Literarische-Fundstücke: Noir-Bücher

Wo ich nun dieses Jahr schon den „Noirvember“ auslasse, will ich es mir nicht nehmen lassen zumindest ein bisschen Noir-Feeling inspiriert durch „film noir“ zu verbreiten. Was bedeutet das? Das bedeutet Spurensuchen ob mit oder ohne Detektiv*innen, nicht selten Kriminalfälle oder moralische Abgründe. Mittendrin: Protagonist*innen, deren Gefühle und Moralkompass auf die Probe gestellt werden. Typischerweise vielleicht auch als Schwarzweißfilm, aber natürlich nicht nur. Und wie sieht „noir“ in Buchform aus? Ich hab da mal ein paar aus meiner Lesehistorie gezogen, die ich für einigermaßen „noir“ halte. Nennen wir sie „buch noir“.

Spurensuche, Detektiv*innen mit oder ohne Hut, dunkle Gassen …

… klingt nach Schlüssel verloren? Vielleicht. 🙂 Film noir wurde insbesondere in der Anfangsphase mit Detektiven, Kriminalfällen und femme fatale gleichgesetzt. Dankbarerweise haben schon zu Hoch-Zeiten des film noir viele mit dem Muster gebrochen – erst recht im modernen film noir. Mit klassischen Büchern aus der Zeit kann ich nicht dienen, aber in jüngerer Vergangenheit habe ich zwei gelesen, die ich wegen ihrer Motive als sehr „noir“ empfand. So beispielsweise Hari Kunzrus Krimi White Tears. Der handelt von Seth und Carter, zwei befreundeten Musik-Fans. Seth schnappt einen Blues-Song auf, sie mixen und trimmen den auf „alt“ und veröffentlichen ihn unter einem ausgedachten Pseudonym „Charlie Shaw“. Plötzlich wird der Song populär, jemand meldet sich, der „Charlie Shaw“ angeblich kennt und Carter wird halb tot geprügelt. Seth versucht herauszubekommen was ihnen gerade widerfährt. Ab dann taucht das Buch ab in die Kreise manischer Plannensammler*innen, verströmt Delta-Blues-Atmosphäre und vor Allem heißt er nicht ganz grundlos White Tears. Das Buch adressiert Diskriminierung gegenüber PoCs, Polizeigewalt und die Krokodilstränen Weißer, die gern solchen Blues wie die Delta-Blues-Ikonen kreieren würden, aber deren Schmerz und Geschichte nicht annähernd nachfühlen können. White Tears ist kein fröhliches Buch, soviel dürfte klar sein. Aber es ist ein moderner Krimi mit einem Hauch Geistergeschichte. Außerdem war es für mich der erste angenehm zu lesende Roman, der sich der Erzählweise des Stream of consciousness bedient.

Fuminori Nakamuras Die Maske war für mich ein Wechselbad der Gefühle. Ich nehme es gleich vorweg: es gab sovieles daran, was ich gut finde wie Aspekte, die ich schlecht finde. Wegen dieser Zerrissenheit habe ich wohl nie eine Besprechung dazu geschrieben. Der Roman handelt von Fumihiro, dem jüngsten Spross der einflussreichen Kuki-Familie. Nach deren Tradition, wird stets der jüngste Nachkomme dazu ausgebildet das absolute Böse zu personifizieren. Dazu gehört offenbar ihn in Abwesenheit von Zuneigung zu erziehen. Als sich Fumihiro aber in das Waisenmädchen Kaori verliebt, beginnt er sich gegen seinen Vater aufzulehnen. Nach einem Zeitsprung wird Fumihiro Kaori später suchen. Insbesondere hier fühlt sich Die Maske wie ein „buch noir“ an, mitsamt Detektiv. 😉 Es ist sehr spannend zu sehen, ob Fumihiro sich wirklich gegen den Plan seiner Familie auflehnen kann oder ob er gerade durch seine Revolte eben doch wird, was sein Vater aus ihm machen wollte. Davon abgesehen gibt es zuviele unbeantwortete Fragen und Vorhänge, hinter die man nie schauen darf. Wie zum Beispiel woher die irrsinnige und aus der Zeit gefallene Philosophie der Kuki-Familie kommt … .

Zwei Manga, die für mich das Noir-Feeling verkörpern sind zum Einen einer meiner Lieblingsmanga von Naoki Urasawa mit dem sprechenden Titel Monster. Der handelt vom begnadeten japanischen Chirurgen Dr. Tenma, der in einer deutschen Klinik arbeitet. Eines Tages wird sowohl ein kleiner Junge als auch eine prominente Person eingeliefert und benötigt dringend eine OP. Entgegen der Anweisungen seines Chefs zieht er es vor den Jungen zu operieren. Die Folge: der Junge namens Johann überlebt, aber Tenmas Ansehen in der Klinik ist geschädigt. Durch einen (nicht so wirklichen) Zufall bekommt Tenma mit, dass aus dem Jungen ein Mörder geworden ist, der eine Spur von Leichen hinterlässt. Tenma gibt seinen Job auf und verfolgt Johann ab da durch Europa, da er es als seine Pflicht sieht ihm das Handwerk zu legen. Sehr detektivisch, super gezeichnet, spannend!

Anders, aber optisch auch sehr ansprechend: CTKs Midnight Rain ist ein queerer Manga, der von der Zufallsbekanntschaft zwischen den Männern Mike und Ethan handelt. Insbesondere kann Mike Ethan anfangs nicht besonders leiden, trotzdem weiß er nicht, wo er anders hin soll als er schwer verwundet wird. Zwischen den Beiden entwickelt sich etwas. An und für sich sind sie sehr unterschiedlich, ihre Gemeinsamkeit ist aber, dass sie beide eine nicht nur schöne Vergangenheit haben. Eine Form der Hoffnungslosigkeit liegt in der Luft, die die Gegenwart des jeweils anderen mildert. Zwar hat Midnight Rain ähnlich problematische Muster wie andere Shōnen Ai/Yaoi/Boy’s Love Manga, aber am Ende steht dort eine unverkitschte Liebesgeschichte, deren Melancholie einen Hauch film noir hat.

Halloween-Nachbeben

Wenn der „Noirvember“ lockt, dann ist Halloween typischerweise nicht so weit weg. Und damit auch Geistergeschichten und Schauerromane. Zumindest zwei kommen mir in den Sinn, die auch Noir-Vibes versprühen. Allen voran Neil Gaimans von Rafael Scavone, Rafael Albuquerque und Dave Stewart in einen Comic adaptierte Kurzgeschichte A Study in Emerald. Sherlock-und-Watson-Fans erkennen darin sofort den Titel einer populären Geschichte des Detektiv-Arzt-Duos. Viel mehr bezeichnet Gaiman selber die Geschichte auch als Sherlock-Lovecraft-FanFiction. Und das ist sie auch. Und vor Allem keine gewöhnliche Detektivgeschichte. 😉 Einen historischen Roman habe ich auch noch auf Lager, der wegen der Brutalität vielleicht nicht alle Leser*innen anspricht. Niklas Natt och Dags Krimi, der uns in das titelgebende Jahr 1793 nach Stockholm versetzt, handelt vom Stadtknecht Jean Michael „Mikkel“ Cardell und dem Ermittler Cecil Winge, die einem wahrlich grausigen Fall nachgehen. Neben ihnen wird eine Geschichte von zwei weiteren Erzählstimmen erzählt und zeichnet sehr farbige Bilder von Stockholm 1793.

Ein Hauch von Jazz und Melancholie

Vielleicht bin das nur ich, aber wenn ich an film noir und schummrige Bars denke, dann läuft in meinem Kopf eben immer Jazz. Weniger kriminalistisch, aber ebenso von Rätseln oder einer differenzierten Weltsicht geprägt sind die zwei Stoffe, die mir zu Noir und Jazz einfallen. Da wäre zum Einen Haruki Murakamis Südlich der Grenze, westlich der Sonne, vielen auch unter dem unpassenden früheren Titel (und Skandal 😉 ) Gefährliche Geliebte bekannt. Der Roman handelt von Hajime, der (natürlich!) eine Jazz-Bar führt und verheiratet ist. Wie aus dem Nichts taucht darin seine Jugendliebe Shimamoto auf. Sie geht ihm nicht aus dem Kopf und sein innerer Zwiespalt quält ihn sehr. Das Buch ist wegen der samtweichen Schilderungen ihrer Verbundenheit und Anziehung eine großartige Lektüre, aber auch weil sie Hajimes Dilemma unvergleichlich einfängt. Zudem können Leser*innen sie entweder als reine „Liebesgeschichte, die nicht hat sollen sein“ lesen oder mit einem Hauch Magischen Realismus. Ist Shimamoto wirklich da oder eine Manifestation von Hajimes Sehnsüchten und Schuldgefühlen?

Natürlich spielen Jazz und Platten in Murakamis Buch eine Rolle. Er selber ist Plattensammler und man kann ewig lange Playlisten mit seinen Empfehlungen oder in seinen Büchern genannten Songs finden. Jazz, insbesondere Saxophon-Nummern, spielen auch in der Kurzgeschichte Kazuo Ishiguros eine Rolle, wenn auch eher untergeordnet. Bei Anbruch der Nacht ist der Titel, den ich in Hörbuchform genossen habe. Die Prämisse klingt eher nach Komödie: zwei Mumien laufen nachts durch ein Hotel und verstecken sich vor Menschen … . Eigentlich ist es alles ganz anders. Die Geschichte beginnt mit dem Protagonisten, einem mäßig erfolgreichen Saxophon-Musiker. Er bekommt den Rat sich einer Gesichtsoperation zu unterziehen. Das tut er eher widerwillig, trifft in der Klinik aber in einem ehemaligen Starlet eine Gleichgesinnte. Beide sind schon das eine oder andere Mal vom Leben enttäuscht worden und finden ineinander wertvolle GesprächspartnerInnen. Andererseits scheinen sie aus zwei Welten zu stammen. Funktioniert ihre Verbundheit noch, wenn die Bandagen gefallen sind? Das Hörbuch wurde von Saxophon-Intermezzi begleitet, die ich sehr mochte. Im Gesamtpaket hat mir die melancholische Stimmung sehr gefallen – die Geschichte selber ist allerdings sehr kurzweilig.

Header image/photo credit: Janko Ferlič

Welche Bücher fallen euch zum Schlagwort „Buch noir“ ein? 🙂 Und welche der oben genannten kennt ihr und mögt ihr? Sind die Motive überhaupt euer Fall oder macht ihr um solche schwermütigeren Stoffe oder moralische Dilemmas in Medien eher einen Bogen? Hier geht es übrigens zu allen anderen Literarischen Fundstücken.

4 Antworten

  1. Tolles Genre! Kann noch sehr Colin Niel „Nur die Tiere“ empfehlen, Krimi noir im ländlichen Frankreich mit überraschender Wendung, atmosphärisch dicht und in diesem Jahr auch verfilmt (hab ich noch nicht gesehen, aber steht noch an).
    Viele Grüße!

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Uuuh, danke für den Tipp. Der klingt wirklich sehr spannend und atmosphärisch! Die Verfilmung muss an mir vorbei gegangen sein, auch das ist nochmal das Nachschlagen wert. 😀
      Ebenso viele Grüße

  2. Da fragst du was! Das Gefühl „noir“ kann ich bisher nicht fassen, daher könnte ich dir in keinem Medium einen Titel nennen. Aber ich glaube, dass mich das durchaus ansprechen könnte. Aber nach dem was ich heute hier gelesen habe, benötigt es dafür schon eine bestimmte Stimmung. Interessant klingen White Tears, bei Die Maske bin ich noch hin- und hergerissen, ebenso wie bei Monster.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ja ist schwierig einzuordnen, ne? Es ist halt in jedem Fall eher Krimi, aber mit Drama-Aspekten. In jedem Fall sollte aber wohl etwas detektivisches, eine Spurensuche und gewisse Note der Nostalgie und Melanholie mit reinspielen. Deswegen passen auch Stoffe ohne „Detektiv mit Hut“ und ohne direktes Verbrechen gut rein.
      Und ja, ich denke auch man muss dafür definitiv in Stimmung sein. Im Hochsommer und bei blendendem Wetter habe ich noch nicht so oft noir gelesen, glaube ich.

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