Russischer Herbst: Film-Besprechung „Leviathan“

Die Filme, die ich mir im Zuge des „Russischen Herbst“ vorgenommen habe, sind alle nicht unbedingt neu. „Leviathan“ von Andrei Swjaginzew hat zwar auch schon fünf Jahre auf dem Buckel, aber ist damit der bei Weitem aktuellste. Er hat den Regisseur Swjaginzew international bekannt gemacht und ein heikles Thema: Machtmissbrauch und Korruption.

Die, die Macht haben, wollen sie auch behalten

Als der Film beginnt, scheint für Nikolai „Kolya“ Sergejew (Alexej Serebrjakow) der Drops schon gelutscht. Der Bürgermeister Wadim Schelewjat (Roman Madjanow) will Kolya enteignen. Für das Grundstück wird ihm eine finanzielle Entschädigung angeboten, die ein Witz ist. Kolya hat entsprechend Widerspruch eingelegt und das Gerichtsverfahren hat schon zwei, drei Runden gedreht. Mit keinem für ihn zufriedenstellenden Ergebnis. Er hat das Haus auf seinem Grundstück selber gebaut und dort auch die Autowerkstatt, mit der er sein täglich Brot verdient. Als letzten Ausweg soll Kolyas Kumpel und Moskauer Anwalt Dmitri „Dima“ (Wladimir Wdowitschenkow) über den Bürgermeister schmutzige Details zusammentragen und ihn erpressen. Der Versuch in dem Club mitzuspielen, geht aber nicht gut für Kolya und Dima aus.

„Leviathan – Official Trailer“, via Madman Films (Youtube)

Wo fängt der Film an und wo endet das Vorurteil?

Man mag bei all dem, was man in dem Film sieht, denken, dass es sich um Klischees handelt. Lilia und Kolya gehen nicht direkt liebevoll miteinander um. Verfallene Plattenbauten, verwuchertes Grün, graue Trostlosigkeit und Holz-Bruchbuden zieren das Bild der Gemeinde Pribreschny. Der einzige größere Arbeitgeber in der Umgebung scheint eine Fischfabrik zu sein. Die Menschen sind entweder sehr still oder haben eine sehr große Klappe wie Lilias Freundin Angela (Anna Ukolova). Sie sagt zu ihrem Kind solche Dinge wie „Wenn du nicht aufräumst, bringe ich dich um.“ Zumindest, wenn ich den Untertiteln glauben schenken darf. Das alles zeichnet ein hoffnungsloses, graues und düsteres Bild. Hat man sich Russland so nicht eher aufgrund von Vorurteilen vorgestellt? Ist dann der korrupte Bürgermeister mit seinen Männern fürs Grobe nicht auch nur ein Klischee? Die Sache ist die: ich habe nachgefragt. Und von Menschen, die Russland kennen Antworten bekommen wie „Also bei uns sah das genauso aus“ und sogar sehr direkte Antworten wie „Der Film ist vollkommen authentisch“. Lediglich die eine brennende Tonne gegen Ende fanden meine Mitschauenden und Russlandkundigen dann übertrieben. Ein dezenter Hinweis darauf, dass nicht alle Klischees Klischees sind.

Letztendlich muss man sich aber auch dessen bewusst sein, dass der Ort, den man als Schauplatz gewählt hat sehr weit ab vom Schuss ist und nicht gerade ein touristischer Platz, der groß vermarktet wird. Es ist also anzunehmen, dass es nicht überall so trost- und perspektivenlos aussieht. Aber Fakt ist somit wohl auch, dass ein großer Funke Wahrheit in dem steckt, was Leviathan erzählt. Und das geht einem ins Mark.

Der Leviathan

Neben dem sogar sehr offensichtlichen Machtmissbrauch des Bürgermeisters und der Kirche als heimlichem Strippenzieher, wirkt der im Hintergrund lauernde „Leviathan“ umso unumgänglicher, weil unsichtbar. In der Religion ist der Leviathan, ein furchtbares Seeungeheuer, das die Menschen unterjocht. In Thomas Hobbes staatstheoretischer Schrift „Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil“ ist der Leviathan eine Metapher für den Staat, der ähnlich monströse Eigenschaften und vor Allem Macht hat. Der Film illustriert das in einigen kraftvollen Szenen wie als Kolyas Sohn Roman (Sergej Pochodajew) kurz von zuhause ausreißt und bei einem skelettierten Wal ausharrt. Für Wunder der Natur und des Tierreichs ist hier kein Platz – der Wahl ist so ausgezehrt wie die Bewohner der Gemeinde und so tot wie die Wirtschaft. Nicht zu verachten ist auch das persönliche Drama der durch Jelena Ljadowa dargestellten Frau Kolyas, deren ganzer Körper zu schreien scheint, dass sie weg will. Sie erträgt ihr Leben in dem Ort und mit dem Stiefsohn, der sie hasst, nicht mehr. Ihr Hilfeschrei wird nicht erhört.

Das hoffnungslose Portrait derer, die in einer korrupten und zugrunde gerichteten Gemeinde leben, bekommt durch das befreundete Ehepaar ein wenig comic relief. Zuschauer sollten sich aber bewusst sein, dass das Thema Machtmissbrauch und Korruption kein Spaß ist und versucht ein tief verwurzeltes, gesellschaftliches Dilemma abzubilden. Mehr noch: einen Leviathan, der nicht gern abgelichtet wird. Mitsamt des Konflikts derer, die nicht kuschen, sondern gegenhalten wollen und noch viel schlimmer zugrunde gerichtet werden. Der eh schon nicht fröhliche Film nimmt sich viel Zeit, um von diesen Schicksalen zu erzählen – vielleicht zuviel. Die Tour-de-force dauert über zwei Stunden und etwas Kürze hätte ihm gut zu Gesicht gestanden, obwohl ich insbesondere auf das Portrait der Frauen und Kinder nicht verzichten würde. Dabei wertet der Film nicht in Worten, sondern überlässt dem Zuschauer die Interpretation. So kann leicht die Rolle der Kirche anders und unschuldig ausgelegt werden. Fraglich, ob das ein kluger Schachzug ist? Leviathan ist ein kluger und wichtiger Film, beeindruckend gefilmt – aber nicht einfach anzuschauen und benötigt ggf Interpretationswillen.

Leviathan (OT: Левиафан „Lewiafan“), Russland, 2014, Andrei Swjaginzew, 142 min, (8/10)

Sternchen-8

Bisherige Artikel der Beitragsreihe

I: Ankündigung
II: Sachbuch-Besprechung zu „Russische Geschichte“ von Andreas Kappeler
III: Hörbuch-Besprechungen zu Sergei Lukjanenkos Wächter-Reihe Band 1 „Wächter der Nacht“
IV: Fjodor Dostojewskij „Der Spieler“
V: Natascha Wodin „Sie kam aus Mariupol“
VI: Michail Bulgakow „Der Meister und Margarita“
VII: Serhij Zhadan „Internat“
VIII: Serien-Besprechung „The Romanoffs“
IX: Film-Besprechung „Stalker“ (Andrei Tarkowski)
X: Vladimir Sorokin „Der Schneesturm“
XI: Fjodor Dostojewskij „Verbrechen und Strafe“
XII: Film-Besprechung „Panzerkreuzer Potemkin“
XIII: Jewgeni Iwanowitsch Samjatin „Wir“
XIV: 5 Erkenntnisse über das Erlernen der russischen Sprache und Lerntipps

Header image photo credit: Anton Murygin

„Leviathan“ war für einen Oscar nominiert und ist ein regelrechter Wachrüttler, der bewusst macht, dass Korruption und Machtmissbrauch dieser Art kein Relikt aus Märchen sind. Aber es ist eben kein Spaß das anzuschauen, wenn auch gut gemacht. Die Szenengestaltung war erstklassig, die Landschaften eigentlich verblüffend. Man darf gespannt sein, was Regisseur Andrei Swjaginzew so in Zukunft vorhat. Mit „Loveless“ legte er jedenfalls einige Jahre später einen ebenso dunklen Stoff nach. Sicherlich nicht mehr im Zuge des Russischen Herbst, sondern aus allgemeinem Interesse wäre jetzt mal ein fröhlicher russischer Film fällig. Kennt ihr einen??

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