Russischer Herbst/Ukrainischer Herbst: Fazit

Auslöser für die Aktion „Russischer Herbst“ war, dass ich über die russische Geschichte so gut wie gar nichts wusste. Nie konnte ich einordnen welcher Zar wann gelebt hat und wann die Revolution war, etc. Ebenso stand es um die russische Literatur. Darunter befinden sich so viele oft adaptierte und zitierte Klassiker. Es wird mit dem Begriff Weltliteratur um sich geworfen und doch hatte ich nie etwas davon gelesen. Als in mehreren Büchern deiniger von mir geschätzter Autoren Dostojewskij erwähnt wurde und auch weil ich aus persönlichen Gründen angefangen hatte Russisch zu lernen, drängte es sich förmlich auf, sich mal mehr mit der russischen Kultur zu beschäftigen. So kündigte ich am 1. September 2018 an mich den ganzen Herbst über mit russischer Literatur, eventuell Filmen und der Geschichte zu beschäftigen. „Herbst“. Ja, schaut wo wir jetzt sind …

Literatur

17 Artikel sind es letzten Endes geworden, die der Russische Herbst umspannt (diesen mitgerechnet). Und wenn ich jetzt nicht gesagt hätte „reicht“, dann hätte ich im Grunde noch das Jahr voll machen können. Wo hat die Auseinandersetzung mit einer ganzen Geschichte, Kultur und Gesellschaft ein Ende? In jedem Fall ist der Russische Herbst gewachsen. In der Ankündigung sprach ich noch von zarten vier Büchern und zwei Hörbüchern. Ich begann mit Andreas Kappelers Buch über die Russische Geschichte, dem es wirklich gelingt auf wenig Seiten einen Überblick zu geben. Dank des Buches konnte ich einiges zeitlich einordnen, auch wenn sicherlich viele Details fehlen. Außerdem vermittelte es Eindrücke über bestimmte gesellschaftliche und wirtschaftliche Themen. Für meine Aktion ein hilfreicher Einstieg. Die Themen Landwirtschaft und Lebensmittel- und Wohnungsknappheit begegneten mir sogar sehr bald in der Literatur. Beispielsweise in Natasha Wodins Sie kam aus Mariupol, das ich mir als Hörbuch gab und das eine wirklich spannende wie auch erschütternde Erfahrung war. Die Lage der verschleppten Ukrainer, die in Zwangslagern in Deutschland arbeiten mussten und auch die Behandlung Andersdenkender sowie die prekären Umstände während und nach der Revolution haben mich geschockt und sehr berührt. Ich werde nie eine gewisse Szene vergessen, in der erwähnt wird wie verzweifelt die Menschen waren und was sie aus blindem Hunger alles versucht haben zu essen. Das Thema Wohnungsknappheit und der Umgang mit Medien und Kritik wird hingegen in Bulgakows Der Meister und Margarita genial aufgegriffen. Auch hier gibt es einige Szenen, die ich nie vergessen werde – facettenreiche, tragische, witzige und erschütternde.

Nicht ganz so abgeholt hat mich Lukjanenkos Wächter-Reihe. Auch hier brachte ich es nur fertig den ersten Band (gesplittet in drei Hörbücher!) zu hören und beschloss zum zweiten Mal die Reihe nicht weiterzuverfolgen. Habt ihr Empfehlungen für andere russische Fantasy? Mit der Lukjanenkos werde ich scheinbar einfach nicht warm. Ähnlich schwierig war leider auch meine erste Begegnung mit Dostojewskij. Ich dachte ursprünglich, dass es ein schöner Gegenentwurf wäre nicht mit seinen bekannteren Mammutwerken anzufangen. Aber Dostojewskijs Der Spieler wirkt etwas unausgegoren. Es gibt einen Eindruck wie Dostojewskij sein kann, aber mehr auch nicht. Da waren die biografischen Ausführungen des Übersetzers Alexander Nitzberg vielleicht sogar interessanter. Normalerweise wäre ich an der Stelle „durch“ gewesen mit dem Russischen Herbst. Ich hätte noch Anna Karenina gelesen, was (bewusst) den Abschluss bilden sollte, aber mehr nicht. Irgendwas ist dann passiert …

Ich bemerkte, dass die Auseinandersetzung mit der Ukraine zu kurz kam. Da ich auf einer der Leipziger Buchmessen den ukrainischen Autor Serhij Zhadan live erlebt hatte, wollte ich unbedingt etwas von ihm lesen. Es ist nicht allzuviel auf Deutsch verfügbar. Meine Wahl fiel auf Das Internat. Eine bedrückende und brisante Lektüre, die ohne Namen und Nationalitäten zu nennen den Russisch-Ukrainischen Konflikt abbildet, der ,das sollten wir nicht vergessen, schon viele Jahre vor sich hinschwelt. Und immer noch kein wirkliches Ende gefunden hat. Auf eine Empfehlung hin hatte ich auch meine erste Begegnung mit Vladimir Sorokin. Mir wurde sein Der Schneesturm empfohlen, das einen Hauch Science-Fiction in den Russischen Herbst (inzwischen Winter) brachte, was mir sehr gelegen kam. Obwohl es ein vom Umfang her dünnes Buch ist, erzählt es viel. Gibt Mentalität mit auf den Weg, ist witzig wie auch tragisch und überrascht mit der Offenbarung, dass es eben nicht im 19. Jahrhundert spielt wie es anfangs klingt, sondern offenbar in der Zukunft. Inzwischen liegt bereits noch was von Sorokin auf meinem SuB und steht auf dem Wunschzettel. Ich bin angefixt.

Es ergab sich dann irgendwie, dass sich eine Leserunde zu Fjodor Dostojewskijs Verbrechen und Strafe (ehemals Schuld und Sühne) zusammenfand. Naja und was soll ich sagen … es ist sein wohl bekanntestes Werk, der Russische Herbst lief ja noch und zusammen macht es im Zweifelsfall mehr Spaß. War auch so. Es war zäh. Die Vorschusslorbeeren kann ich nur bedingt weitergeben. Aber durch die kritische Auseinandersetzung mit meinem Mitlesern der #Dostopie genannten Leserunde habe ich viel gewonnen. Danach gönnte ich mir eine Pause und schaute stattdessen mehr russische Filme. Inzwischen ist Frühjahr. Zumindest das Hörbuch Wir von Jewgeni Samjatin gönnte ich mir. Es ist ganz klar eine gedankliche Vorlage zu Orwells 1984, wobei letzteres noch einige andere Qualitäten hat. Auch das Hörbuch kreuzte ganz zufällig in der Blogosphäre meinen Weg. Ich wollte den Russischen Herbst quasi gar nicht verlängern. Das hat er von selbst gemacht 😉 Und da es seit jeher den Abschluss des russischen Herbst bilden sollte, begann ich im April/Mai Anna Karenina zu lesen. Auch hier wieder innerhalb einer Leserunde, die sich auf der Leipziger Buchmesse und durch die sozialen Netze bildete. #LeoUndAnna hat auch wieder sehr viel Spaß gemacht. 🙂 Und das Buch war wirklich ein großartiger Abschluss, schon alleine weil es sich viel angenehmer liest als erwartet und ein sehr deutliches und erschreckendes Bild zeichnet wie gleich Menschen sein können, aber wie unterschiedlich die Gesellschaft sie bewertet und behandelt. Und letzten Endes in den Ruin treibt.

Film und Serie

Dass ich mir im Zuge des Russischen Herbstes Stalker von Tarkowski anschauen wollte, stand fest. Es bleibt auch der Film, der mich am meisten gefesselt hat und der seine ganz eigene eigentümliche Atmosphäre aufgebaut hat. Wie ein Sog. Großartig gefilmt, großartige Bilder. Im Gegensatz dazu war es mehr ein Zufall, dass Matthew Weiners Serie The Romanoffs anlief, die mich aber nicht so abholen konnte. Man erkennt aber sicherlich die gut gemeinten Motive und manche Folgen sind stärker als andere. Vielleicht es aber auch zum Scheitern verurteilt, wenn Menschen, die selber nicht in der russischen Kultur aufgewachsen sind, meinen sie erzählen zu können. Mit dem klassischen russischen Film am Beispiel von Panzerkreuzer Potemkin verband sich Propaganda und Filmkunst. Eine unerwartete und daher beeindruckende Mischung. Ein relativ aktueller Film sollte es auch noch sein: Leviathan erzählt von Amtsmissbrauch und Ohnmacht und ist damit wohl erschreckend aktuell. Und wie man mir sagte authentisch. Bitter. Alle drei Filme waren spannend und interessant, aber nicht unbedingt leichte Kost. Ich suche ihn immer noch – den lockeren, witzigen russischen Film. Und die von weiblichen Regisseuren.

Das „Bigger Picture“

Tatsächlich hätte ich weitermachen können. Im Regal lacht mich immer noch Metro 2033 von Dmitry Glukhowsky an, um mal nur ein Beispiel zu nennen. Ich habe auch von den Lesern hier sehr viele Empfehlungen bekommen und hätte noch eine Menge Filme, die ich schauen möchte. Aber es fühlt sich richtig an den Russischen Herbst zu beenden, bevor er sich jährt. Sei es nur um das Fazit zu ziehen, denn ich werde sicherlich weiter russische Autoren lesen – jetzt erst recht. Aber im Moment ergibt sich für die Aktion „Russischer Herbst“ ein Gefühl der Geschlossenheit. Ich bin an jedem Thema, das ich gesucht habe, mindestens einmal vorbeigekommen und ein Gefühl, dass ich die Mentalität ein bisschen mehr verstehe, geschichtliche Aspekte besser einordnen kann und jetzt mitreden kann, was die Werke zeitgenössischer wie klassischer Autoren betrifft. Ich habe viel kennen gelernt, was die Neugier weiter anheizt und durch die Auseinandersetzung einiges gewonnen. Vielleicht ihr ja auch? Das Schreiben hat nicht nur bei den Leserunden, sondern auch im Blog einige Gedanken verdichtet und Interpretationen geboren. Gerade jetzt muss ich sagen: ziemlich gute Mischung. Viel lesen, viel sehen, viel darüber sprechen und schreiben. Ein ziemlich lohnenswertes Ding! Ich bin oder war ja auf der Suche nach dem nächsten großen Thema, habe es aber vielleicht schon gefunden

Bisherige Artikel der Beitragsreihe

I: Ankündigung
II: Sachbuch-Besprechung zu „Russische Geschichte“ von Andreas Kappeler
III: Hörbuch-Besprechungen zu Sergei Lukjanenkos Wächter-Reihe Band 1 „Wächter der Nacht“
IV: Fjodor Dostojewskij „Der Spieler“
V: Natascha Wodin „Sie kam aus Mariupol“
VI: Michail Bulgakow „Der Meister und Margarita“
VII: Serhij Zhadan „Internat“
VIII: Serien-Besprechung „The Romanoffs“
IX: Film-Besprechung „Stalker“ (Andrei Tarkowski)
X: Vladimir Sorokin „Der Schneesturm“
XI: Fjodor Dostojewskij „Verbrechen und Strafe“
XII: Film-Besprechung „Panzerkreuzer Potemkin“
XIII: Jewgeni Iwanowitsch Samjatin „Wir“
XIV: 5 Erkenntnisse über das Erlernen der russischen Sprache und Lerntipps
XV: Film-Besprechung „Leviathan“
XVI: Leo Tolstoi „Anna Karenina“

Header image photo credit: John-Mark Smith

Mal so euch als Leser gefragt – habt ihr auch etwas aus dem „Russischen Herbst“ mitnehmen können? Aus meinem Blabla hier? 😉 Welche/n russische/n oder ukrainische/n AutorIn habe ich vergessen und sollte ich unbedingt nachholen? Habt ihr euch auch schon mal länger mit einem gewissen Thema auseinandergesetzt? Welches war es? Was habt ihr daraus gewonnen?

6 Antworten

  1. Tolles Projekt, finde es auch klasse, dass du das so konsequent durchgezogen hast!

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Vielen Dank! 😀 Hat auch Spaß gemacht. Aber nach so einer längeren Auseinandersetzung mit einem Thema oder sei es auch nur einfach ein Buch ist es auch mal wieder schön was anderes zu machen XD

  2. Liebe Stefanie,

    eine schöne Übersicht und Auswahl und interessant Deine Eindrücke zu lesen. Vladimir Sorokin hört sich echt gut an, der Autor sagt mir bisher noch gar nichts. „Anna Karenina“ fand ich auch top und sehr angenehm zu lesen. Dostojewski war hingegen nicht mein Fall. Was Du unbedingt noch lesen musst ist Oblomow, das fand ich auch ein echtes Meisterwerk. Mit Bulgakows magischen Realismus konnte ich nichts anfangen, ich hab von ihm „Das hündische Herz“ gelesen und das war so gar nicht mein Fall. Ein echter Geheimtipp ist Gasdanow, seine Bücher sind wunderbar, die habe ich alle verschlungen.

    Die russische Literatur hat eine Menge zu bieten, damit bin ich auch ganz sicher noch nicht durch, das steht fest. Ich lege mich aber eher selten nur auf eine Richtung fest. Nach ein paar Bücher fängt das an langweilig zu werden, dann greife ich doch immer ganz gerne zu ganz etwas anderem.

    Liebe Grüße
    Tobi

  3. […] erstaunlich lange an. Wurde ein russischer Winter, Frühling und letzten Endes gar Sommer. Das Fazit zum Russischen Herbst zog ich dann erst im Juni. Warum? Weil die Liste der Medien, mit denen ich mich auseinandersetzen […]

  4. […] öfter denke ich an den Russischen Herbst hier im Blog zurück. Das fast ein Jahr andauernde Leseprojekte und meine ersten Berührungspunkte […]

  5. […] ihr das? Was ich auch gern machen würde ist wieder so eine Art Themenwoche wie früher mal den Russischen Herbst. Ob dafür Zeit ist? Und was ist das Thema? Mal schauen … […]

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