Neulich im Kino … Filmbesprechung zu „Midsommar“

Ari Aster ist seit seinem Erfolg mit „Hereditary“ der neue Star am Gruselfilm-Himmel. Zumindest ist sein Ruf ihm soweit vorausgeeilt, dass ich ihn kenne, obwohl ich „Hereditary“ noch nicht gesehen habe. Auch „Midsommer“ war schon vor offiziellem Kinostart in aller Munde. Jetzt, wo ich ihn gesehen habe, kann ich verstehen warum: er polarisiert. Extra-Gimmick: es gab einen Stromausfall im Kino. Besprechung ist spoilerfrei.

Die Beziehung zwischen den Doktoranden Dani (Florence Pugh) und Christian (Jack Reynor) bröckelt. Christian redet mit seinen Freunden schon über Trennung und Dani spürt auch schon, dass das Ende naht. Als sich aber in Danis Familie eine furchtbare Tragödie abspielt, wollen beide das tun, was man „eben so erwartet“ und hangeln sich gemeinsam durch. Christian ist überfordert mit Danis Trauer, will aber andererseits seinen „Männerkram“ machen. So sieht er sich gezwungen Dani zu einem Trip einzuladen, der eigentlich zwischen seinen Kumpels und ihm angedacht war. Sie wollen die Gemeinde Hårga in Schweden besuchen, die die Sommersonnenwende auf eine besondere Weise feiert. Das Fest ist auch Gegenstand der Doktorarbeit eines Freundes. Viel Sonne, viele Blumenkränze, sich sanft wiegende Wiesen, ein paar magic mushrooms, Ablenkung scheint garantiert. Bis einige von ihnen spurlos verschwinden.


„MIDSOMMAR | Official Trailer HD | A24“, via A24 (Youtube)

Die Kommune in Hårga erfüllt eine ganze Menge Klischees, nordische Vorurteile und greift Motive von Sekten und Kulten auf. Aber sie tut das mit Intention, soviel ist klar. Sobald die Freunde in Hårga eintreffen, gleitet man in eine seltsame Scheinwelt ab, die sich absolut irreal anfühlt. Alle springen in traditionellen Gewändern rum, marschieren oder tanzen, singen und geben sich Ritualen hin. Sie schlafen alle in einem großen Schlafsaal, der mit traditionellen Zeichnungen förmlich übersät ist. Unsere illustre Gruppe sieht sich trotz einiger Vorzeichen aber nicht gezwungen die Kommune zu verlassen. Der eine oder andere nicht, weil man es den Freunden recht machen will und andere, weil sie planen darüber eine bahnbrechende Doktorarbeit zu schreiben. Dem nicht ganz so smarten Christian fällt das passenderweise auch erst vor Ort ein, was für weiteren Unmut sorgt und die Gruppendynamik zusätzlich herausfordert. Durch all diese sozialen Konventionen und Erwartungen bleibt die Gruppe selbst dann noch als sich die Ungereimtheiten so stark häufen, dass man sie eigentlich nicht mehr ignorieren kann. Zum Beispiel die Menschenopfer – für die die Leute in Hårga eine semi gute Erklärung parat haben. Für sie als Gruppe fühlt es sich recht lange wie ein großes folkloristisches Sommerfest an. Als sie merken, was der Zuschauer schon weiß, ist es bereits für die meisten zu spät: sie sind einem fanatischen Kult in die arme gelaufen. Die religiöse Schrift und ihr absurder Ursprung macht klar, dass kultische Verehrung an den Pranger gestellt wird – es ist teilweise aberwitzig satirisch und mit bierernster Mine vorgetragen, sodass man als Zuschauer gar nicht weiß, was man empfinden soll. Man nimmt es erstmal zur Erkenntnis. Vielleicht schaut man sich verblüfft an. Und wenn das noch nicht reicht, bedient man sich einer Vielzahl kruder Rituale und ist sehr darauf erpicht seine DNA schön rein zu halten. Nur immer mal ein bisschen frisches Blut.

Dass die Freunde so lange bleiben, ist wohl einer der Gründe, warum der Film bei mir keine „zehn von zehn Sternen“ bekommen kann. Einigermaßen gut erklärbar ist es neben dem sozialen Druck durch die Geschwindigkeit mit der die Geschichte ab einem bestimmten Punkt voranschreitet und den Umstand, dass die Kommune sehr abgelegen ist. Fast ideale Bedingungen für seltsame Menschenopfer. Apropos Menschenopfer: der Film hat gore und sehr absurde Szenen, auch sexueller Natur. Es sind wenige, aber sagen wir mal so: die, die da sind, sind denkwürdig und vergisst man nicht so schnell. Der Rest fällt in die Kategorie Horrorfilme über Kulte bzw Sekten, die hier alles an Merkmalen kranker Glaubensgemeinschaften vereinen, was es so gibt. Dass das alles speziell für den Film designed wurde, merkt man deutlich und kann das auch in der Endroll nachlesen. Wer übrigens von der ersten Sekunde an aufpasst, wird belohnt. In den folkloristischen Illustrationen des Künstlers Mu Pan, die man ganz am Anfang sieht, erlebt der ganze Film eine unheilvolle Vorausdeutung. Achtet auch auf das Gemälde mit der Prinzessin und dem Bär aus Danis Wohnung und erinnert euch später nochmal dran. „Armer Bär.“ Der Film ist konsequent durchgestylt und nimmt das Kult-Thema ernst. Das ist spürbar, schwer anzuschauen, aber auch bewundernswert. Wer mehr dazu lesen will, findet auf Thrillist noch etwas zu den kultischen Motiven. Einige davon sind scheinbar echten Ritualen und schwedischen Sagen entnommen.

Ebenso vehement wie hier der eine oder andere an Sektenritualen festhält, halten auch Dani und Christian an ihrer Beziehung fest. Allerdings nicht mehr mit Überzeugung. Was uns zu dem zweiten großen Thema des Films bringt: Trennung. Mit fast stoischer Gelassenheit versucht Dani die absolute Ignoranz und fehlende oder schlecht vorgespielte Empathie Christians auszuhalten. Bloß nicht noch einen Menschen verlieren. Christian denkt – was denkt Christian eigentlich? Vielleicht, dass er ein Drecksack wäre, wenn er Dani in so einer Situation verlässt. Was ist an der Stelle besser? Was schlechter? Ein Konflikt des echten Lebens, auf den es keine wirklich guten Antworten gibt. Und wenn, dann sind die fast so wie Midsommar. Brutal, konsequent und ein bisschen absurd. Handwerklich ist Midsommar ein unheimlich guter Film, aber von lähmender Länge. Wer sich fragt, was aus dem einen oder anderen Touri geworden ist, muss gar zum fast dreistündigen Director’s Cut greifen, denn ein, zwei offene Fragen bleiben in der Kinoversion. Müsste ich beschreiben, in welche Schubladen man den Film stecken soll, würde ich mich wohl weigern. Man könnte sagen, dass er ein Horrordrama ist, mit Betonung auf Drama und ein bisschen Gore. Aber das starke an dem Film ist eigentlich, dass er gar nicht so gut in Schubladen passt und sich anders als ein klassischer Horrorfilm anfühlt. All das zusammen genommen ist Midsommar wieder ein Kandidat aus der Reihe „unheimlich interessant, unheimlich gut gemacht, aber unheimlich schwer anzuschauen“.

Midsommar, USA/Schweden, 2019, Ari Aster, 147 min, (7/10)

Sternchen-7

Habt ihr „Hereditary“ oder „Midsommar“ schon gesehen? Haltet ihr beide für vergleichbar und kann man Asters Stil daran ablesen? Falls ihr das ohne Spoiler formulieren könnt, seid ihr gut und ich erleichtert 😉 Wie hat euch „Midsommar“ gefallen? Falls ihr noch plant den zu schauen, denkt an mich, wenn ihr die „atmenden Blumen“ seht. Das hat was von einem Trip. Und ach ja: noch ein Wort zum Stromausfall im Kino – es war sehr dunkel. Wer hätt’s gedacht. Und es war an einer sehr passenden Stelle – man hätte fast denken können das soll so. Es kam direkt nachdem einer der Schweden zu einem der Touris sagte „Komm mal mit mir mit – wir haben da ein Ritual, das perfekt für dich ist“ oder sowas in der Art.

19 Antworten

  1. Ich möchte beide Filme unbedingt noch sehen, bin aber nicht sicher, ob ich „Midsommar“ noch im Kino schaffe.
    Was genau war denn der Grund warum man den nur unheimlich schwer anschauen kann? Gore jetzt ja nicht, oder?
    Liebe Grüße, Sabine

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ah, hatte gehofft, dass meine Besprechung das rüberbringt.
      Zum Einen ist der Film durch die Länge schwer anschaubar und die „awkwardness“ der Beziehungen. Insbesondere die des Pärchens, das um die Trennung rumtänzelt. Es werden halt viele unbequeme Themen zusammengebracht, die zusammen mit der Länge des Films und der kunstvollen Art anstrengend werden.

      Die wenigen, aber vorhandenen Gore-Szenen können zumindest die eher empfindlichen Gemüter zusätzlich treffen.
      Hilft dir das weiter?
      Liebe Grüße

  2. Ich hätte „Midsommar“ gerne im Kino gesehen, aber die Kinos in meiner Gegend hatten scheinbar was dagegen 🙁

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Lief bei uns auch nur kurz! Den Distelfink beispielsweise habe ich erst mitbekommen als schon letzter Spieltag war. Und Systemsprenger habe ich scheinbar auch gerade verpasst. Ich lauere auf Parasite, den will ich auf keinen Fall verpassen … aber ich werde mich nicht beklagen. Immerhin läuft hier Indie-Kino. Wieviel Auswahl hast du in deiner Region?

  3. Avatar von donpozuelo
    donpozuelo

    Der war nicht so meins. Liegt aber auch daran, dass ich „Hereditary“ soooo extrem gut finde, dass die Erwartungen natürlich enorm hoch an diesen Film waren. Bin mal gespannt, wie dir „Hereditary“ gefällt.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Darauf bin ich auch gespannt 🙂
      Ich hab hier tatsächlich deine Besprechung noch abgespeichert zum später lesen – wollte möglichst unbefleckt in den Film gehen. Da werd ich die Tage mal reinlesen, was du dir bei dem Spektakel gedacht hast

      1. Avatar von donpozuelo
        donpozuelo

        Ich bin mal echt gespannt. Nachdem du Midsommar zuerst gesehen hast, gehst du vielleicht ganz anders an Hereditary heran.

        1. Avatar von Miss Booleana
          Miss Booleana

          Inzwischen habe ich Hereditary gesehen und fand den scheiß gruselig, aber von der Handlung her hat er mich gar nicht so sehr abgeholt muss ich leider gestehen. Mich hat extrem gestört, dass es soviele Dinge gibt, die dem Zuschauer erzählt werden, die man aber selber nie sieht. Wie beispielsweise die Aussage, dass die Oma so schwierig gewesen sein soll. Das macht für mich irgendwie fast alle Charaktere zu unzuverlässigen Erzählern und ich weiß immer noch nicht wie ich das nehmen soll

          1. Avatar von donpozuelo
            donpozuelo

            Schade… aber das kann ich sogar ein wenig nachvollziehen. Da setzt Aster dann ein bisschen zu sehr auf Atmosphäre.

  4. Ich muss zugeben, ich war versucht, mir den Film anzusehen – aber 147 Minuten? Äh, nö, dann lieber doch nicht. Alles, was über zwei Stunden Länge hat, ist mir momentan zu viel.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ja, ich fand die Laufzeit auch ziemlich dicke und war nicht so begeistert darüber. Dabei gibt es noch einen längeren Directors Cut …

  5. Avatar von voidpointer
    voidpointer

    Armer Bär – das habe ich auch gedacht als ich den Trailer gesehen habe. 😉
    Sieht nach einem interessanten Film mir viel Raum für Interpretationen aus. Vielen Dank für die Empfehlung.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Immer wieder gern 😉
      Ach das mit dem Bär … das ist noch folgenschwer. Das reimt sich!
      Ooooh ja – wer interpretieren mag, bekommt hier viel Raum. 🙂

  6. Habe Midsommar nicht gesehn. Möchte es schon noch machen, aber nicht im Kino. Dafür kenne ich Hereditary und kann den Hype bzw das große Lob nicht wirklich verstehen. Ja, er ist gut. Ja, er hat einige harte böse Momente. Allerdings haut er ebenso zahlreich Sachen raus, die mich nicht überrascht haben. Horrorfeeling hatte ich da absolut nicht mehr, da es für mich zu verhersehbar wurde.
    Letztlich ist mir das Ende negativ in Erinnerung geblieben. Das hat mir den Film etwas kaputt gemacht. Leider 🙁
    (du sprichst da oben einen Punkt an, der auch in Hereditary vorkommt, will ihn aber nicht benennen, zwecks spoiler, von daher denke ich schon, dass man sie irgendwie vergleichen kann)

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Danke für’s nicht spoilern 😉
      Jetzt bin ich nochmal gespannter auf „Hereditary“ – oder viel mehr, ob es dem Hype gerecht wird. Ich werd an dich denken, wenn ich den geschaut habe – mal sehen, ob ich erraten kann, was an dem Ende es dir kaputt gemacht hat

  7. Ich habe ihn jetzt gesehen und mir hat er gut gefallen. Einziger Kritikpunkt – wie bei dir: Warum zum Teufel bleiben die da so lange?! Das war einfach nicht schlüssig. Ansonsten fand ich Danis Miene am Ende des Films, als sie ihre Entscheidung getroffen hatte, unheimlich gut. Ich habe Florence Pugh zuerst in „Little Women“ gesehen und fand sie da schon ganz großartig. Jetzt nach Midsommar behalte ich auf jeden Fall im Auge, welches Projekt sie als nächstes angeht. 🙂

  8. […] Midsommar ist ganz und gar ungewöhnlicher Horrorfilm – insbesondere, weil alles so furchtbar hell und freundlich aussieht. Zum Gruseln ist er trotzdem. Weiterer Pluspunkt: Die Hauptrolle spielt die wunderbare Florence Pugh, die der eine oder die andere vielleicht auch aus „Little Women“ in der Rolle der Amy kennt. (Hier geht’s zu meinem Eindruck von „Little Women“) und hier zu einer spoilerfreien Besprechung bei Miss Booleana. […]

  9. […] Aster und ich, es ist kompliziert. Anders als gefühlt alle anderen fand ich Midsommar und Hereditary clever, mochte aber den lieber, dem ich weniger Punkte gegeben habe. Wirklich wahr. […]

  10. […] sieht sich mit einer Generation konfrontiert, die Stab blöd findet und wohl lieber Midsommar gucken würde. So wie ich. 👀 Auch aus dem alten Stammcast sind einige Personen wieder […]

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