Es gibt bei mir irgendwo so einen rumfliegenden, digitalen Notizzettel, auf dem alle (mir bewussten) filmischen Wissenslücken stehen, die ich gern mal schließen würde. Meistens gehen diese Vorhaben irgendwann in „7ème art“-Artikel auf. Darunter stand längere Zeit Filme mit Marlene Dietrich zu schauen, denn da habe ich eine wirklich üble Wissenslücke. In all den Jahren und über tausend gesehenen Filmen war kein einziger mit der Dietrich! Das kann nicht so bleiben. Daher gibt es heute: sieben Filme mit Marlene Dietrich.
Der blaue Engel
Der Gymnasiallehrer Professor Immanuel Rath (Emil Jannings) greift bei einem seiner Schüler eine Postkarte auf, die Lola Lola (Marlene Dietrich) zeigt, eine knapp bekleidete Varieté-Tänzerin des Lokals Der blaue Engel. Er denkt er sieht nicht recht. Sucht er wie er sagt vorrangig deswegen abends das Lokal auf, weil er seine Lausejungs zur Rede stellen und nach Hause schicken will? Oder will er selber Lola Lola sehen? Er begegnet ihr jedenfalls und kaum, dass sie Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt trällert und ihm tief in die Augen schaut, ist es um ihn geschehen. Was Josef von Sternbergs Film nach einem Roman von Heinrich Mann ab hier zeigt ist der plötzlich sehr schnelle Untergang des Professor Immanuel Rath.
Die Songs von Friedrich Hollaender beinhalten schon das eine oder andere Foreshadowing: Nimm dich in Acht vor blonden Frau’n beispielsweise. Auch dass seine Schüler Professor Rath von Anfang an zu Unrath umdichten ist ein Hinweis, der schwer wegzudenken ist und eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Die Wirkung Marlene Dietrichs Lola Lola auf den Professor ist kaum übersehbar, gut entwickelt, wenn auch etwas langsam. Das Sittengemälde zeigt im Folgenden wie einfach sich der alleinstehende Rath einwickeln lässt, aber auch wie abschätzig er für seine Liebe und Anziehung zu Lola Lola betrachtet wird. Wie Lola selber wie ein Stück Vieh vermarktet wird – und sie selber das vorantreibt als vielleicht einzige Art zu überleben? Darauf geht der Film nicht ein. Lola wird zur Femme Fatale, ihr Psychogramm blitzt ab einem gewissen Punkt nur noch wenig durch. So erscheint die zweite Hälfte des Films plötzlich als eine Abwärtsspirale, in der auch nicht ganz klar ist wieso Rath so schnell an diesen Punkt kam und seinen gesellschaftlichen Status verlor. Wir finden uns als Zuschauende relativ hilflos an einem Punkt wieder, der an Nightmare Alley erinnert, das allerdings später erschien. Und wissen nicht, ob wir Rath bedauern soll, wegen der Täuschung oder seiner Torheit. Schwarzweißfilm hat hier aber zu wenig Grauschattierungen. Dass der Abstieg so plötzlich kam und einige Fragen offen lässt, liegt vielleicht an der 107-Minuten Version des Films. Leider bin ich an die zweistündige nicht rangekommen.
Der blaue Engel, Deutschland, 1930, Josef von Sternberg, 107 min, (7/10)
MARLENE DIETRICH. „ICH BIN VON KOPF BIS FUSS AUF LIEBE EINGESTELLT“ 1930 Der Blaue Engel 1/2., LilyMarleneDietrich, Youtube
Blonde Venus
Josef von Sternberg hat ab den 1920er Jahren Filme im Akkord herausgehauen. Seit Der blaue Engel einige davon mit Marlene Dietrich und damit beider Bekanntheitsgrad immens gesteigert. Nur gegen Typecasting war die Dietrich nicht gefeit. Auch in Blonde Venus und einigen der Folgefilme wird sie auf der Bühne stehen, als Verführerin dargestellt und irgendwann auch als Frau, „die vom Weg abkommt“. Letzten Endes führte dieser Umstand auch zu Spannungen und der übervollen Handlung von Blonde Venus, die für zwei Filme gereicht hätte. Darin entscheidet sich die Hausfrau und Mutter Helen Faraday (Marlene Dietrich) wieder als Revue-Sängerin zu arbeiten, um ihrem kranken Ehemann Ned (Herbert Marshall) eine erfolgversprechende Behandlung zu bezahlen. Die Rückkehr ins Nachtleben entfremdet sie aber von ihrem Mann. Der gutaussehende Nick Townsend (Cary Grant) macht ihr Avancen und immer steht der Vorwurf im Raum sie wäre eine schlechte Mutter, würde ihren Sohn zu wenig sehen. Bis sie ihren Sohn schnappt und beide Männer hinter sich zu lassen versucht.
Und damit ist der Film noch lange nicht zu Ende. Es bleibt leider keine Zeit um all die Etappen ihres Lebens mit der verdienten Aufmerksamkeit zu erzählen, was wohl der größte Kritikpunkt ist. Eigentlich ist es faszinierend wieviele Wandlungen und „Personas“ Marlene Dietrich als Helen Faraday oder Helen Jones oder titelgebende Blonde Venus hinlegt. Dann ist da natürlich auch noch die Rolle als Mutter und die als von der Gesellschaft ausgestoßene Frau, die den Konventionen trotzt. Und entsprechend keinen Platz in dem System hat, das dann plötzlich nur noch einen Begriff kennt: Kriminelle. Die Rolle der Frau und wie schnell sie in Schubladen gedrängt wird, ist eigentlich eine wahrhafte Stärke des Films. Wären da nicht die ständigen kompletten Wechsel von Setting und die plötzlichen Wenden. Man hat gerade erst akzeptiert, dass es Cary Grant in dem Film gibt und schon ist er wieder weg. Nur ein Beispiel für Situationen, denen nicht genug Platz eingeräumt wird, um glaubhaft zu wirken. Und das trotz des fantastischen Spiels aller Beteiligten. Mit der Brille aufgeschlossener Personen aus dem 21. Jahrhundert ist außerdem der Song Hot Voodoo bitter und diskriminierend.
Blonde Venus, USA, 1932, Josef von Sternberg, 93 min, (7/10)
Die Freibeuterin
Ray Enrights Westernkomödie spielt in Nome, Alaska zur Zeit des Goldrauschs und zentriert einerseits Saloonbesitzerin Cherry Malotte (Marlene Dietrich), die zwischen zwei Männern steht und andererseits die sehr flexiblen Besitzansprüche der Claims und Minen. Klar: gekauft haben die wenigstens die Areale, in denen sie Gold schürfen. So entsteht auch der Konflikt zwischen Roy Glennister (John Wayne), einem alteingesessenen und angesehenen Kapitän und dem Gold-Kommissar Alexander McNamara (Randolph Scott). Natürlich sind das auch die beiden, die mit Cherry eine komplizierte Dreiecksbeziehung bilden.
Wow – mein erster John-Wayne-Film! Tatsächlich finde ich The Spoilers (so der Originaltitel und eine von vielen Verfilmungen des gleichnamigen Buchs) sehr oberflächlich und klischeebeladen. Hier Trunkenbolde, da Saloonprügeleien. Es fehlen die Nuancen, die das Leben in Alaska während des Gold Rushs glaubhaft machen. Bei den fehlenden Grauschattierungen war auch sicherlich der Hays Code behilflich, der aber wegen seiner rückschrittigen Sittsamkeit zumindest noch mehr Western- und Saloon-Stereotypen verhindert hat. Was nicht gut ist – so bleibt alles sehr unglaubwürdig unbrutal, züchtig und die Komik lässt keine zeitgenössische Kritik zu, eher flache Ulkigkeit betrunkener Bystander. Die Spitzfindigkeit der Dialoge mag witzig sein, die Stars strahlen hier wirklich hell. Nur die Story wirkt schal wie seine Nebencharaktere. Der Cringe durch den Umstand, dass Cherry Malotte mit Idabelle (Marietta Canty) eine schwarze Bedienstete hat, ist leider real. Wobei Marietta Canty zum Einen das Beste daraus macht und man dankbar sein muss, dass ihrer beider Rollen auch näherungsweise eine verschwörerische Frauenfreundschaft sein kann. Das auch in dem Film vorkommende Blackfacing ist da eine ganz andere Hausnummer. Eins muss man dem Film aber lassen: die Kneipenprügelei am Ende ist zu Recht in die Filmgeschichte eingegangen.
Die Freibeuterin (OT: The Spoilers), USA, 1942, Ray Enright, 87 min, (5/10)
Eine auswärtige Affäre
Regisseur Billy Wilder ist den meisten sicherlich durch seine Filmklassiker wie Manche mögen’s heiß oder Das Appartement bekannt. In Eine auswärtige Affäre verarbeitet Wilder seine eigenen Erfahrung als stationierter US-Soldat im Nachkriegsberlin. Die Aufnahmen der zerbombten Berlin-Skelette sind echt. Und waren für mich schockierend in der verheerenden Zerstörung, die ich trotz Geschichtsbüchern nicht so vor Augen hatte. Es scheint ein Widerspruch zu sein, dass der Film trotz des Wilder-typischen lockerleichten Humors und eine Liebesgeschichte bedient. Tut es aber.
Jean Arthur spielt die Kongressabgeordnete Phoebe Frost, die sich zusammen mit anderen Abgeordneten einen Eindruck von der Moral der stationierten Truppen machen will. Im in Sektoren geteilten Berlin herrscht Armut und Unsicherheit. Ein Dorn im Auge der republikanischen Moral-Apostelin Frost (der Name ist sicherlich kein Zufall) ist, dass immer mehr US-Soldaten mit deutschen Frauen anbändeln. Insbesondere die Gerüchte um die Sängerin Erika von Schlütow (Marlene Dietrich) beschäftigen die moralisch feste Republikanerin. Mit Unterstützung von Captain John Pringle (John Lund) will sie den Militär finden, der von Schlütow deckt und mit Annehmlichkeiten „aus dem Westen“ versorgt. Nichtsahnend, dass Pringle eben dieser Mann ist und ihr nur beginnt schöne Augen zu machen, damit er die Spurensuche manipulieren kann.
ruins of berlin – marlene dietrich – scenes from a foreign affair and more 1945-47, Mick, Youtube
Natürlich entspinnt sich hier eine Dreiecksbeziehung. Es macht schon Spaß macht zuzusehen wie Pringle die Kongressabgeordnete weich kocht und auch die Dietrich mit ihr ein Katz-und-Maus-Spiel treibt. Dabei wird sie manchmal ganz schön garstig, ist aber auch wahnsinnig cool und elegant. Sie verströmt so perfekt die Rolle der Frau, die versucht über die Runden zu kommen und dabei ein Gesicht zu wahren wie Jean Arthur die Naivität und Korrektheit in Person versinnbildlicht, die mit blütenreiner Überzeugung von Iowas Kornfeldern singt. Naivität im Kontrast zu Krieg. Es gibt eine Menge Sätze, die spitzfindig sind und es auf den Punkt bringen. Und wenige, aber dafür pointierte Szenen wie die nach einer Razzia von Dietrichs/von Schlütows Nachtclub. Dort wird ein Kellner verhört, warum er laut Papieren im sowjetischen Sektor lebt und im amerikanischen arbeitet? Das sei verboten. Er sagt „Ich versuche zu leben.“ Die Antwort der Polizei: „Das ist nicht genehmigt.“ Uff. Es hätte aber auch etwas weniger Iowa und Republikaner-Zermon sein können und eine signifikantere Geschichte um die NS-Vergangenheit von Schlütows werfen können. War sie überzeugte Nazi-Anhängerin oder nicht? Tut der Film trotz seiner Anmerkungen über „geraubte Überzeugungen“ der Vermittlung von Verblendung und „überleben wollen in einem kranken System“ genug Dienst? Was natürlich gut gelingt: die Dreiecksbeziehung zu skizzieren, einen Humor, der auch heute noch gut funktioniert und die Doppelmoral der amerikanischen, weißen Weste abzubilden.
Eine auswärtige Affäre (OT: A Foreign Affair), USA, 1948, Billy Wilder, 116 min, (8/10)
Die rote Lola
Faszinierend, dass der deutsche Titel Die rote Lola offenbar keinen Bezug zu dem Film hat. Außer einen künstlichen. So trug doch Marlene Dietrichs Charakter in ihrem filmischen Durchbruch Der blaue Engel denselben Namen. Wollte man da an den Erfolg anknüpfen? Dabei passt der Originaltitel Stage Fright („Lampenfieber“) soviel besser. Hitchcock wagt sich hier mit einer Adaption gleich zweier Werke in das Theater vor. Stilecht beginnt und endet der Film mit einem gelifteten und gefallen Vorhang. Danach verschwendet der Film keine Zeit. Jonathan Cooper (Richard Todd) hat eine Affäre mit der Schauspielerin Charlotte Inwood (Marlene Dietrich), die verzweifelt auf seiner Türschwelle steht. Sie hat ihren Mann umgebracht. Jonathan versucht den Tatort wie einen Einbruch aussehen zu lassen, um den Vrdacht von Charlotte wegzulenken. Dummerweise wird er dabei gesehen und von der Polizei gesucht. Er sucht Schutz bei seiner Freundin Eve Gill (Jane Wyman), die ihn versteckt. Eve ist selber angehende Schauspielerin und clever. Sie vermutet das all das Charlotte gut passen dürfte und sie Jonathan von Anfang an ausliefern wollte. Eve beschließt ihren Beruf zum Mittel zu machen. Sie nimmt diverse Rollen an und schauspielert sich durch um herauszufinden wie sie Charlotte zu einem Geständnis bringen kann.
Alfred Hitchcocks Film ist wahrlich zäh. Kein Wunder, dass er kein großer Erfolg war. Dabei ist es auch kein schlechter Film, nur weil er langatmig und etwas spannungsarm ist. Zu den Raffinessen des Films zählen die Gegensätze zwischen Charlotte als mondäner, berühmter Diva und Eve als unschuldiger Jungschauspielerin. Beide schauspielern auch außerhalb der Bühne um zu bekommen, was sie wollen. Nur Charlotte tut das zum Selbstzweck und geht dabei über Leichen. Eve hingegen tut das für „Liebe und Gerechtigkeit“. 🙂 Es gibt eine Menge Nebencharaktere wie Eves Vater (Alastair Sim), die man schnell lieb gewinnt. Und auch ein bisschen Comic Relief. Leider auf Kosten der Spannung, die auch durch deutlich weniger filmische Mittel unterstrichen wird. Eher gegen Ende zeigen die Filmschaffenden um Hitchcock, dass sie Dramaturgie und beispielsweise das Spiel mit Licht, Schatten und Mise en Scène verstehen. Wo war das aber den ganzen Rest des Films über? Der zweite erzählerische Kniff offenbart sich am Ende und dreht nochmal an der Spannungskurve. Das kurioseste wird für mich wohl aber der Titel im deutschen Verleih bleiben.
Die rote Lola (OT: Stage Fright), USA/UK, 1950, Alfred Hitchcock, 110 min, (7/10)
Zeugin der Anklage
Und nochmal die Dietrich unter der Regie von Billy Wilder! Den Stoff von Agatha Christie setzte Wilder 1957 als Film um, der damit beworben wird, dass wir unsere Freunde in den Film schicken werden, aber nur nicht das Ende verraten! Das läuft tatsächlich vor der endroll – und es stimmt. Der Film ist reich an twists und turns. Was billig wirken könnte, geht in dem Film einigermaßen auf. Lediglich die letzten Minute und eine ausgiebig und künstlich heulende Nebendarstellerin waren mir persönlich etwas zu viel des Guten. Bis dahin: große Klasse. Zeugin der Anklage erhielt 1958 sechs Oscars und ist oftmals in Listen der besten Gerichtsdramen zu finden. Zu recht!
Witness for the Prosecution (1957) ORIGINAL TRAILER [HD 1080p], HD Retro Trailers, Youtube
Der Film handelt vom Star-Anwalt Sir Wilfrid Robarts (Charles Laughton), der sich gerade von einem Herzanfall zu erholen versucht. Oder viel mehr wollen andere, dass er sich erholt. Er kann es nicht lassen und stürzt sich direkt in den interessanten Fall des mittellosen Möchtegern-Erfinders Leonard Stephen Vole (Tyrone Power), der eine alte, reiche Witwe umgebracht haben soll, um sich ihr Vermögen unter den Nagel zu reißen. Bei der Vorbereitung des Falls fällt ihm dessen Frau, die Deutsche Christine Helm (Marlene Dietrich), besonders auf, die er vor lauter emotionaler Kälte kaum einschätzen kann. Daher will er sie nicht in den Zeugenstand rufen. Überraschung: sie wird dann stattdessen Zeugin der Anklage. Wie unheimlich gut das Drehbuch und die Umsetzung mit den Erwartungen der Zuschauenden spielt ohne uns offensichtlich zu diktieren, was wir denken sollen. In einem der wenigen Rückblicken erleben wir wie sich Christine und Leonard kennen lernten, was sich wie eine Liebesgeschichte anfühlt. War da schon alles Kalkül? Wir können herrliche viele Vermutungen aufstellen, manche davon werden vom Film umgestürzt, in jedem Fall bleibt es eins: spannend, tragisch und sogar witzig! Was für ein Gesamtpaket! Übrigens hat Christina als sie Leonard kannte in einem Club gearbeitet, der Die blaue Laterne heißt. Kleine Anspielung zum blauen Engel.
Zeugin der Anklage (OT: Witness for the Prosecution), USA, 1957, Billy Wilder, 113 min, (9/10)
Urteil von Nürnberg
Stanley Kramer hat einige unkonventionelle und unpopuläre Ideen in seinen Filmen verfolgt. Insbesondere Ideologien von verschiedenen Seiten zu beleuchten hat ihn umstritten gemacht, aber auch bekannt. In seinem 1961er Film nach einem Drehbuch von Abby Mann widmet er sich der Schuldfrage des Dritten Reichs, so gestellt während der Nürnberger Prozesse. Er lässt Spencer Tracy als (fiktiven) Richter Dan Haywood in einem immer noch durch den Krieg gezeichneten Deutschland in Ruinen ankommen und den Vorsitz halten. In einem prekären Fall – Anklage wurde gegen andere Personen des Rechtswesens erhoben. So den ehemaligen Justizminister Dr. Ernst Janning (Burt Lancaster). Es stellt sich die Frage: wie konnten unter seiner Aufsicht Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschehen? Wo war die Rechtsprechung? Wo die Gerechtigkeit? Andere Angeklagte berufen sich darauf nur ihren Job gemacht zu haben. Janning selber schweigt. Es wird Haywoods vielleicht kniffligster Fall. Und der einzige in dieser Liste, in dem die Dietrich nicht in einem Nachtclub arbeitet oder eine Show-Persönlichkeit ist.
Was den Film auszeichnet sind die zahlreichen Interessenkonflikte und Meinungen, die wertungsfrei gezeigt werden. Kramers Film erlaubt es Zuschauenden sich zwischen all den Personen und Eindrücken selber eine Meinung zu bilden. Darunter ist u.a. der Verteidiger Jannings und seiner Kollegen, der von Maximilian Schell gespielt wird und der einen harten Kurs fährt, um seine Klienten freizukriegen. Er versucht mit Härte und Vehemenz die Aussagenden zu diskreditieren, die doch gerade im Zeugenstand von ihren Traumata berichten. Es fallen Begriffe wie Rassenschande, Zwangssterilisierung und es werden (authentische) Videoaufnahmen aus befreiten Konzentrationslagern gezeigt – und was man dort vorfand. Wie kann der Verteidiger das mit seinem Wissen vereinbaren? Andere Stimmen sind beispielsweise auch die der Generalsgattin und Witwe Frau Berthold (Marlene Dietrich), die Haywood wissen lassen will: „wir waren nicht alle so“. Besonders spannend waren für mich die Momente, in denen Haywood sich quasi in den Feldeinsatz begibt und die ganz normalen Menschen fragt: Wie war es im Nationalsozialismus zu leben?
Es ist faszinierend wieviele Schattierungen der Film aufzeigt, von denen die Scheuklappen auf hatten, die wirklich nichts wussten oder denen, die sich hinterher darauf berufen „auch nur ein Rädchen im Getriebe zu sein“. Auch die Amerikaner kommen hier nicht ungescholten davon. Intensiv ist wie Burt Lancaster als Dr. Ernst Janning gegen Ende sein Schweigen bricht. Intensiv ist überhaupt der ganze Film. Und dessen Spielzeit von knapp über drei Stunden. Es gelingt Kramer allerdings exzellent den historischen Kontext und mutmaßliche Gründe einzufangen, die das Dritte Reich und dessen kranke Ideologie möglich machten. Ebenso die moralisch verzwickte Frage der Nürnberger Prozesse: wer hat Schuld? Trotzdem ich viel Filme schaue, kommt mit selten in den Sinn, welche davon im Unterricht gezeigt werden sollten. Bei dem hier hingegen sofort.
Urteil von Nürnberg (OT: Judgment at Nuremberg), USA, 1961, Stanley Kramer, 188 min, (9/10)
Trailer DAS URTEIL VON NÜRNBERG (Deutsch), capelightpictures, Youtube
Überraschenderweise war das meine teuerste Werkschau. Keine Bange, das wird jetzt kein Jammerbeitrag, ich bin jetzt nicht pleite wegen Marlene! Nur die Feststellung, dass es keine der Filme, die ich sehen wollte im Angebot der großen Streaminganbieter gab. So musste ich auch Leih-DVDs zurückgreifen und mal tatsächlich ein paar Discs anschaffen, von denen einige direkt wieder in den Verkauf wandern. Manche Filme wie „Shanghai Express“ und „Marokko“ habe ich gar nicht bekommen und finde das sehr schade. Streaming ist sehr bemüht immer neues rauszuhauen, aber das Defizit im Filmklassikersegment ist deutlich. Klar – Auflösung und Klangqualität sind so-so, aber ist das ein Grund? Ich finde nicht. Bereut habe ich die Werkschau allerdings nicht.
Natürlich begibt man sich mit der Werkschau auch in das dunkle NS-Zeitalter. Immerhin war Marlene Dietrich selber eine Gegnerin des NS-Regimes, lebt und arbeitete dann auch im Ausland, unterstütze die alliierten Truppen. Das kann man nicht von allen ihrer Kolleg:innen sagen. Schaut man sich durch deren Filmbiografien, dann finden sich mehr, die als Unterstützer:innen der Nazis auftraten. Ein eigentümliches Gefühl. Aber umso mehr Grund die Charakterstärke und feste Meinung Marlene Dietrichs zu wertschätzen und das filmische Erbe, dass sie hinterlassen hat. Warum sie als Stilikone galt, erklärt sich durch die Filme wie von selbst.
Leider ist Marlene Dietrich aber auch ein Beispiel für Typecasting. In jedem der Filme, die ich gesehen habe, war sie in irgendeiner Form auf der Bühne. Ein ehemaliges Showgirl, eine Schauspielerin, eine Chansoniere. Klar, wer würde sie nicht gern singen hören? Allerdings passte die Persona der Marlene Dietrich nicht zum Hays Code der US-Filmindustrie, in die sie migrierte. Nach ihren großen Erfolgen der 1930er Jahre wurde sie mehr und mehr in Rollen gedrängt die sie als „gefallene Frau“ zeigen oder was damals darunter verstand. Rollen als Gegenspielerin wurden die Regel, lügen und betrügen, um den gezeigten Lebensstil als kriminell und unmoralisch zu brandmarken. Was sie aber zumindest mMn alle unterschätzt haben: dass Marlene ihre eigene Persona immer mit Eleganz und Würde aufrecht erhielt und letzten Endes alle diese Rollen und auferlegten Bilder dominierte. Marlene Dietrich wird sicherlich unvergessen bleiben.
Zum nachlesen:
Dietrich showed how adopting a persona can reveal one’s true self, Psche Magazine, 21.09.2022
„7ème art“ (Sprich: septième art) heißt „siebte Kunst“. Gemäß der Klassifikation der Künste handelt es sich hierbei um das Kino. In dieser Kategorie meines Blogs widme ich mich also Filmen – evtl. dehne ich den Begriff dabei etwas. Regulär stelle ich zwischen dem 1. und 5. jeden Monats jeweils 7 Filme in kurzen Reviews vor.
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