbrand anfühlt, wenn sich der Stoff der Klamotten darauf legt.
„Call Me By Your Name | „Dance Party“ Official Clip HD“, via Sony Pictures Classics (Youtube)
An Lebensgefühl spart der Film nicht. Es ist beneidenswert wie Elio aufwächst. Seine Familie hat ein großes Anwesen und Dienstboten, es fehlt an nichts, er kann die Aprikosen und Pfirsiche vom Baum auf dem eigenen Anwesen pflücken und in Flüssen und Seen baden. Seine Familie ist sehr gebildet und kultiviert, er selber scheint musikalisch begabt zu sein. Die Familie redet offen, sehr offen. Am Frühstückstisch redet Elio mit seinem Vater und Oliver darüber, dass er letzt Nacht fast mit einem Mädchen geschlafen hätte und die Männer fragen, warum nur „fast“. Homosexualität scheint aber ein unausgesprochenes Tabu zu sein, obwohl es sogar ein befreundetes, schwules Paar gibt. Das wirkt gelinde gesagt wie ein Widerspruch. Der Film versucht nicht die Gründe dafür zu erklären und für den Zuschauer, der weder 1983 gelebt hat, oder auch nicht jüdisch, vielleicht auch nicht homosexuell ist, bleibt an der Stelle ein Schleier des Ungewissen und die Frage „Warum das Tabu“? Vielleicht ist es auch einfach für alle Zuschauer ein Rätselraten. Zumindest ist der Film konsistent, denn ähnlich schwierig ist es, den Moment der Erkenntnis zu deuten. Ein Gespräch, das Elio beginnt und das auf den Zuschauer sehr meta wirkt, wird zum Geständnis. Aber Oliver scheint schon zu verstehen. Ab dem Zeitpunkt nimmt der Film an Fahrt auf. Die Beziehungen klären sich, es stellt sich die Nervosität wie vor dem ersten Date ein. Kriegen sie sich oder kriegen sie sich nicht?
Heimliche Treffen, Bemerkungen über ihre besondere Freundschaft, ein Gespräch zwischen Elio und seinem Vater – es gibt letzten Endes mehr zum Nachdenken als der Film anfangs vermuten lässt. V.A. ist er aber atmosphärisch gefilmtes Gefühlskino, das sich nicht aufdrängt und den Kitsch dankbarerweise vor der Tür lässt. Letzten Endes ist jede Liebe dramatisch, nicht nur die erste. Aber Call Me by Your Name lässt sie uns eindrucksvoll fühlen und versetzt uns in unsere eigenen Sommerferien zurück, auch wenn wir keine Dienstboten hatten und keine Musik transkribiert haben. Und an die quälenden Fragen. Will er? Will er nicht? Trotz des zu hermetischen Beginns hält der Film nach hinten raus, was er verspricht. Luca Guadagninos Film basiert auf dem gleichnamigen Buch von André Aciman, das James Ivory als Drehbuch adaptierte und dafür als bisher älteste Person einen Academy Award gewann. Da denkt man, dass das Christopher Plummer wäre, aber nein 😉 Trotz oder gerade wegen des Endes der Sommerliebe, vermisse ich, was das Drehbuch im Gegensatz zur Literaturvorlage auslässt.
Call Me by Your Name, Italien/Frankreich/USA/Brasilien, 2017, Luca Guadagnino, 133 min, (8/10)
„Call Me By Your Name | Official Trailer HD (2017)“, via Sony Pictures Classics (Youtube)
Ich versuche ja meine Besprechungen einigermaßen objektiv zu halten. Jetzt kommt der subjektive Teil: ich dachte wirklich, dass der Film mehr Spaß machen würde. Die erste Hälfte empfand ich als etwas zäh und sehr meta, schwer zu deuten, viele unkommentierte Ausschnitte aus dem Leben mehrerer hermetisch verriegelter Köpfe. und das ist wahrscheinlich so gewollt und unterstreicht das Flair der schwierigen Sommerromanze. Aber das unzugängliche in der Handlung gibt sich und gegen Ende ist der Film so ziemlich genau das, was die Lobeshymnen versprechen. Habt ihr den Film schon gesehen und wie ist euer Eindruck? Hätte er den einen oder anderen Oscar mehr verdient? Kennt ihr vielleicht sogar das Buch? Habt ihr den Film vielleicht ganz anders empfunden? Im Anschluss habe ich übrigens mal „I am Love“ desselben Regisseurs geschaut, der wieder in einer relativ exklusiv lebenden Familie spielt und sich auch ansonsten sehr ähnlich anfühlt. Luca Guadagnino hat eine sehr eigene Handschrift – ich mag es!
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