Da endete für mich der Japanuary 2019 mit drei gewaltigen Brocken. Alle verbleibenden Filme, die ich mir vorgenommen hatte, weisen eine Spielzeit von über zwei Stunden auf. Man kann sagen, dass ich in den letzten paar Tagen einige Zeit vor dem Fernseher verbracht habe. Immerhin war es eine sehr abwechslungsreiche Mischung …
Equinox Flower
Yasujirō Ozu ist neben Akira Kurosawa eine der Größen des japanischen Films der 50er und 60er Jahre. Im Gegensatz zu seinem Kollegen begann für Ozu die Reise noch in der Stummfilmära, womit er den Beginn des Ton- und Farbfilms erlebte. Der „japanischste aller Regisseure“ hat nicht selten in seinen Filmen Themen wie die japanische Gesellschaft und wechselnde Rollenbilder thematisiert. So auch in Equinox Flower, das von Geschäftsmann Wataru Hirayama (Shin Saburi) handelt, der wie auch seine Kollegen und Freunde gespannt ist wo die Reise für seine Töchter im heiratsfähigen Alter hin geht. In der Zeit zu der der Film spielt, waren arrangierte Ehen noch Gang und Gäbe. Dieses Bild von Beziehung und Ehe befindet sich quasi an der Grenze zum Wechsel. Wer eine Liebeshochzeit anstrebt und den Segen der Elten nicht bekommt, wird von der einen Familie vielleicht Verständnis ernten, von anderen enterbt und als Schmach betrachtet. Hirayama sieht die Kinder seiner Freunde aufwachsen, heiraten, hält rührende Reden bei deren Hochzeiten. Er springt sogar in die Bresche als ihn ein Freund bittet mit seiner Tochter zu reden, die nach einer solchen verweigerten Liebesheirat abgehauen und mit dem Mann zusammengezogen ist. Als aber Hirayamas eigene Tochter eine Liebesheirat anstrebt und der Auserwählte eines Tages vor ihm steht und um die Hand seiner Tochter anhält, verweigert ihnen Hirayama seine Zustimmung und erwägt das Glück der Beiden zu zerstören.
Ozus Film ist ein leises Kammerspiel von Beziehungen und gesellschaftlichem Wandel. Je nach Interpretation mehr das eine als das andere. Dabei ist Hirayamas Empörung und starke Meinung mehr als deutlich. Aber warum? Weil er nicht mit einbezogen wurde und nur das Beste für sein Kind will? Oder weil durch die Heirat besiegelt ist, dass seine Tochter mit ihrem Mann weit weg zieht und zwangsläufig außerhalb seines Dunstkreises lebt? Oder setzt er bei anderen Familien einen anderen Maßstab als bei der eigenen, wo er eine Liebesheirat nicht gut heißt? Die Frage wird nicht ganz geklärt und obliegt dem Zuschauer, der auch ein wenig Ausdauer braucht. Denn bis sich das Dilemma der Hirayamas offenbart, vergeht fast der halbe Film. Insgesamt ist Ozus Equinox Flower ein angenehm leiser Film, der viele Schattierungen von Beziehungen und japanischer „Hierarchie“ aufzeigt. Egal ob nun innerhalb der Familie, unter Freunden oder Arbeitskollegen – es herrscht stets eine unsichtbare „Ordnung“, nach der alle handeln und die uns die Vielfältigkeit der Kulturen vor Augen führt und wie ähnlich und gleichzeitig unterschiedlich wir Menschen doch sind. Anders als Kollegen seiner Ära und seines Feldes macht sich aber Ozu die filmischen Stilmittel etwas weniger auffällig zu eigen – oder ist auch das ein Ausdruck seines Stils? Keine Frage, für viele Zuschauer wird das dargestellte Thema in Equinox Flower zu seicht und freundlich runterrieselnd erzählt. Aber da sind wir eben wieder bei dem Ausdruck einer anderen Kultur und dem „japanischsten“ aller Regisseure. 😉
Equinox Flower (OT: 彼岸花 „Higanbana“), Japan, 1958, Yasujirō Ozu, 118 min, (8/10)
„THE UNFORGIVEN | Trailer deutsch german [HD]“, via vipmagazin (Youtube)
The Unforgiven
Western und Samuraifilm gehen gut miteinander. Was bereits das Remake von Die Sieben Samurai bewiesen hat (also das erste zumindest). Der Wunsch Ehre aufrecht zu erhalten, Ungleichgewicht auszumerzen und die klassische Konfrontation mit Unrecht und (Anti)Helden, die das Schicksal in die eigene Hand nehmen. Ob nur mit Schusswaffe oder Katana … . Statt einem US-Remake, ist The Unforgiven nun aber das japanische Remake eines Clint-Eastwood-Films, der von zwei in die Jahre gekommenen Samurai und einem unerfahrenen Heißsporn erzählen, die für ein Kopfgeld die Verunstaltung einer Prostituierten durch einen gewalttätigen Freier ahnden wollen. Eine Frage der Ehre und für die Prostituierten ihrer Menschenwürde. Sie sahen sich gezwungen das Kopfgeld auszusetzen, weil sonst niemand für ihre Ehre einsteht. Aber die ehemaligen Samurai sind zum Einen nicht mehr die jüngsten und wie sich herausstellt das Töten nicht „mehr gewöhnt“. Ken Watanabe als Jubei Kamata und Akira Emoto als Kingo Baba vertreten dabei zwei unterschiedliche Ansätze. Der eine ist bewusst gezeichnet von seinem früheren Samurai-Dasein, der andere weiß es noch nicht. Da Jubei sich und seine Kinder als Bauer mehr schlecht als recht durchschlägt geht er auf Kingos Idee ein und wird es bereuen.
The Unforgiven hat zwei, drei beträchtlich andere Einflüsse als das Original. der Film vermeidet den Stilbruch Jubei so wie Eastwoods Figur im Original schon fast komödiantisch als Pechvogel zu charakterisieren, der aus der Revolverheld-Nummer raus ist (sich aber später findet). So richtig daneben wirkt Watanabe nie, eher sehr sehr zerknirscht und vom Leben gezeichnet. Das macht den Film aber auch von Anfang an ernster. Irrsinnigerweise wiegt dadurch das moralischen Dilemma weitaus weniger prägnant als wenn der „Held“ verletzlicher, greifbarer und menschlicher wirkt und daher die Aufgabe, die er sich stellt weniger leistbar. Die Gegenüberstellung Katana und Schusswaffe als Symbol des Wandels der Zeit (Edo – Meiji) gelingt sehr gut und liefert spannende neue Reize. Zudem thematisiert der zu Beginn der Meiji-zeit angelegte Film auch die Ainu, eine Volksgruppe, die in Japan lebte und eine eigene Sprache hat. Die existiert im Übrigen auch heute noch in Japan, während ihre Sprache inzwischen als so gut wie ausgestorben gilt. Das Dilemma der Volksgruppe, die der Regierung ein Dorn im Auge ist, liefert das Bild der gewaltsamen und brutalen Verdrängung des „Alten“. So auch mit den Samurai und Katana als Waffe. Ein Zusatz zur Handlung, der spannend ist, aber leider versucht der Film damit zuviel und vernachlässigt die Geschichte des grausamen Sheriffs und des „Revolverhelden“ wider Willen.
The Unforgiven (OT: 許されざる者 „Yurusarezaru Mono“), Japan, 2013, Lee Sang-il, 135 min, (7/10)
Einmal wirklich leben (Ikiru)
Akira Kurosawa erzählt nach einem Drehbuch in Anlehnung an Tolstois Der Tod des Iwan Iljitsch von dem Bürokraten Kanji Watanabe (Takashi Shimura), der nach einem Arztbesuch mit der grausamen Realität klarkommen muss, dass er nur noch wenige Monate zu leben hat. Der Film ist dabei wenig zaghaft. Watanabe wird von Anfang an als Workaholic beschrieben, der sich vor dem Leben hinter Papierbergen versteckt und trotzdem selbst auf Arbeit wenig Mut an den Tag legt. Er geht, isst, trinkt, schläft und tut, was sonst noch so dazu gehört. Aber er lebt nicht wirklich. Dabei ist er trotz des frühen Todes seiner Frau nicht ganz allein auf der Welt. Er hat einen Sohn und eine Schwiegertochter, auch einen Bruder – aber auf Distanz. Seine Umwelt und er haben sich diese Existenz so eingerichtet und auseinander gelebt. Er hat das Leben verlernt. Durch die fatale Diagnose bricht er aus seinem Alltag aus. Meldet sich das erste Mal seit dreißig Jahren krank, geht einen trinken, wandert im Nachtleben umehr. Aber all das kann nicht kitten, was er dreißig Jahre vernachlässigt hat. In einem regelrechten Kraftakt strebt er an einen schwierigen Fall durchzuboxen, der auf Arbeit an ihn herangetragen wurde und den er zuvor gänzlich außer Acht ließ: Das Gesuch einiger BürgerInnen aus einem brach liegenden öffentlichen Grundstück einen Spielplatz machen zu lassen.
Es bricht einem das Herz mit anzusehen wie Watanabe von seiner Umwelt behandelt wird. Wenn ihm Fremde mehr Empathie entgegen bringen als seine eigene Familie. Und es rührt einem immens zu sehen wie die Tränen in Takashi Shimuras Augen stehen, der den Watanabe spielt und so bitterlich bereut, dass er seine Lieben, seine Freunde, seine Kollegen, seine Beziehungen nicht mehr gepflegt hat. Dass er nicht weitergelebt hat und wie er nun trotz aller Widrigkeiten dieses Gesuch durchboxt. Er begegnet selbst Gangstern mit einem Lächeln auf den Lippen, das sagt: ich habe nichts zu verlieren. Kurosawa hat mit Shimura, der hier wirklich eine facettenreiche Performance abliefert, noch mehr Filme gedreht als mit Toshirō Mifune und ist wahrscheinlich wahrlich ein Herzensprojekt. Kurosawa gilt als Meister unter den Filmschaffenden und doch ist Ikiru der Ausdruck seines eigenen Empfindens sein Leben nicht nach bestem Gewissen oder in vollsten Zügen gelebt zu haben oder einen Abdruck auf diesem Planeten hinterlassen zu haben. Und wie er das hat! Schaut man sich alleine diesen Film an – eine Ode an das Geschenk des Lebens, gegossen in Bilder, die sagenhaft eindringlich , stimmunsgvoll und rührend sind. Und so ganz nebenbei ein Abgesang auf Bürokratie, Politik und Duckmäusigkeit. Und Shimura, der diesen Geist verwirklicht, indem er stets so zerbrechlich und so gebeugt läuft, als ob die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern liegt. Und so ein bisschen tut es das. Er hatte ein gutes Leben und muss sich der grausamen Wahrheit stellen, dass er es vergeudet hat. Und jeder, der todkrank ist, wird ihm versichern: Leben ist ein kostbares Gut. Darum mach, dass dein Leben lebenswert ist. ‚Nough said. Jetzt geht raus da, ruft die Mutti mal wieder an, geht ein Eis essen, auf den Spielplatz schaukeln oder tanzt wo auch immer ihr seid!
Einmal wirklich leben (OT: 生きる „Ikiru“), Japan, 1952, Akira Kurosawa, 143 min, (10/10)
„Ikiru (1952) (Japanese Trailer with English subtitles)“, via top250info (Youtube)
Fazit
Mir steckt ehrlich noch die überwältigende Botschaft von Ikiru in den Knochen. Die Tränen sind vielleicht schon getrocknet, aber kennt ihr das, wenn ihr nach einem Film einen Kloß im Hals habt und die Beklemmung der Botschaft oder des Gesehenen nicht los werdet? Muss ich nun also ein Fazit ziehen, dann war Ikiru wohl das großartigste und auf interessante Weise wirkungsvollste Filmerlebnis während des Japanuary. Das wird noch eine Weile nachhallen. Allerdings war der Japanuary dieses Mal auch nicht ganz so einfach zu bewältigen. Das erste Drittel des Monats habe ich mit Warten auf die entsprechenden Filme verbracht und dachte schon, dass das nichts mehr wird. Aber dann habe ich es doch noch geschafft und meine acht angekündigten Filme geschaut. Yesss. 🙂 Und es war ein guter Japanuary. Neben Ikiru hat mich auch Shoplifters nachhaltig beeindruckt. Mary und die Blume der Hexen war längst überfällig, um mal einen Eindruck zu gewinnen, was Studio Ponoc eigentlich so macht. Über den ersten Teil der 20th Century Boys Trilogie habe ich auf Tanuki Republic noch etwas ausführlicher geschrieben und mich demnächst wohl dem zweiten und dritten Teil widmen. Das passt ausgezeichnet, weil ich gerade den großartigen Manga von Naoki Urasawa nochmals lese. Auch wenn ich finde, dass er Film nicht so gut mithalten kann. Wer weiß? Vielleicht machen zwei und drei das anders. Außerdem habe ich mit Equinox Flower meinen ersten Ozu gesehen. Drauf gebracht hat mich überhaupt erst SchönerDenken im Zuge des Japanuary 2018 😉 Da sieht man mal wieder wie cool solche Aktionen sind! Verglichen zum Vorjahr mangelt es aber ein wenig am Austausch auf Twitter und den öffentlichen Kanälen. Vielleicht ging ja mehr auf Letterboxd? So oder so habe ich den Japanuary und die intensive Auseinandersetzung mit dem japanischen Film wieder sehr genossen und freue mich auf den Japanuary 2020 😉
Zu den bisherigen Artikeln
Ankündigung
Filmbesprechungen zu „Shoplifters“, „Mary und die Blume der Hexen“ und „20th Century Boys 1“
Filmbesprechungen zu „Still the Water“ und „Hana-Bi“
Header Image Photo Credits: Andre Benz
Habt ihr eure acht Filme geschafft? Und wie hat euch der Japanuary gefallen? Habt ihr im Zuge der Filmchallenge im Gezwitscher oder den Besprechungen interessante Filme kennen gelernt? Was kommt dann eigentlich im Februar für eine Filmchallenge?
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