Vor Kurzem stieß ich durch einen Tipp in den Kommentaren unter Janas Beitrag zu einer anderen Dystopie („Kallocain“) auf eine Hörspielvertonung von Jewgeni Samjatins „Wir“ („Мы“). Das weckte Erinnerungen. Ich weiß nicht mehr wo ich es gelesen oder mit wem ich darüber gesprochen habe, aber „Wir“ sollte ein Ideengeber zu George Orwells „1984“ sein. Der Fund des Hörspiels mündete also in einem weiteren Impuls, der den „Russischen Herbst“ zu einem „Russischen Winter“ verlängerte und nun scheinbar zu einem „Russischen Frühling“. Und die Eindrücke? Sagen wir mal so: es kommt einem bekannt vor, wenn man „1984“ zuerst gelesen hat.
Das Kollektiv und Ich
In Samjatins Wir leben die Menschen in dem sogenannten Einzigen Staat. Jegliche Individualität wurde abgelegt und gilt als Feindbild, als Ursache für irrationales Handeln, Wünsche, Gier und Unruhen wie die, die zum 200-jährigen Krieg geführt haben. Die Menschen leben nicht als Individuen, sondern als Teil eines Kollektivs. Um sie auseinanderzuhalten gibt es lediglich Nummern, keine Namen. Jegliche Kreativität wird verachtet, Begeisterung als krankhafter Zustand angesehen. Das, was wir heute als klassische Musik bezeichnen, wird im Einzigen Staat als chaotisch und ungeordnet angesehen und als naiv belächelt. Vor Allem der Umstand, dass man sich dafür in rauschhaften Zuständen wie dem der „Begeisterung“ befinden muss. Die Post wird zensiert. Die Teile des Kollektivs werden als „Nummern“ bezeichnet, nicht mehr als Menschen oder Personen. Sie werden in Erziehungsfabriken ausgebildet. Das Wort Schule benutzt niemand mehr. Über Allem steht der sogenannte Wohltäter. Das Staatsoberhaupt, das regelmäßig einstimmig gewählt werden muss. Der Alltag der Nummern ist durchgetaktet. Selbst die Zeit für Fortpflanzung („Geschlechtstag“) und wie lange sie dafür nackt sein dürfen (fünfzehn Minuten). Partner werden einander zugewiesen. Der Protagonist D-503 ist Chefkonstrukteur der „Integral“, eines Raumschiffes, mit dem der Wohltäter seine Überzeugung auch in andere Welt hinaustragen will. Als er eines Tages I-330 kennenlernt, ändert sich einiges für D-503s bis dahin aus Rationalität und Zahlen bestimmtes Leben.
„Die Vernunft muss siegen“
Es sind kleine Dinge. Ein Spaziergang mit I-330, ein unerlaubtes Fehlen, Alkohol – eine verbotene Substanz! Und das Abendkleid in dem I-330 ihn empfängt. Später der Sex mit ihr. Bald schon beginnt D-503 die Eindrücke in seinem Tagebuch zu verarbeiten und muss erkennen, dass er träumt und eigenen Gedanken nachhängt. Er sondert sich geistig vom Kollektiv ab, wird ein „Ich“. Er erkennt I-330 als eine Systemkritikerin und sogar als eine vom Widerstand. Und er geht zum Arzt, meldet sich. Träumen ist schließlich eine gefährliche geistige Krankheit. Er wird als krank eingestuft – in ihm hätte sich eine Seele gebildet und es wird ihm geraten sie entfernen zu lassen. Eine Hirn-OP könne Abhilfe schaffen. Aber er zögert und registriert, dass er tiefer drin steckt als angenommen. Er will I-330 sehen, will seine Träume nicht verlieren – oder benutzt sie ihn nur?
„Warum sollte ich jetzt plötzlich eine Seele haben, wo ich doch bisher nicht daran gelitten habe?“ (D-503)
Sätze wie diese machen, dass einem die Nackenhaare zu Berge stehen. Eine Dystopie, die wahrhaftige Angst auslöst. Wie lange muss so eine Ideologie existiert haben bis sie das Bewusstsein für unser heutiges Empfinden von Moral, einem glücklichen Leben und Gefühlen ausgelöscht oder so stark unterdrückt wird? Dabei ist es nicht das erste Mal, dass ich in einer Dystopie einer solchen verklärten Weltanschauung begegne – und sie verblüfft mich immer noch. George Orwells 1984 erschien aber zwanzig Jahre später als Wir. Er schrieb 1946 eine Review zu Samjatins Buch und verglich es mit Aldous Huxleys Brave New World. Dabei sind auch die Parallelen zu Orwells später veröffentlichten 1984 nicht von der Hand zu weisen.
Aufgeklärt und tot oder stumpf und glücklich?
Die Grundzüge des Antihelden, der von einem Blinden zu einem Sehenden gemacht wird, sind offensichtlich. In beiden Fällen ist es eine Frau, die das Empfinden in dem Protagonisten weckt. Ihr Hinterfragen weckt bei Orwells Vision den vergrabenen Zweifel am System in unserem Held Winston, während I-330 dasselbe so subtil bei D-503 macht, das sich selbst der Leser nicht ganz einig darüber wird, ob alles nur Kalkül war. Der Grundgedanke beider Stoffe bleibt: dass Empfinden, Fantasie, Gefühle, eigenes Gedankengut schwer totzukriegen sind und Teil der menschlichen Natur. Ein Glück. Ein klarer Fall von Nolite Te Bastardes Carborundorum würde ich sagen. Aber in beiden Stoffen gibt es noch eine andere Parallele: die Übermacht des Systems, die (vielleicht?) den Helden oder die Revoluzzer drankriegt.
Es ist frappierend wieviel von Wir in 1984 steckt. Vom Wohltäter zu Big Brother, von gläsernen Häusern zu Totalüberwachung und der thought police. Man könnte denken, dass der geschätzte George Orwell sich etwas zu stark hat inspirieren lassen und dass man schon fast von einem Plagiat sprechen müsse. Aber in einigen Punkten unterscheiden sich die Geschichten genug. So fühlt sich beispielsweise Samjatins Buch deutlich mehr nach Science Fiction an – nicht zuletzt durch die Erwähnung der Raumschiffe. Was Samjatin sprachlich und an narrativer Konsistenz fehlt, holt Orwell nach. Samjatins Handlung ist nicht sehr dicht. Kurz und prägnant, aber manchmal ist nicht klar wie ein Gedanke zur nächsten Handlung führt. Kleine Momente, deren Deutung schwierig ist entfremden. Angaben wie, dass die Mitglieder von MEPHI (=Widerstand) sich als Nachfahren der Antichristen sehen, entfremden umso mehr. Woher kommen solche Eindrücke? Naheliegend wirken sie nicht. Orwell hingegen hat einen Hauch Poesie, der einen den Mangel an lebenswertem noch deutlicher vor Augen führt. Während Samjatin Sprache verwendet, um dem Leser zu verstehen zu geben wie der Charakter der Umwelt ist (als Ergebnis), nutzt Orwell das sogenannte Newspeak als Instrument (Quelle), um unbemerkt eine Ideologie in die Köpfe der Menschen zu pflanzen.
Während sich also Orwells 1984 geschmeidig wie Honig und Butter liest und auf der Zunge zergeht und der Vorlage Tiefe gibt, hat Samjatin den Zeitgeist seiner Ära prophetisch eingefangen. Auch, wenn es sich weniger gut liest, weniger durchdacht ist, scheint er offensichtlich Vater des Gedanken zu sein. 1920 erschien seine Dystopie und liest sich wie eine Kritik an der stalinschen Diktatur, obwohl der erst später an die Macht kam. Zu dem Zeitpunkt war Samjatins Wir schon lange verboten. Sogar von vornherein verboten. Auch wenn Samjatin der Ruhm verwehrt blieb, er sogar aus seiner Heimat fortgejagt und gescholten wurde und früh starb, bleibt seine Dystopie vielleicht die Mutter der Dystopien und sein Vordenken einzigartig. Leider konnte ich nicht herausfinden, ob die von mir gehörte Version des Stoffs eine gekürzte ist und habe daher keine Vorstellung, ob ich gemessen an der Printfassung etwas verpasst habe. Gegen Ende der Vertonung wurden die Beteiligten als Helmut Swoboda – zuständig für das Manuskript und folgende Sprecher genannt: Rita Russek als I330, Eva Astor als O-90, Vadim Glowna D-503 und Thomas Reiner als R-13. Über Swoboda konnte ich dann die Hörspielfassung als die von 1985 aus dem Bayerischen Rundfunk zuordnen – eine wie ich finde beachtliche und atmosphärische Version mit starken Stimmen.
Bisherige Artikel der Beitragsreihe
I: Ankündigung
II: Sachbuch-Besprechung zu „Russische Geschichte“ von Andreas Kappeler
III: Hörbuch-Besprechungen zu Sergei Lukjanenkos Wächter-Reihe Band 1 „Wächter der Nacht“
IV: Fjodor Dostojewskij „Der Spieler“
V: Natascha Wodin „Sie kam aus Mariupol“
VI: Michail Bulgakow „Der Meister und Margarita“
VII: Serhij Zhadan „Internat“
VIII: Serien-Besprechung „The Romanoffs“
IX: Film-Besprechung „Stalker“ (Andrei Tarkowski)
X: Vladimir Sorokin „Der Schneesturm“
XI: Fjodor Dostojewskij „Verbrechen und Strafe“
XII: Film-Besprechung „Panzerkreuzer Potemkin“
Header image photo credit: Anton Murygin
Obwohl ich ein großer Fan von Orwells „1984“ bin, habe ich kurzzeitig etwas Vorbehalte entwickelt, während ich „Wir“ hörte. Die Ähnlichkeiten sind schon krass. Man erkennt ganz klar, dass „Wir“ nicht nur eine Inspiration für Orwell war, sondern eine Vorlage. Normalerweise bin ich bei sowas nicht zimperlich und falle schnell vom Glauben ab. Plagiate sind übel. Aber wie oben beschrieben war nach hinten raus die Note, Atmosphäre und alles was Orwell in „1984“ gesteckt hat immer noch eine enorme Leistung. Inzwischen sehe ich es so, dass er „Wir“ weitergedacht hat. Und auch wenn es „1984“ wohl nicht ohne „Wir“ gegeben hätte, bleibt es für mich ein fantastisches Werk. Ebenso fantastisch wie der Umstand, dass Samjatin seine Vision 1920 aufschrieb. Das jährt sich bald mit einer runden Zahl: 100 Jahre! Interessant wäre jetzt noch zu sehen wie „Brave New World“ ist. Das Buch steht schon im Regal und ich bin gerade schwer neugierig … .
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