ausgelesen: Naoki Urasawa „20th Century Boys“ & „21st Century Boys“ („Perfect Edition“, engl. Ausgabe)

Strapaziert es nun die Nerven von euch, meinen Leser*innen, nicht etwas zu sehr, wenn ich doch eh schon ständig erwähne, dass ich die Manga von Naoki Urasawa liebe und am liebsten jedem empfehlen würde!? Pluto war grandios, Monster teilt sich den Platz mit 20th Century Boys als einer meiner Lieblingsmanga aller Zeiten und ich schrieb bereits einmal 2013 („ausgelesen“) und 2014 („Manga Manie“) über die Reihe … was braucht es denn noch? Wie auch schon zuvor Monster genoss Naoki Urasawas 20th Century Boys über die vergangenen zwei Jahre hinweg eine Neuveröffentlichung als Perfect Edition (VIZ, englischsprachiger Markt) bzw als Ultimative Edition (Panini in Deutschland). Und das sogar mit einem abgeänderten Finale. Das und den Umstand, dass mich der Manga offenbar bereits an die zehn Jahre begleitet, nehme ich zum Anlass für „20th Century Boys – revisited“.

„Kenji-kuuun, come play.“

Kenjis Träume vom Rockstarleben sind lange ausgeträumt. Er führt einen Konbini, zankt mit seiner Mutter und kümmert sich um seine kleine Nichte Kanna. Kenjis Schwester hat ihre Tochter ohne ein Wort der Erklärung bei ihnen gelassen, aber mit der Bitte sie mögen sich um sie kümmern. Oft erinnert sich Kenji zurück an seine Kindheit als er von Rocklegenden schwärmte, mit seinen Freunden eine geheime Basis baute und noch nicht darüber nachdenken musste wie er diesen Monat über die Runden kommt. Dann bekommt er bald noch mehr Gründe um über damals nachzudenken. Als er vom Tod seines Kindheitsfreundes „Donkey“ erfährt, ist Kenji wie auch seine damalige Clique erschüttert. Der schüchterne Geschäftsmann Yoshitsune, die Polizistin Yukiji, Ladeninhaber Maruo und noch einige andere wie der kleine Otcho, der laute Keroyon und der ernste Mon-chan waren als Kinder unzertrennlich. Und Donkey – war nicht der Typ für Selbstmord. Als Kenji der Sache nachgeht, stolpert er mehrmals über ein Symbol, dass sie sich als Kinder für ihre geheime Basis ausgedacht haben und dass nun offenbar von einem Sekten-Guru benutzt wird. Er nennt sich „Freund“ und die Hinweise verdichten sich, dass er hinter Donkeys Tod und weiteren Morden steckt. Woher kennt „Freund“ das Symbol? Ist er einer ihrer damaligen Gruppe?

Und das ist erst der Beginn von 20th Century Boys. Auf der langen Reise zur Wahrheit verdichtet sich wie sich Kindheitstraumata in das Bewusstsein eines Menschen eingraben und tiefe Wunden und Eindrücke hinterlassen. Nicht nur schlechte. Der Zusammenhalt, die Kindheitsträume und der Wille neben dem Bösen auch das Gute in der Welt zu sehen sind es letzten Endes die Kenjis Clique von damals wieder zusammenführt. Sie nehmen den Kampf gegen Freund auf, wollen ihn demaskieren und seine Machenschaften veröffentlichen. Dass sich auch in Freund einiges aus Kindheitstagen manifestiert hat ist offensichtlich. Er nimmt die Tagträume und Fantasien der Clique von früher zum Vorbild. Mechas, Killerviren, Helden und Bösewichte – es konstruiert all das und lässt es zu grausiger Realität werdenn. 20th Century Boys spielt mit Kindheitsfantasien, Verschwörungstheorien und dem Mythos vom strahlenden Helden. Freund und seinen Fanatismus zu bezwingen wird aber schwieriger als gedacht.

Die Urasawa-Formel

Die wiederkehrende Formel, die Urasawa-Manga so unwiderstehlich macht ist die Vorstellung vom „menschlichen Helden“, der bis zur Selbstaufgabe seinem Ziel nachgeht und für Gerechtigkeit sorgt. Zumindest ähneln sich darin Dr. Tenma, der Protagonist aus Monster, und auch Kenji aus 20th Century Boys. Allerdings kehrt Urasawa immer wieder dahin zurück zu zeigen, dass Heldentum ein zweischneidiges Schwert ist. Wir alle sind nur Menschen. Und auch wenn wir gern immer das richtige tun würden, gibt es den „Helden“ genauso wenig wie reinweißes „richtig“ und dunkelschwarzes „falsch“. Er skizziert nicht umsonst unseren Kenji und später Kanna, Otcho, Yoshitsune und soviele andere als „Normalos“. Als Menschen, die Fehler machen. Während in Monster das Motiv der moralischen Grauzonen überwiegt, an deren Abgrund Dr. Tenma tanzt; sind es in 20th Century Boys die herrlich unperfekten normalen Menschen. Sadakiyo, eine meiner Lieblingsfiguren des Manga, fragt auch in der Sammelausgabe noch „Are you good? Or are you evil?“ Er ist für mich eine der stärksten Figuren, da er einst Anschluss gesucht, mehrere Seiten ausprobiert und sich letzten Endes umentschieden hat. Er gesteht Irrtümer ein, genauso wie Grauzonen. Zugehörigkeitsgefühl, der Einfluss anderer (um nicht zu sagen Beeinflussung) und Freundschaft in Kindheitstagen sind viele der Auslöser und prägenden Elemente unserer Helden, unserer Bösewichte und all derer dazwischen. Was macht uns zum Helden? Dass wir nette Freunde hatten? Das kann Zufall sein, das kann auch anders ausgehen wie einige der Charaktere in 20th Century Boys beweisen. Oder kommt die Entscheidung aus uns selbst? Are you good? Or are you evil? Im Abschlussband zur Reihe zeigt Urasawa einmal mehr, dass der Heldenmythos eben ein Mythos ist – eine Fantasie. Aber dass es trotzdem nie zu spät ist das Richtige zu tun.

Einen losen Faden zuviel aufgehoben – das (neue) letzte Kapitel

20th Century Boys endete 2006 mit seinem zweiundzwanzigsten Band, der im Gegensatz zur langen Vorbereitung des Finales etwas überstürzt wirkt und einige Fragen offen lässt. Gut ein halbes Jahr später wurde mit 21st Century Boys ein Abschlussband veröffentlicht, der unsere Clique ein letztes Mal mit dem Erbe von „Freund“ konfrontiert und dann wirklich einen runden Abschluss für uns parat hat. Der Name scheint anzuzeigen, dass unsere Helden den Sprung ins nächste Jahrhundert geschafft haben. In der Perfect Edition getauften Neuveröffentlichung, die ab 2018 auf dem englischsprachigen Markt (2019 Dtl.) erschien wurde auch ein neues (Quelle: ANN „Naoki Urasawa’s 21st Century Boys Gets New Ending in Manga’s ‚Complete Edition’“ 23.12.2016) Ende angekündigt. Der Unterschied ist vom Umfang her marginal. Es handelt sich tatsächlich nur um wenige letzte Seiten, die im letzten Kapitel von  21st Century Boys hinzugefügt wurden. Gut finde ich die Änderung nicht, weil sie inkonsistent wirkt und bei sehr kritischen Leser*innen, die genau hingucken durchaus etwas für Stirnrunzeln sorgen könnte. Wer nicht mehr gespoilert werden kann, findet einen Vergleich der Finales im ausgeklappten Absatz.

Spoilerlastiger Vergleich vom alten und neuen, erweiterten Ende – zum lesen ausklappen

Nur wenige Seiten können offenbar einen Unterschied machen. Bevor ich das Ende schildere, gehe ich nochmal darauf ein, warum der erwachsene Kenji so eine Mitschuld empfindet. Er hat sich erinnert, dass sein gedankenloser Akt als Kind vermutlich den „Freund“ geboren hat. Er hat zum Einen Fukube (Freund 1.0) nicht wirklich Teil seiner Clique werden lassen. Fukube hat sich womöglich so tief in dieses Erlebnis reingesteigert, dass er später „Freund 1.0“ wurde. Zum Anderen hat Kenji als Kind eins der Abzeichen aus dem Laden der alten Dame gestohlen, was definitiv nicht gerecht war. Auch als die Oma Katsumata beschuldigt und er infolge dessen von allen in der Schule geschnitten wird, gibt Kenji nicht zu, dass er es war. Dabei durchläuft Katsumata einen hässlichen Spießrutenlauf. Die anderen Kinder um Fukube sagen, dass er für sie „gestorben“ sei. Irgendwann nehmen alle das wörtlich und es geht das Gerücht um, dass Katsumata tatsächlich tot sei.

Der erwachsene Kenji beobachtet nun versteckt am Ende des letzten Kapitels auf dem Dach die kurze Begegnung zwischen seinem jüngeren Ich und dem maskierten Jungen, den er für Katsumata hält. Als Katsumata nun Kenjis jüngeres Ich bittet sein Freund zu sein, sagt Kenji, dass sie schon Freunde werden können, dass es aber nicht ausreicht zu sagen, dass man Freunde ist. Danach geht der maskierte Junge. Man kann das nun auf verschiedene Weise deuten. Entweder hielt sich der Junge bereits für „würdig“, weil er Kenji nicht verpfiffen hat und ist enttäuscht, dass Kenji das nicht ausreicht oder er ihn nicht erkannt hat. Oder er entschied sich zu dem Zeitpunkt „Freund“ zu werden und als Widersacher in Kenjis „Prophezeiung“ aufzutreten, um so „eine Rolle“ zu erfüllen!? Was auch immer der Grund sein mag, warum er gegangen ist, es hat eine Wunde hinterlassen und ist der grandiose Umkehrschluss des Manga. Das alles einen Zusammenhang hat. Obwohl Kenji für viele ein „Held“ ist, hat er für beide „Freund“-Figuren unbewusst einen Grundstein gelegt. Als der maskierte Junge das Dach verlässt, fragt ihn der erwachsene Kenji, ob er Katsumata sei, worauf er von dem Kleinen keine Antwort bekommt. Wir erfahren in der Ausgabe indirekt, dass Katsumata der Freund 2.0 war und nach Fukube die Rolle übernahm. Dabei haben wir nie das Gesicht Katsumatas gesehen – bittere Ironie.

In der Perfect Edition ist es nun aber noch einen Tick komplizierter geworden. Kenjis Schuld und dass er diese erkannt hat, wiegt hier offenbar schwerer auf dem erwachsenen Kenji. Alles ist hier erstmal gleich bis der erwachsene Kenji Katsumata anspricht, der gerade das Dach verlassen will. Er gesteht, dass es falsch war, dass er nie die Wahrheit gesagt und nicht die Schuld für den Diebstahl auf sich genommen hat. Außerdem kommt Kenji zu dem Schluss, dass es seine Schuld ist, dass „Katsumata starb“, wenn auch nicht physisch. Kenji erzählt weiter, dass es eigentlich Fukube gewesen ist, der nach der Grundschule tatsächlich starb und Katsumata hätte seinen Platz eingenommen. Er kannte Fukube gut und hat lange versucht Teil seiner Clique zu werden, was nicht gelang. Kenji bekundet, dass ihm all das leid tue, der maskierte Junge verlässt das Dach ohne etwas zu sagen genauso wie in der vorherigen Version. Diese Version würde implizieren, dass es nie einen Freund 1.0 oder 2.0 gegeben hat, sondern alle Versionen Katsumata waren. Vielleicht noch Body-Doubles, aber jedenfalls wäre alles von Anfang an alleinig Katsumatas Plan gewesen. Er hätte keine plastische Chirurgie zur Angleichung seines Gesichts an das Fukubes vornehmen lassen müssen. Vielmehr wäre es dann so, dass es den erwachsenen Fukube nie gegeben hat und das Gesicht was wir über viele Bände für den erwachsenen Fukube hielten, war eigentlich der erwachsene Katsumata und seine Body-Doubles (beispielsweise der verstorbene Freund 1.0). Der Aspekt ist genial, denn so bliebe Katsumata nicht gesichtslos. Sondern hat sogar anderen sein Gesicht aufgezwungen als mögliche Rache für seine grausame Schulzeit. Nicht mehr so cool sind aber die Fragen, die dieses Ende nun aufwirbelt. Wer ist nun Kannas Vater!? Sie UND Kiriko haben definitiv bei Freund 1.0 einen Unterschied zu 2.0 gemerkt. Dieser unscharf umrissene Aspekt verwässert die Auflösung wieder. Für mich wäre es perfekt gewesen, wenn Kenji „nur“ seine Schuld eingestanden und sich bei Katsumata entschuldigt hätte. Sie wirft nur viele Fragen auf, die nie beantwortet werden. Ich bin gespannt zu hören wie andere Leser*innen zu dem Ende stehen.

Gutalala Sudalala

20th Century Boys hat nichts an seiner Wirkung verloren und wird es wahrscheinlich auch nie. Der kulleraugenfreie Zeichenstil Urasawas mit Charakternasen und ausdrucksvollen, viel Emotionen übertragenden Gesichtern ist ein großartiger Kompromiss für eingefleischte Mangafans, eher an westliche Comics gewöhnte Leser*innen und Manga-Einsteiger*innen. Die Geschichte um Helden, Kinderträume, Freundschaft und Verschwörungstheorien ist eine stimmige Mischung, die uns alle irgendwo berührt. Egal ob wir die waren, die zur Clique dazu gehört haben oder nicht. Die zahlreichen Nebencharaktere reichern die Geschichte um rührende Parallelhandlungen und Entwicklungen an, die in die Urasawa-Formel reinspielen und offenbaren wann wir Normalos zu Helden werden und über uns hinauswachsen. Manchmal bedeutet das seine Meinung zu ändern, aus der Reihe zu tanzen, eine Schuld einzugestehen. Wofür man Geduld braucht ist die Länge der Reihe an sich, aber v.A. auch die Zeitsprünge, nach denen man stets das Gefühl hat, dass alles „wieder auf Anfang“ geht. Der Kniff und Schocker ist stets gelungen, aber erfordert eben auch viel Ausdauer. Während ich mich beim ersten Lesen an einigen Stellen krass an die Geschichte der deutsch-deutschen Grenze erinnert gefühlt habe und dass als starken Wirkungstreffer wahrnahm, hat mich nun beim Reread in der Pandemie v.A. die Erwähnung des „Killervirus“ getroffen. Zeitaktueller denn je … . 20th Century Boys ist ein großartiger Manga, der auch noch beim nächsten Reread großartig sein wird, da bin ich mir sicher.


„Naoki Urasawa – Bob Lennon – Kenji Song from 20th Century Boys – Japan Expo 2012“, via TheFrenchDarkCowBoy (Youtube)

Fazit

Ein Manga-Meisterwerk, dessen alternatives (neues) Ende ein kleines bisschen übertrieben hat.

Besprechung der einzelnen Bände
20th Century Boys : 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11
21st Century Boys: 1

„ausgelesen“ ist eine Kategorie meines Blogs, in der ich immer zwischen dem 15. und 20. eines jeden Monats ein Buch unter die Lupe nehme. Der Begriff „ausgelesen“ ist sehr dehnbar. So wie die Themenvielfalt meines Blogs. Ein „Buch unter die Lupe nehmen“ schließt Belletristik, Sachbücher, Manga, Comics unvm mit ein. 🙂

2 Antworten

  1. […] wurde Ursawa auf dem internationalen Manga-Markt wieder entdeckt und einige seiner Klassiker wie 20th Century Boys und „Monster“ neu aufgelegt. Teilweise auch in Form einer Perfect Edition, die sich […]

  2. […] Karten – es ist alles frisch neu aufgelegt. Auch „Pluto“. Ich kann sehr Asadora!, 20th Century Boys und Monster empfehlen. Wer mit Manga nichts anfangen kann, hat es etwas schwerer, denn viele […]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert