Und ich wartete und wartete, aber die DVDs wollten nicht billiger werden. Glücklicherweise hat Amazon Instant Video Anfang März einige Serienstaffeln zu Spottpreisen angeboten. Darunter „Handmaid’s Tale“ Season 1 und Season 2. Nachdem ich von der ersten Staffel so begeistert war, eine willkommene Gelegenheit. Aber die Zweifel sind da und bleiben angesichts der dritten Staffel auch da. Denn zum Ende der ersten Staffel wurde mehr als deutlich, dass sie bereits den Inhalt von Maragret Atwoods großartigem Buch abdeckt. Und die Frage: was kommt, wenn die Vorlage zu Ende ist? Automatischer Qualitätsverlust? Besprechung ist spoilerfrei für die Staffel, die ich reviewe. Nicht spoilerfrei für vorangegangene Staffeln.
„Praise be“
Nachdem sich June/Offred (Elisabeth Moss) am Ende der ersten Staffel in Ungewissheit begeben hat und unter den Augen der aufgebrachten Serena Joy (Yvonne Strahovski) in einen schwarzen Van stieg und verschwand, offenbart es sich nicht als der erhoffte Weg in die Freiheit, nicht als Female Underground Railroad, sondern als das Erteilen einer Lektion ganz im Stile Gileads. June wird jetzt wie auch bei kommenden Verfehlungen nicht oder kaum bestraft, da sie ja schließlich ein Geschenk Gottes in sich trägt. Stattdessen muss sie mit ansehen wie die anderen Handmaids bestraft werden. Als Konsequenz versickern alle Bestrebungen der Revolte in Junes unmittelbarer Umgebung. Dann: dank Nicks (Max Minghella) Hilfe gelingt ihr doch die Flucht. Sicher ist aber auch, dass man nach ihr suchen wird. Chicago als Haupt-Zelle Gileads scheint wie eine Festung zu sein. Zeitgleich wird Emily (Alexis Bledel) als „Unwomen“ gebrandmarkt und versucht die desolaten Umstände in den Kolonien zu überstehen. Doppelt schwer, da sie durch ihre Arbeit die Krankheiten und Folgen der prekär unmenschlichen hygienischen Zustände nur zu gut benennen kann. In Kanada versuchen währenddessen Moira (Samira Wiley) und Luke (O. T. Fagbenle) mit dem „Überleben“ umzugehen.
„The Handmaid’s Tale: Season 2 Trailer (Official) • A Hulu Original“, via Hulu (Youtube)
Der Report der Magd. Und der Ehefrau. Und der Tante. Und der Martha.*
Was der zweiten Staffel wirklich gut gelingt ist es das Leben in Gilead aus mehreren Standpunkten zu beleuchten. Aus dem Report der Magd, wird auch der der Ehefrau, der Aunt, der Martha. Am Beispiel von Aunt Lydia (Ann Dowd) machen sich im Zuschauer Zweifel breit. Man erlaubt einen Blick auf eine Sekunde der Erleichterung oder der Agonie oder der Verzweiflung, die verschiedene Interpretationen zulässt. Ist auch Aunt Lydia eine vom System weichgeklopfte, die eigentlich nicht will, was sie tut? Oder demonstriert sie gar wie sehr sie an das System glaubt und verzweifelt glücklich über jede weitere Schwangerschaft und den Fortbestand der Menschheit ist? Das zeigt vielleicht erst eine dritte Staffel eindeutig. Deutlicher wird aber Serenas Weg, von Yvonne Strahovski mit gleicher Intensität verkörpert wie Elisabeth Moss ihre June spielt. Serena und sie werden Verbündete und bleiben Feinde – der perfekte Widerspruch. Mit jedem Blick muss June Serena daran erinnern wie unglaublich schief die von ihr angedachten Veränderungen der Gesellschaft gelaufen sind und wie die von ihr einst unterstützte Ideologie vor den Baum gelaufen ist. Dabei ist Serena immens persistent. Immer, wenn man denkt, dass sie jetzt endlich auf unserer (Junes) Seite ist, dann schlägt sie wieder zu. Oder nicht?
Wie bereits angedeutet wird auch Fokus auf Rollen gelegt, die selbst im Buch wenig ausgeführt wurden. So beispielsweise auf die Marthas und Unwomen, aber auch die Econowives oder Econopeople. D.h. die Mittel- und Unterschicht, die begrenzte Rechte haben und arbeiten gehen müssen, aber keine Befehlsgewalt o.Ä. haben. An ihnen wird auch schmerzlich deutlich unter welchen Bedingungen Gilead Ehen duldet und „herbeiführt“. Es scheint in Gilead kein Problem damit zu geben Mädchen im Teenageralter zu verheiraten. Bereits gebärfähig? Reicht Gilead vollkommen aus. Desto jünger, desto besser die Chancen für mehrere Schwangerschaften und das „Erfüllen der Pflicht“. Von Pädophilie spricht keiner. Außer der eine oder andere Econo-Husband, der es nicht erträgt. Kein Wunder, dass bei all dem moralischen Morast Radikalisierung eine Rolle spielt und sehr deutliche Formen findet. Man möchte sagen mit Boom-Effekt. Durch all diese starken Frauenschicksale werden die Männer rund um den Commander Waterford (Joseph Fiennes) fast an die Wand gespielt. Fiennes darf hier nur noch mehr Verderbtheit der Moral beweisen. Sehr willkommen ist, dass immerhin Nick mehr Aufmerksamkeit bekommt. Denn wenn es eine reine Serie um die weiblichen Schicksale wäre, dann wäre Gleichberechtigung und Moral trotz Allem falsch gedacht.
„Blessed be the fruit loops“ and „May the force be with you“
Was ich schon während der ersten Staffel dachte: es würde sich lohnen die Sprache Gileads zu untersuchen. Verglichen mit George Orwells Newspeak aus 1984 nimmt sie sich nichts. In ihr manifestiert sich der grausame Standesunterschied, die Degradierung des weiblichen Geschlechts und aller „Andersdenkender“ und die fanatisch-religiösen Ansichten. Aber die Menschen und ihre Intellekte sind noch nicht ganz zermartert und eingeschüchtert. Die Handmaids trauen sich in unbeobachteten Momenten seither nochmal ihr Selbst zu sein und so entstehen Perlen wie Blessed be the fruit loops (anstatt Blessed be the fruit) und May the force be with you or whatever (anstatt May the lord open). Kleine Momente der Zwanglosigkeit für die Handmaid’s und unerwarteter Comic Relief. Aber: kann es das in Gilead geben? Im Gilead der ersten Staffel schien das unmöglich.
Darf Gileads Modell aufgehen?
Es ist nicht mal der angedeutete Comic Relief, sondern auch das übermittelte Bild Gileads. Natürlich ist der Staat und die Gesellschaft immer noch menschenverachtend, brutal und kriminell – ein Verbrechen an der Menschheit. Aber rein von der Versorgung her, scheint es dem Staat besser zu gehen. Im Buch und auch in der ersten Staffel der Serie gibt es noch Anzeichen dafür, dass kaum Lebensmittel verfügbar sind oder stark rationiert. Bei den macaron- und sektgeschwängerten Partys der Housewives in Staffel eins machen sich schon erste Zweifel breit, aber in der zweiten ist von Rationierung und Lebensmittelknappheit gar nichts mehr zu merken. Ich erinnere mich an eine Stelle im Buch, in der Offred angibt, dass sie heimlich Butter stielt um irgendwas fettendes zur Körperpflege zu haben. Und dass Obst eine Seltenheit war. Es hat mir schlicht besser gefallen zu sehen, dass Gilead wirtschaftlich abstinkt. Auch die Freiheitsgrade der Handmaid’s wirken offener. Auch wenn Gilead moralisch nicht funktioniert, scheint es das leider wirtschaftlich zutun. In der USA erleben wir ja was ähnlich, nicht wahr? Das legitimiert aber nichts, es ist jedoch schwer anzuschauen mit welchem Preis das erkauft wird. Natürlich gibt es nach wie vor mehr Punkte, die die Aktualität der Serie und Kritik an unserer Gesellschaft fortsetzen. Schlummernde Vorurteile und Stigmatisierung von Frauen und Lebensmodellen, die nicht in die „heteronorme“ Denkweise passen, Degradierung von Menschen anhand von Merkmalen wie dem Alter oder Nutzen für die Gesellschaft oder der Übergriff Klassenunterschiede. All diese Merkmale spitzen sich zu in einer Welt, die sich mit einer Bedrohung und knappen Ressource konfrontiert sieht. Babys. Fortbestand. Von wegen wir halten zusammen. Ein Mahnmal.
„The Handmaid’s Tale is About the Present“, via The Take by ScreenPrism (Youtube)
Fazit
Trotz der Kritik an den Freiheitsgraden Gileads ist die Serie der Vorlage treu geblieben. Es werden jede Menge Kapitel beleuchtet, die „Der Report der Magd“ ausgelassen hat. Für mich war jede Folge so spannend und fordernd, dass ich kaum erwarten konnte die nächste zu sehen, meine Lieblingscharaktere sicher zu wissen, zu erfahren wie es weitergeht. Es gab goldene Momente wie als die Freiheit nah wirkt und Springsteens „Hungry Hearts“ eingespielt wird. Es werden schwierigste moralische Konflikte aufgezeigt. Beispielsweise das haarsträubende Dilemma Junes und ihres Babys: ein Kind, das quasi aus einer Vergewaltigung hervorgegangen ist und in eine grausame Welt geboren wird retten oder nicht? Eine Frage, ein Dilemma, ein Zwiespalt mit Folgen und Durchschlagskraft wie Dynamit. Es gäbe soviel zum diskutieren, man könnte Abende füllen. Und quasi nichts davon fühlt sich „falsch“ oder nicht im Sinne der Vorlage an bis auf das bittere Gefühl, dass Gileads Modell zumindest wirtschaftlich zu funktionieren scheint. Zwar finde ich, dass die Serie in der zehnten Episode schon die Grenze überschritten hat und zu weit geht und bin mit dem Ende nicht einverstanden und fürchte mich erneut davor, dass eine dritte Staffel nicht mehr dieser Wahnsinns-Spagat gelingt, aber für’s erste (man verzeihe mir die Wortwahl) darf man von der zweiten Staffel immer noch geflasht sein.
(9/10)
Header image photo credit: Joel Filipe
*Verzeiht mir, wenn ich mit den deutschen Bezeichnungen nicht so vertraut bin. Ich habe sowohl das Buch auf Englisch gelesen, als auch die Serie im O-Ton geschaut und nur so am Rande und durch Recherche mal die Begriffe in der deutschen Übersetzung aufgeschnappt. Korrigiert mich aber gern in den Kommentaren. Wie hat die zweite Staffel auf euch gewirkt und was erwartet ihr von der dritten Staffel? Was war für euch einer der stärksten Momente? Und was war für euch moralisch am herbsten und wo seht ihr die meisten Gefahren in unserer Gesellschaft oder Zeitgeschehen? (Spoiler bitte vermeiden oder gut kennzeichnen.)
Ich muss gestehen, dass es seit Langem mal wieder eine Serie ist, die bei mir dieses Gefühl des Fallens in der Magengrube ausgelöst hat aufgrund der Aktualität oder moralischen Implikationen. Es ist nicht leicht zu schauen, aber wahrscheinlich eine der aktuellsten und bewegendsten Serie zur Zeit. Falls mich mal jemand fragt, was ich denke, welche Serie jeder gesehen haben sollte, dann würde ich wohl sagen: diese. Leider muss ich in meinem Umfeld feststellen, dass 90% der Männer einen Bogen um die Serie machen. Nicht bewusst oder öffentlich aus Desinteresse am „weiblichen Schicksal“, sondern auch wegen einer ganz anderen, für mich seltsamen Strömung: ernsten Themen aus dem Weg zu gehen und in Serien mehr brain relief zu suchen. Ihr alle da draußen, wie seht ihr das?
Immer zwischen dem 5. und 10. eines jeden Monats mache ich einen kleinen Ausflug in die Serienlandschaft. Ob aktuelle Serien, all-time-favorites, irgendeine TOP-5 oder einfach ein paar zerstreute Gedanken: es ist alles dabei :).
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