Was Animefilme betrifft, geht offenbar immer das eine oder andere an mir vorbei. Als ich „Hello World“ und „Her Blue Sky“ im Programm der Nippon Connection sah, kannte ich beide Titel erstmal nicht. (Die anderen aber übrigens schon.) Von allen Animationstiteln im Programm zogen sie und „The Night Is Short, Walk On Girl“ von Masaaki Yuasa am meisten meine Neugier und Aufmerksamkeit auf sich. Da letzterer bereits in Deutschland ein BluRay-Release genoss während die anderen mitunter Deutschlandpremieren sind, fiel meine Wahl daher auf die beiden ersteren. Und ich gestehe, dass sich mein Informatikerinnen-Ich sehr von einem der Filmtitel angesprochen fühlte … Besprechungen sind natürlich spoilerfrei.
Hello World
Der Oberschüler Naomi Katagaki lebt im Jahr 2027 in Kyōto. Er ist ein herzensguter Typ, hat aber kein großes Durchsetzungsvermögen. Da taucht eines Tages ein Mann auf, den offenbar nur er sehen kann und behauptet sein zehn Jahre älteres Selbst zu sein. Genauer würde der Naomi der „Gegenwart“ nur in einer Simulation der Gegenwart leben. Der nimmt diesen Fakt gelassen. Für ihn fühlt es sich trotzdem wie „sein“ Leben an. Naomi aus der Zukunft aber wendet sich nicht ohne Grund an sein jüngeres, digitales Ich. Er bittet ihn ein furchtbares Unglück wenigstens in der Simulation zu verhindern, dass Ruri, der Liebe seines Lebens, widerfahren wird. Allerdings sind Naomi und Ruri noch nicht einmal ein Paar.
„Hello World | Official Anime Movie Trailer I“, via King Ogami (Youtube)
Die Verkupplungsversuche nach „Lehrbuch“ sind schon charmant anzuschauen. Naomi blüht unter der Zuwendung Ruris auf und fühlt sich verstanden. Denn beide teilen nicht nur die Leidenschaft zu Literatur, sondern haben auch sehr individuelle Spleens, die sich sagen wir mal gut ergänzen. 🙂 Der Film fühlt sich aber als eine zu bemühte Mischung aus Das Mädchen, das durch die Zeit sprang; Inception und Your Name an. Da gibt es virtuelle Welten, bis zur letzten Sekunde immer wieder alles verändernde Twists und „over-explaining“. Insbesondere durch letzteres entstehen mehr Logiklücken als man bereit ist zu akzeptieren, die den Zuschauer müde machen und den Film viel länger wirken lassen als er ist. Die Liebesgeschichte und Charaktere geraten ins Hintertreffen. Auch der geheime Plan des Naomi aus der Realität bzw aus der Zukunft ist höchst hanebüchen und ein bisschen „meh“. Informatikern mögen beim Titel Hello World die Ohren Klingeln. So ist die Zeile doch eine beliebte Phrase für Code-Beispiele und Ausgaben aus dem System. Die (mehreren) Erklärungen dafür sind schon cool, aber lassen uns nach sovielen Twists längst nicht mehr so aufhorchen wie erhofft. Manchmal ist weniger mehr. Immerhin gibt es einige schöne Animationen Kyōtos zu sehen – inklusive berühmter Ziele wie des Fushimi Inari Schrein. 🙂
Hello World (OT: ハロー・ワールド), Japan, 2019, Tomohiko Ito , 98 min, (5/10)
Her Blue Sky
In manchen Momenten wünscht man sich die Zeit würde stehen bleiben. Alles so sein wie in diesem Moment. Für die Schwestern Akane und Aoi ist dieser Moment vorbeigezogen und die Realität schlug hart zu. Sie verlieren ihre Eltern bei einem Unfall als Akane gerade mal um die achtzehn Jahre alt ist und Aoi noch klein. Fortan sorgt Akane für ihre Schwester und trennt sich von ihrem Freund Shinno, bevor dieser nach Tokio zieht. Viele Jahre später bereut Aoi, dass Akane ihre Pläne für sie aufgegeben hat. Dreizehn Jahre sind vergangen – von Shinno ward nie wieder gehört, Akane ist immer noch allein. Aoi spielt Bass-Gitarre, angestachelt durch die Erinnerung an Shinno, dessen Band und eine glückliche Akane. Als sie eines Tages im alten Probenraum der Band von damals übt, scheint die Zeit wirklich dreizehn Jahre stehen geblieben zu sein, als ein gerade mal achtzehnjähriger Shinno vor ihr steht, der seiner Erinnerung nach nur eine Nacht verschlafen hat und keine dreizehn Jahre.
„“HER BLUE SKY“ – English Trailer 【Fuji TV Official】“, via フジテレビ番組動画 (Youtube)
Anfangs denkt Aoi, dass der „junge“ Shinno ein Geist sein müsse. Dummerweise steht anlässlich eines Volksfestes bald eine Band vor der Tür, die auftreten soll. In der der echte Shinno der Gegenwart spielt. Aber der Unterschied zwischen dem Shinno von früher und aus der Gegenwart könnte kaum größer sein. Shinno aus der Vergangenheit liebte Akane, sparte nicht mit Zuneigung und Optimismus und träumte von einer Zukunft als Musiker in Tokio. Der Shinno der Gegenwart ist an der Branche gescheitert. Er begleitet einen Enka-Sänger auf der Gitarre und verdient gut, aber er spielt nicht „seine“ Songs. Er ist gebrochen vom fehlenden Erfolg und gezeichnet von der Realität. Macht Akane plump an und als das keinen Erfolg zeigt, treibt er sich lieber mit Hostessen rum. Ist das derselbe Mensch? Aoi versucht den plötzlich materialisierten jungen Shinno zu verbergen. Beide vermuten, dass die Lösung ist Shinno und Akane wieder zusammen zu bringen. Die starken Motive des Films bleiben allerdings neben allerlei Herzschmerz die Liebe und Fürsorge der Schwestern zueinander und auch das Motiv wie die Zeit den Menschen verändert und wie ungnädig sie mit Träumen und Hoffnungen umgeht. Und das ist eine wunderbar gelungene Mischung, die fast für jede Zuschauer-Generation einen Identifikationspunkt und eine eigene Dramatik bietet.
Das Bildnis Shinno in jung und Shinno mittleren Alters sowie das Verstecken des jungen Shinnos sorgt für eine Prise Slapstick, wohingegen die herrlich unbekümmerte Art der großen Schwester Akane und die der rotzigen jüngeren Schwester Aoi für den restlichen Comic Relief sorgt, aber auch zu sehr rührenden Momenten beiträgt. Das Character Design, die lebendige und allzeit hochqualitative Animation und die Dramaturgie sind eine Kür – volle Punktzahl. Ob der Film nun noch mehr Liebestheatralik und Verwicklungen gebraucht hätte? Das nicht unbedingt. Aber es schadet dem Film auch nicht – die Beurteilung dessen liegt wohl individuell beim Zuschauer. So oder so ist Her Blue Sky eine Ode an die Familie und das Dilemma der Lebensentscheidungen und -wege, sendet aber nach hinten raus die schöne Botschaft, dass es nie zu spät ist. Ein wirklich schöner Feelgood-Anime.
Her Blue Sky (OT: 空の青さを知る人よ „Sora no Aosa o Shiru Hito yo“), Japan, 2019, Tatsuyuki Nagai, 108 min, (8/10)
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Ja also die Freude meines Informatiker-Ichs über den Titel „Hello World“ hat sich offenbar etwas abgekühlt. 🙂 Welche Animefilme habt ihr kürzlich gesehen? Und falls ihr auch der Nippon Connection online beigewohnt habt, welche Anime habt ihr geschaut und wie haben sie euch gefallen? Kleine Feststellung am Rande: Japan setzt seine Schauplätze im Anime wirklich wunderbar in Szene. Ob Kyōto in „Hello World“ oder das herbstliche Saitama in „Her Blue Sky“ – sehr atmosphärisch. Achtung: erzeugt Fernweh.
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