Ja. Richtig gesehen. Tot geglaubte leben länger. Der letzte Artikel zum Russischen Herbst erschien zwar Ende Januar, aber wirklich weg war der eigentlich nie. Schließlich habe ich in der Zwischenzeit ganz im Geiste des Russischen Herbstes zusammen mit meinen furchtlosen Mitstreitern Dostojewski(j)s „Verbrechen und Strafe“ gelesen. Und ja, die Leseliste ist verglichen zur Ankündigung offenbar gewachsen. Das ist gut und zeugt nur davon wie spannend die Auseinandersetzung ist. 🙂 In eben dieser Ankündigung sprach ich auch davon, dass ich Filme schauen würde. Tatsächlich war der erste Film, den ich in diesem Jahr geschaut habe Tarkowskis „Stalker“. Ein Film, der sehr beeindruckend war und den ich (offensichtlich) erstmal etwas sacken lassen musste. Sehr hilfreich dabei einen Überblick über Tarkowskis Schaffen zu gewinnen ist die Seite bfi.org.uk mit ihrem Artikel „Where to begin with Andrei Tarkovsky?“
In der ZONE
Eigentlich hatte er seiner Frau geschworen es zu lassen. Aber es zieht den „Stalker“ (Alexander Kaidanowski) immer wieder in die Zone. Die Zone ist ein Gebiet, das durch die Behörden streng bewacht wird. Seltsame Dinge geschehen dort. Niemand weiß wie genau die Zone entstand. Es gibt Vermutungen über einen Meteoriteneinschlag und extraterrestrische Besucher. Wie dem auch sei. Das Gebiet wurde evakuiert und seitdem soll niemand rein. Aber einige trauen es sich. So eben der „Stalker“. Er schleust immer mal wieder Leute rein. Dieses Mal den „Schriftsteller“ (Anatoli Solonizyn) und den „Professor“ (Nikolai Grinko). Da es verboten ist die Zone zu betreten, bleiben Namen außen vor. Der „Stalker“ gibt ihnen Anweisungen wie sie sich zu verhalten haben. Denn die Zone ist ein gefährlicher Ort – sie stellt Fallen. Und hat schon Opfer gefordert. Und doch gehen die drei den Weg – wenigstens zwei von ihnen ohne zu wissen auf was sie sich einlassen. Und sie alle mit unterschiedlichen Zielen.
Der Raum, der Wünsche erfüllt
Aber sie alle wissen von dem Raum, der Wünsche erfüllt. Angeblich soll es den in der Zone geben. Und er soll bereits einen Mann reich gemacht und anschließend in den Wahnsinn getrieben haben. Irgendwie würde mir der Gedanke gefallen, dass in der Zone nichts ist. Dass sie wegen einer Kleinigkeit bewacht wurde. Durch die ständigen „Stalker“ wurde mehr Bewachung nötig. Aus einer Lappalie wird ein enormes Schauspiel. Mystizismus. Menschen, die an etwas glauben wollen und mehr und mehr hineininterpretieren. Legendenbildung? Aber die Deutung, die der Film letzten Endes beschreibt ist schöner. Mystischer. Und versteckt sich genauso gut wie das was angeblich so seltsames in der Zone vorgehen soll. Davon sieht der Zuschauer nämlich nicht soviel. Es ist ein Spiel mit Erwartungen. Man glaubt tatsächlich über lange, lange Strecken, dass es in der Zone gar nichts besonderes gibt und der Stalker seine „Gäste“ zum Narren hält. Und Tarkowskis hat so gefilmt, das man in steter Erwartungshaltung in die Zone blickt. Beispielsweise, indem er uns akribisch die drei Antihelden verfolgen lässt, die sich auf einer Lore in die Zone schmuggeln. Minutenlange Close-Ups auf die Charaktere oder auch später auf die Landschaft in der Zone. Und nichts auffälliges. Aber man will auch nichts verpassen. Und schaut. Clever gemacht. Man will sich den Hinweis auf das magische oder besondere der Zone nicht entgehen lassen.
„Stalker | Trailer | New Release“, via Film Society of Lincoln Center (Youtube)
Es gibt ein paar Ungereimtheiten in der Zone, aber genauso gut könnte sich das meiste auch nur in den Köpfen unserer Protagonisten abspielen. Oder in unseren. Tarkowski spielt geschickt mit uns. Vielleicht der wahre Grund, warum Stalker als Meisterwerk gefeiert wird. Letzten Endes adressiert der Film einen Urwunsch von uns Menschen. Das etwas größeres passiert. Ein deus ex machina aus dem Nichts zu uns herabsteigt, alle unsere Wünsche erfüllt. Es ist die Hoffnung, die auch unseren Stalker immer wieder in die Zone treibt. Obwohl er dafür schon gesessen hat. Und seine Tochter an den Folgen der Zone leidet und krank ist. Nur in der Zone fühlt er sich aber wohl. Fast so als ob sie seine Droge ist. Die Ausweg- und Perspektivenlosigkeit seiner normalen Umwelt erschüttert ihn. Reicht nicht mehr aus. Nicht umsonst ist das Bild in Sepia gehalten bis zu dem Zeitpunkt als sie die Zone betreten – und plötzlich hat die Welt wieder Farben. Die Sogwirkung der Zone überträgt sich auf den Zuschauer, nicht zuletzt weil Tarkowski das besondere aus der Umgebung filtert. Etwas, das gerade so besonders aus dem gewöhnlichen hervorsticht, das man meint dem Geheimnis auf der Spur zu sein. Wenn wir in der Graslandschaft und den verfallenen Häusern den Hinweis suchen. Wir wollen es doch auch!
Ich brauche einen Film über den Film
Tarkowski hatte ein unglaubliches Auge für magischen Realismus und das Surreale. Für das Unscharfe im Leben der Menschen. Wünsche, Ängste, Hoffnungen, Träume – Albträume. Er hat das alles genommen und in Bilder gepackt, die auf jeden der für magischen Realismus empfänglich ist, eine Sogwirkung ausüben. Klar, wer Actionkino sucht, schaut nicht Tarkowski. Stalker schickt uns stellenweise auf eine lähmende Reise, die uns v.A. vor unsere eigenen Zweifel stellt. Lähmend deswegen, weil er während der ikonischen Loren-Szenen so lange die Protagonisten per Close-Up in den Fokus nimmt, das ich ernsthaft Angst hatte von der Zone nichts zu sehen. Das gibt sich später. Die Bilder üben eine quasi ätherische Atmosphäre aus. Dabei ist schwer zu sagen wie viel von Tarkowski in der Geschichte und der besonderen Kameraführung steckt. Mit Sicherheit viel – das steht außer Frage. Erwähnenswert ist aber, dass der Film auf dem Buch Picknick am Wegesrand von Arkadi und Boris Strugazki basiert, die auch für das Drehbuch verantwortlich waren. Während der mehrjährigen(!) Arbeit an dem Film flossen aber Ideen Tarkowskis mit in die Geschichte und so erschien Die Wunschmaschine, ein Buch basierend auf der letztendlichen Handlung des Films. Mit Georgi Rerberg, anfänglich sein Kameramann, gab es ein Zerwürfnis. Er wurde von Alexander Knjaschinski abgelöst. Aber Rerbergs Einfluss soll unverkennbar sein. Nach nur kurzer Recherche steht fest: man könnte ein Film über die Entstehung des Films machen. Und psst … den gibt es sogar!
Einige Details rund um Stalker sind haarsträubend und passen irgendwie zu ihm. So wurde der Film u.a. in Tallinn im heutigen Estland gedreht. In der Nähe einer der Drehorte war wohl eine Fabrik, die für chemische Verschmutzungen des Wassers verantwortlich sein soll. Und so wird spekuliert, dass es kein Zufall ist, dass ein Teil der Filmcrew an Krebs erkrankte. Letzten Endes sogar Tarkowski selber. In Tallinn kann man angeblich noch einige der Drehorte so vorfinden wie sie in dem Film zu sehen sind und es gibt sogar ein Stalker Festival. Tarkowskis Film hat den Kultstatus definitiv verdient.
Stalker (OT: Сталкер), Sowjetunion, 1979, Andrei Tarkowski, 163 min, (9/10)
Bisherige Artikel der Beitragsreihe
I: Ankündigung
II: Sachbuch-Besprechung zu „Russische Geschichte“ von Andreas Kappeler
III: Hörbuch-Besprechungen zu Sergei Lukjanenkos Wächter-Reihe Band 1 „Wächter der Nacht“
IV: Fjodor Dostojewskij „Der Spieler“
V: Natascha Wodin „Sie kam aus Mariupol“
VI: Michail Bulgakow „Der Meister und Margarita“
VII: Serhij Zhadan „Internat“
VIII: Serien-Besprechung „The Romanoffs“
Header image photo credit: Anton Murygin
Als ich mich mit Tarkowski als Regisseur beschäftigte, wurde mir übrigens klar, dass ich schon einen seiner Filme gesehen habe: Solaris (Soljaris). Eine kleine Überraschung. Bis dahin war ich vollkommen überzeugt, dass ich noch nichts von ihm kenne. Aber bereits während Stalker, fielen mir einige Momente aus Solaris ein, die offenbar seine Handschrift tragen. Surreale Momente vor Allem. Auch heute kann ich mir niemand besseren vorstellen um das Buch von Stanislaw Lem zu verfilmen. Kennt ihr „Stalker“? Wie habt ihr den Film interpretiert? Und unter uns: würdet ihr in die Zone gehen?
Schreibe einen Kommentar