Charles Dickens „David Copperfield“ ist neben seiner Weihnachtsgeschichte erst das zweite Buch von ihm, das ich gelesen habe. Trotz seiner Längen und einiger sagen wir mal etwas einfach gestrickten dramaturgischen Entscheidungen, hat mir der Roman sehr gefallen und wurde eins meiner liebsten im vergangenen Jahr gelesenen Bücher. Das liegt hauptsächlich an der Art von Dickens konstruierter Geschichte nie nur hoffnungslos zu sein, sondern auch komödiantisch und dramatisch. Denn soviel steht fest: der titelgebende David Copperfield durchlebt Höhen und Tiefen. Und davon viele – und schnell. Inzwischen habe ich mir zwei Verfilmungen angeschaut und möchte die hier besprechen und mit der Literaturvorlage vergleichen. Denn wie so oft sind die Herangehensweisen und Unterschiede spannend anzusehen.
Kurzbesprechungen der Filme
David Copperfield
Alle Quellen behaupten etwas anderes. Manche nennen Simon Curtis Adaption einen Fernseh-Mehrteiler, andere eine Mini-Series und wieder andere eine (vollwertige) Serie. Am ehesten fühlt es sich aber nach einem Fernseh-Mehrteiler an, der in 180 min verteilt auf zwei Filme das Leben David Copperfields als klassisches Period Piece erzählt, das nah an der Vorlage bleibt. Der junge David wird von Daniel Radcliffe verkörpert und seine Geschichte hauptsächlich im ersten Teil erzählt, während sich der zweite dem erwachsenen David widmet – hier gespielt von Ciarán McMenamin. Die Adaption ist übrigens eine Produktion der BBC.
„David Copperfield trailer with Daniel Radcliffe“, via VHS Gold (Youtube)
Auch ansonsten ist der Film mit vielen bekannten Gesichtern der britischen Kinolandschaft besetzt wie Maggie Smith als Betsey Trotwood, Bob Hoskins als Wilkins Micawber, Imelda Staunton als dessen Frau und Ian McKellen als Schuldirektor Mr. Creakle. Mit gleichbleibender Spannungskurve und ohne größere Höhen und Tiefen erzählt er das eigentlich sehr bewegte Geschichte Davids als Adaption eines Entwicklungs- und Historienromans „wie man ihn erwartet“. Das ist einerseits gut und ich kann jedem empfehlen den Blick zu riskieren, aber er hätte auch etwas pointierter und spannender ausfallen können. Sprich: er plätschert so vor sich hin. Wie zu erwarten war begeistert am meisten Maggi Smith als Betsey Trotwood und Sir Ian McKellen. Beide erlauben es sich am ehesten so aus sich herauszugehen wie es die Buchvorlage voll skurriler Charaktere vorlebt. Der Rest ist fast schon zu „angepasst“ an das typische, gediegene Bild eines Kostümdramas.
David Copperfield, UK, 1999, Simon Curtis, 180 min, (7/10)
David Copperfield – Einmal Reichtum und zurück
Als ob es dieses Kleinod an Film nicht gegeben hätte, sprechen alle nur darüber, dass Bridgerton farbenblind gecastet wurde. Dabei hat man das auch für David Copperfield – Einmal Reichtum und zurück getan. Dev Patel mimt den erwachsenen David Copperfield, der nach dem Tod seiner Mutter (Morfydd Clark) unter der Fuchtel des strengen Stiefvaters in Kinderarbeit und Armut abgleitet, bevor er beschließt sein Schicksal von nun an selbst zu lenken. Auf diesem Weg begleiten ihn zahlreiche Gestalten. Seine unkonventionelle Tante Betsey Trotwood wird von Tilda Swinton verkörpert, Mr. Dick von Hugh Laurie, Peter Capaldi spielt den Mr. Micawber, Gwendoline Christie eine wirklich hervorragend bissige Miss Murdstone, Ben Whishaw spielt einen hier übrigens nicht rothaarigen Uriah Heep (mir wäre das ja egal, aber die Haarfarbe wird im Buch häufig betont), Rosalind Eleazar eine hinreißend selbstbewusste Agnes und Benedict Wong ihren Vater Mr Wickfield.
„THE PERSONAL HISTORY OF DAVID COPPERFIELD | Official Trailer | Searchlight Pictures“, via SearchlightPictures (Youtube)
Was für ein Cast! Größen neben Newcomern, soviele Ethnien vertreten – einfach wunderbar. Gibt es da draußen Spötter und Kritiker, die meinen, dass dann keine vorlagengetreue Umsetzung möglich ist!? Sicherlich. Aber erstens: was ist vorlagengetreu und wer kann das bewerten? Und zweitens: für mein Empfinden ist es absolut vorlagengetreue und neben der wünschenswerten Repräsentation unterschiedlicher Ethnien sogar mehr im Sinne der Vorlage. Ihre unterschiedlichen Hautfarben sind wie das perfekte Stilmittel um zu versinnbildlichen, dass David seine Familie in Menschen fand, die nicht mit ihm blutsverwandt sind – aber deswegen nicht weniger eine Familie. Davon mal abgesehen nimmt sich Armando Iannuccis Adaption einige Freiheiten was den zeitlichen Ablauf der Geschehnisse betrifft, spart einige Charaktere aus, gibt anderen mehr Plattform und vor Allem setzt er den Fokus auf Identität.
Es wird mehrmals für David eine Frage des „Wer bin ich?“ Eine überraschend passige Note, schließlich ist im Buch durchaus auffällig wieviele unterschiedliche Namen David von den Menschen in seinem Leben bekommen hat. Es wird etwas dauern bis er zu dem Schluss kommt, dass er nicht Betsey, Davey, Daisy oder Trotwood, sondern David Copperfield ist. Der zweistündige Film setzt dabei auf ein rasantes Erzähltempo, viele Metaphern und die Montagen und Schnitte verleihen dem Film stets das Gefühl als würde man ein Theaterstück betrachten. Mitsamt Kulissenwechseln, Projektionen wie im Kino statt Flashbacks und einem allgemein sehr flotten, komödiantischen Erzählton. Armando Iannucci adaptierte das Drehbuch zusammen mit Simon Blackwell und hat damit an einigen Stellen bewiesen, dass er das Buch vielleicht besser versteht als … wir alle?
David Copperfield – Einmal Reichtum und zurück (OT: The Personal History of David Copperfield), USA/UK, 2019, Armando Iannucci, 119 min, (9/10)
Vergleich der Motive
Freunde der Kunst – die Besprechungen geben schon etwas Aufschluss darüber wie unterschiedlich die Verfilmungen tatsächlich sind. Ihr könnt es gar als TLDR; betrachten, wenn ihr mögt. 😉 Für geneigte Leser gibt es nachfolgend aber noch einen „Deep Dive“ in einige der zentralen Bestandteile der Filme und des Buches. 😉 Ab hier sind außerdem milde Spoiler zu erwarten.
„Vorlagengetreue“
Wie schon oben mal angerissen sollte Vorlagengetreue kein Maß für eine „gute Umsetzung“ sein, weil es die absolute Vorlagengetreue meiner Meinung nach nicht gibt. Ebenso wenig wie historiengetreue Umsetzungen. Oder anders ausgedrückt: vielleicht kann eine Adaption irgendwo auf einer Skala mehr oder weniger getreu sein als eine andere, aber 100% wird es nie geben, egal ob man es an der Vorlage misst oder der Geschichte. Welche Freiheiten für Änderungen sich eine Adaption herausnimmt, ist aber schon spannend anzusehen. Die 1999er Verfilmung adaptiert den Roman ziemlich vorlagengetreu was die zeitlichen Abläufe und das Schicksal der Charaktere betrifft, aber es ist weitaus weniger witzig und die Charaktere etwas gediegener und weniger skurril als im Buch. Um dann also alle Passagen aus David Copperfields Leben zu erzählen, wurde daraus ein Fernseh-Zweiteiler. Ist ja auch viel Holz.
Armando Iannuccis Adaption aus dem Jahr 2019 geht einen anderen Weg und biegt den Zeitstrahl durchaus um. So legt es kurzerhand Davids Schulbesuche zusammen und macht aus zwei Schulen eine. Erst als er schon ein junger Mann ist, begegnet er Steerforth in einer (etwas verfallenen) Schule für Gentleman. Wohin schicken ihn dann aber die Murdstones? Gleich in die Fabrik zur Kinderarbeit, wo es auch zu der klassischen Szene kommt in der David das Schild mit der Aufschrift „He bites“ tragen muss. Er arbeitet so lange in der Fabrik, dass der Film hier zwischen den Altersstufen wechselt und Kinderdarsteller Jairaj Varsani gegen Dev Patel wechselt, was dem Leser und Zuschauer das Gefühl gibt, dass die Handlung massiv zeitversetzt wurde. Und sein Leiden noch größer macht, denn so entsteht der Eindruck, dass David überhaupt keine Kindheit hatte. Das ist einerseits sehr effektiv, andererseits für Kenner der Vorlage etwas befremdlich. Dev Patels Rede in der Fabrik: wow! So kommt es übrigens auch, dass sich das Kennenlernen mit Steerforth und Uriah Heep erst recht spät ereignet.
Die Machart
Neben allem bereits erwähnten ist in punkto Machart am auffälligsten wie rasant die 2019er-Adaption ist und wie sie mit filmischen Mitteln und Davids Perspektive spielt. Für den kleinen David ist beispielsweise das Boot in dem Peggottys Familie lebt gefühlt riesengroß, bunt und so skurril und schön wie eine Fantasylandschaft. Als er erwachsen und offenbar größer ist, stößt er sich den Kopf an den Balken, das Bootshaus wirkt bei Weitem nicht mehr so groß und auch nicht mehr so bunt. Er hat inzwischen auch Armut und die Differenz zu „Reichtum“ kennengelernt und sieht das Leben der Fischer mit realistischeren Augen als ein Kind.
Von Anfang an wird Davids Leben rückblickend wie ein Theaterstück erzählt oder viel mehr wie die Inszenierung des Buches, das David später schreiben wird. Dementsprechend sind auch manche Szenen wie eine Bühne angerichtet – und manchmal gibt es Publikum. Szenen werden auch entsprechend verfremdet und einige starke Montagen gemacht. Wenn beispielsweise Mr. Murdstone in das Leben der Copperfields kommt, durchbricht er die Szene wie ein Riese und reißt Davy förmlich raus. Visuell stark, aber zugegebenermaßen erfordert es auch eine Menge Vorstellungskraft. Bei so rasanten Inszenierungen mit soviel kreativen Freiheiten, lässt sich schwer sagen, ob es ein Segen oder hinderlich ist die Vorlage zu kennen!? In jedem Fall ist das farbenblinde Casting eine großartige Entscheidung – nicht nur in Hinblick auf Inklusion. Es hilft einerseits den Zuschauern jeglicher Hautfarben, sodass sich (hoffentlich) jeder in dem Setting wiederfindet und andererseits wirkt es dem „Löschen“ von Hautfarben und Repräsentation entgegen. Das unterstelle ich Dickens nicht, aber wir wissen schließlich auch nicht, ob sich „damals“ überhaupt jemand darüber Gedanken gemacht hat.
David
Da die BBC-Produktion von Simon Curtis so vorlagengetreu ist, bleibt David auch hier ein Fähnchen im Wind. Ein sympathischer Protagonist, aber auch einer, der noch lernen muss sein Leben in die Hand zu nehmen. Wenn Daniel Radcliffe den kleinen David spielt und in der Schule von Sir Ian McKellen als Mr. Creakle tyrannisiert wird, stellen sich unweigerlich kurz Harry-Potter-Vibes ein. Can’t help it. 🙂 In der 2019er Version ist David stets und ständig in seiner Identität hin- und hergerissen. Nicht zuletzt weil soviele Menschen sein Leben lenken (Murdstone schickt ihn in die Fabrik, Tante Trotwood möchte ihn am liebsten als „Betsey“, dann als „Trotwood“ usw.) Ein weiterer Ausdruck dessen ist, dass der schon immer von seinem Umfeld stark beeinflusste David oft die Menschen in seinem Umfeld imitiert. Dass er zu seiner eigenen Version von David Copperfield findet, wird die Entwicklungsaufgabe, die Simon Blackwell und Armando Iannucci offenbar aus der Vorlage herausentwickelt oder interpretiert haben. Im Buch habe ich nicht festgestellt, dass Identität für David „ein Problem“ ist und das Finden seines selbst „seine Aufgabe“. Die vielen Namen waren aber natürlich schon ein Aufhänger.
Die Menschen in Davids Leben
Auch hier nimmt sich der 2019er Film Freiheiten und gefühlt die meisten und größten. So sind die Charaktere durchaus mal ganz anders gezeichnet als im Buch. Agnes ist vielleicht auch hier ein Engel, aber viel selbstbewusster und geht mehr aus sich heraus. Mr Murdstone zeigt manchmal sogar die Spur von Mitgefühl, während seine Schwester das größere Biest ist. Im Buch erscheint mir das Kräfteverhältnis andersrum. Andere Charaktere fehlen ganz wie zum Beispiel Barkis. Teilnehmer unserer damaligen Leserunde dürfte das einen Stich versetzen. Kein #BarkisWill! Awww. Zwei der größten Unterschiede liegen aber für mich in der Beziehung Davids und Uriah Heeps und in Punkto David und die Frauen.
Auch in unserer Leserunde haben wir damals vermutet, dass Dora bewusst als hilflose Frau aus gutem Hause charakterisiert ist und an Davids Mutter erinnern soll. Und auch dass er sich in sie verliebt ist dann wohl (LOL, aus einem freudschen Standpunkt!?) nicht so abwegig. In der 2019er Verfilmung werden beide dann gar von derselben Schauspielerin dargestellt. Das ist dann wohl das, was man einen Kunstgriff nennt. Noch deutlicher wird das als David angefangen hat sein Leben aufzuschreiben und Dora ihn wortwörtlich dazu aufruft sie aus der Geschichte rauszuschreiben, sie wäre sich nicht sicher, warum sie da ist. Huh. Wir auch nicht. Und David auch nicht. So hat Dora hier dasselbe Ende wie im Buch, auch wenn das anders geschieht und fast den Eindruck erweckt, dass die Fiktion sich selbst einholt. Sehr überraschend!
Eine andere wie ich finde bedeutungsvolle Änderung ist der Umgang mit Uriah Heep. Denn der wird von David, Agnes und Steerforth gemobbt, nachdem David ihn nur einmal gesehen hat. Zwar wirkt er in den paar Sekunden, die sie sich kennen auch kriecherisch, aber David kann sich über seine Person eigentlich noch kein fundiertes Bild gemacht haben. Er lässt sich durch andere dazu hinreißen Uriah nachzuäffen. Erst danach lässt Uriah durchschimmern, was er von der feinen Gesellschaft wirklich hält und seine Pläne nehmen Gestalt an. Zwar wird Uriah auch nicht zur tragischen Figur erhoben, aber so entsteht der Eindruck von mehr Grauschattierungen und dass Uriah nicht grundlos wurde, was er ist.
„THE PERSONAL HISTORY OF DAVID COPPERFIELD | Love at First Sight Featurette“, via FilmIsNow Movie Bloopers & Extras (Youtube)
Armut und Reichtum
Und Uriah ist auch ein guter Startpunkt für den letzten Punkt in der Betrachtung. Denn dadurch, dass Uriah zumindest kurzzeitig als Opfer dargestellt wird, erscheint sein Wunsch aufzusteigen weniger aus der Luft gegriffen. Im Buch könnte man denken, dass er „einfach nur kriecherisch und gemein“ ist. Während er seinen Aufstieg mit Gewalt herbeiführt, ist David der still leidende, der durch mühselige Arbeit versucht aufzusteigen. Da er aber bereits als Kind den Abstieg in Armut erlebt hat, fürchtet er sich davor wieder abzurutschen und macht auch beispielsweise Mr. Dick deutlich, was auf ihn zukommt, nachdem Tante Trotwood verarmt ist. Im Buch scheint David das besser wegzustecken.
Die Klassengesellschaft scheint in der neueren Verfilmung seine Identität zu beeinflussen. Er beginnt sich als jungen Gentleman zu sehen und weiß nicht, wo er steht, nachdem sie wieder arm sind. Er flüchtet quasi vor der Frage mit Steerforth zu den Fischern, wo er sich wieder wie ein besser situierter junger Mann fühlt – auch eine Form von Eskapismus. Erst später wird David klar, dass ein Label („arm“, „reich“) nichts damit zutun hat, wer man ist. Der Film bringt das aber sehr sehr unterschwellig rüber. Wenn man nicht gut aufpasst, ist das was eher hängen bleibt Dev Patels Ratschlag zum Schluss „es wird auch mal wieder besser“.
Hier sollte ein Fazit stehen …
… oder auch nicht. Beide Filme sind auf ihre Weise gut und es gibt keine „bessere Adaption“. Fans klassischer, etwas gediegener Kostümverfilmungen werden mit der 1999er Verfilmung der BBC glücklich. Wer es gern etwas rasanter und komödiantischer umgesetzt mag und sich nicht an kreativen Freiheiten stört, der wird sich mehr für die 2019er Verfilmung erwärmen können. Im Sinne der Vorlage sind beide. Was aber schon beeindruckt ist wie sich Simon Blackwell und Armando Iannucci im 2019er-Copperfield erlauben zu interpretieren. Allein, dass Davids Mutter und Dora von derselben Schauspielerin gespielt werden ist ein großartiger Seitenhieb.
Andere Vergleiche zwischen Buch und Adaption
Daphne du Mauriers „Rebecca“
Shirley Jacksons „The Haunting of Hill House“
Header image/photo credit: Janko Ferlič
Jetzt bin ich umso gespannter: kennt ihr die Verfilmungen und wie haben sie euch gefallen? Habt ihr vielleicht sogar noch weitere gesehen? Und wenn ihr jemanden einem Rat geben müsstet: zuerst Buch oder Film? 😉 Gemein, ich weiß. Hier geht es übrigens zu allen anderen Literarischen Fundstücken.
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