Ich liebe Manga – und besonders anspruchsvolle japanische Comics mit Humor aber realitatsnahem Stil und mehr als nur einem Twist. Oder in anderen Worten: Manga von Naoki Urasawa. Kein anderer schafft es eine so dichte, rührende und mitreißende Handlung zu kreieren. Das nächste große Plus ist der Zeichenstil, der durchaus Comicneulinge begeistern kann, die sich mit großen-Manga-Kindchenschema-Augen nicht anfreunden können.
Handlung
Kenji führt einen コンビニ („Konbini„, 24-Stunden-Laden, vergleichbar mit einem Supermarkt) und kümmert sich nebenbei um Kana, seine Nichte. Kenjis Schwester hat die Familie verlassen und ihre Tochter ohne ein Wort der Erklärung zurück gelassen. Ansonsten ist Kenjis Leben eher normal, seine Mutter triezt ihn, genauso wie der Manager des Konbini. Eines Tages steht aber die Polizei vor der Tür und befragt ihn zu dem Verschwinden einer Familie, die er üblicherweise beliefert. Kenji ist geschockt und geht am Tatort vorbei. Dort bemerkt er ein Symbol: Eine Hand mit erhobenem Zeigefinger umringt von einem Auge. Er kennt es: seine Freunde und er haben es sich als Kinder ausgedacht. Sie stellten sich vor Superhelden zu sein, die Bösen zu bekämpfen, haben eine geheime Bude gebaut und dort Manga gelesen und Radio gehört. Aber wie kommt das Symbol dorthin?
Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Kenji liest in der Zeitung von dem Tod von Donkey, einer seiner Freunde aus der Kindheit. Ein Selbstmord soll es gewesen sein – unmöglich. Kenji weiß, dass Donkey nicht der Mann für Selbstmord ist. Er beginnt sich umzuhören und nachzuforschen und stolpert schon bald wieder über das Symbol. Damit schmückt sich ein Guru, der stets maskiert auftritt und sich schlicht Freund nennt. Bald muss Kenji erkennen, dass ‚Freund‘ über Leichen geht. Und eine unangenehme Ahnung drängt sich auf: ist Freund einer seiner Kumpels aus der Kindheit?
Hintergrund
Manga von Naoki Urasawa zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der Regel sehr lang sind (22 Bände!), mehr als nur einen Storytwist aufweisen, die fiesesten Cliffhanger haben und sehr viele interessante Charaktere in vielen Nebenhandlungen beherbergen. Dabei fühlt sich keine der Sidestorys unnütz an, was auch an dem guten Storytelling und Timing von Urasawa liegt. Nie dauert eine der Erzählungen oder Rückblenden zu lang. Hier noch ein paar random facts:
Der Titel 20th Century Boys wurde nicht nur gewählt weil die Kinder im 20. Jahrhundert aufgewachsen, sondern auch weil der T-Rex-Song ihr Lebensgefühl beschreibt wie kein anderer. Es gibt eine epische Szene, in der das Himmelfahrtskommando versucht Freund zu stoppen und dabei dieses Lied im Radio hört. Was soll ich sagen? Ich habe ihn auch beim Lesen angehört und war im wahrsten Sinne des Wortes mittendrin.
Musik spielt eine große Rolle in diesem Manga. So wollte Kenji mit seiner Band durchstarten und auch später wird ein Song zum Symbol einer ganzen Protestbewegung. Auch der Mangazeichner Naoki Urasawa selber macht Musik und es gibt eine Vertonung von eben diesem bedeutungsschwangeren Lied.
Das ist nicht die einzige Strategie, die einen geschickt in die Welt von Kenji und seinen Freunden versetzt. So lag beispielsweise in Japan dem Manga ein Zettel mit einer Botschaft bei, die exakt so gestaltet war wie die Botschaft die in eben diesem Mangaband eine enorm wichtige Rolle spielt. Geschickt geschickt. Es haben schon Leute mit aufwändigeren Mitteln weniger Immersion erreicht.
Naoki Urasawas Manga erzählt 4 Zeitebenen: die Kindheit von Kenji und seinen Freunden im Jahr 1971, das Bekanntwerden von Freund 1999 und zwei Zeitsprünge in die Zukunft. Tipp am Rande: Urasawa beendete 20th Century Boys vorzeitig im 22. Band. Zwar ist die Handlung abgeschlossen aber es bleiben noch Fragen ungeklärt und manche Schicksale werden nicht zu Ende erzählt. Der Grund ist laut Gerüchten, dass sich der Autor von Schulter-Verletzungen kurieren und mit dem Zeichnen aussetzen musste. Er macht das aber wieder gut in dem 2 Bände umfassenden 21st Century Boys. Es erzählt die Geschichte nach 20th Century Boys und klärt noch sehr sehr viele Fragen auf.
Meinung
Mir persönlich hat der erste Sprung in die Zukunft ausgereicht, den zweiten Sprung in die noch fernere Zukunft hätte ich persönlich nicht gebraucht und ich empfinde diese Etappe schwächer als die nach dem ersten Zeitsprung. Zudem wirkt es nach den vielen unbeantworteten Fragen und einem zweiten Zeitsprung etwas frustrierend.
Mein ganzes Lob für Naoki Urasawa steht aber – ich liebe diesen Manga! Vor allem wegen den Einzelschicksalen und der genreübergreifenden Story. Ich habe gelacht, meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt und habe mich gegruselt. Diesen Manga habe ich verschlungen wie noch keinen zuvor und er schlägt vom Sucht-Potential locker 80% der Bücher die ich gelesen habe. Wer sich nicht vor dem Lesen einer langen Geschichte fürchtet, findet in 20th Century Boys einen wundervollen Einstieg, der schockiert, Gänsehaut bereitet, in die eigenen Kindheit zurück versetzt und rührt. Die Erzählungen voll grenzenlosem Einsatz für Gerechtigkeit bis zum Zermürben und das Bekunden von Fehlern der Vergangenheit ist so bitter und ehrlich, ihre Kindheitserinnerungen so aus dem echten Leben gerissen, dass dieser Manga wahrscheinlich die Farben meines Sommers 2013 für immer geprägt hat. So stark kann Manga sein.
Also insgesamt: Fantastisch!
„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂
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