Im Grunde ist ja fast alles beim Alten geblieben – manche der oscarnominierten Filme konnte man hierzulande noch nicht begutachten. Liegt das normalerweise rein am Kinostart ist dieses Mal vorrangig die Pandemie schuld. Aber so sind auch erstmals sehr viele Filme nominiert, die via Streamingplattformen abrufbar sind. „Emma“ beispielsweise kann man inzwischen schon auf Disc beziehen. Zusätzlich zu dem bereits in der monatlichen Werkschau besprochenen Strauß an oscarnominierten Filmen, lege ich heute nochmal nach. Die Besprechungen sind selbstredend spoilerfrei.
Borat Anschluss Moviefilm
Warum musste ich ausgerechnet Borat gucken? Ich weiß es nicht. Vermutlich, weil ich überrascht war, dass er mehrfach für einen Academy Award nominiert ist. Borat ist nicht so ganz mein Humor. 20% der Witze gehen einfach zu sehr unter die Gürtellinie oder sind mir zu sehr Pipi-Kacka. Bei 30% der anderen Witze ist es mir fast etwas peinlich, dass ich lachen muss – ich glaube das gehört dazu. Der Rest ist wirklich einfach witzig, entlarvend und soviel muss man ihnen lassen: die Gags sind politisch, adressieren das Zeitgeschehen und treffen dahin, wo es weh tut. Ich sage „ihnen lassen“, weil der Film unverschämt viele Drehbuchautor*innen hat.
Borat Anschluss Moviefilm handelt von Borat (Sacha Baron Cohen), der die letzten Jahre im Gulag verbracht hat, weil sein erster Film das Ansehen von Kasachstan empfindlich geschädigt hat. Er soll es nun wieder gut machen, indem er dem „hoch geschätzten“ Präsident Trump ein Geschenk überbringt. Als sich Borats Tochter Tutar (Marija Bakalowa) in die USA schleicht, werden die Pläne mehrfach über den Haufen geworden. Sie landen bei einem Debütantinnenball, stürmen eine Rede von Mike Pence, gehen in Quarantäne und treffen Verschwörungstheoretiker. Und das war noch nicht mal das schlimmste. Tatsächlich hat mir Borat Anschluss Moviefilm besser gefallen als der erste Borat-Film, wegen eines gewissen netten Twists mit viel Zeitaktualität. Aber die ganzen Witze auf Kosten von Frauen haben eher an meinen Nerven gezerrt und zusammen mit einigen anderen wirken sie doch stark überholt und werden im Laufe des ohnehin schon eher kurzen Films auch noch eher schlechter.
Borat Anschluss Moviefilm (OT: Borat Subsequent Moviefilm), USA, 2020, Jason Woliner, 96 min, (6/10)
„DER RAUSCH Trailer German Deutsch (2021) Exklusiv“, via KinoCheck (Youtube)
Der Rausch
Die vier Freunde und Lehrer-Kollegen Martin (Mads Mikkelsen), Tommy (Thomas Bo Larsen), Nikolaj (Magnus Millang) und Peter (Lars Ranthe) haben in unterschiedlichen Schattierungen mit ihrem Privat- und Berufsleben zu kämpfen. Martin hat den Verdacht, dass seine Frau fremdgeht und wird von seiner eigenen Schulklasse als schlechter Lehrer an den Pranger gestellt. Da schüttelt Nikolaj eines abends die These des norwegischen Psychologen Finn Skårderud aus dem Ärmel: der menschliche Blutalkoholspiegel läge 0,5 Promille unter dem eigentlichen Optimum. D.h. ein Schlückchen hier und da ist ok. Am besten man hält das Level über den Tag verteilt. Die Vier nehmen das als Anlass für ein Experiment.
Klar: das hat Folgen. Denn: die Beschreibung klingt, wonach sie klingt und Vinterberg ist der Mann für anspruchsvolle Filme, die Menschen mit Ausnahmesituationen konfrontieren und eskalieren lassen – so auch hier. Die Dynamik der Freunde sorgt zwischen all den ernsten Themen für einen gewissen Comic Relief und Nostalgie-Faktor, denn alle kennen sich von früher, haben Geschichten miteinander ausgestanden und werden durch ihre Schulklassen besonders oft an „früher“ erinnert. Ohne Zuschauer*innen künstlich an die Hand zu nehmen, stellt der Film dabei eine Menge steile Thesen auf, deren Wahrheitsgehalt jeder für sich evaluieren kann. Manche gehen nicht so ganz ohne Erklärung auf. Sind alle Hemmschwellen gefallen als sie beschließen statt dem Optimum von 0,5 ihr Maximum zu suchen? Es gibt hin und wieder Szenen, deren Sinnhaftigkeit befremdet (bspw. wie Martin an den Pranger gestellt wird). Aber die ganze Prämisse des Experiments ist fesselnd, auch wenn wir schon ahnen wie das endet. Spannend: die Rolle des Martin wurde sehr offensichtlich Mads Mikkelsen auf den Leib geschrieben (Stichwort früherer Tänzer). Witzig: die Darsteller schreckten wohl selber nicht vor dem einen oder anderen Gläschen zurück. Tragisch: Vinterbergs Tochter sollte ein Rolle in dem Film übernehmen und verstarb während der Dreharbeiten infolge eines Autounfalls.
Der Rausch (OT: Druk), Dänemark/Schweden/Niederlande, 2020, Thomas Vinterberg, 116 min, (8/10)
Emma
Ca. in der Regency-Ära (18. Jahrhundert) ist die wohlhabende Emma Woodhouse (Anya Taylor-Joy) berüchtigt dafür ihre Bekannten zu verkuppeln. Naja, vielleicht gab es bisher nur einen Fall und vorrangig ist Emma selbst davon überzeugt, dass sie das Talent dazu hat – darauf kommt es wohl an. Nur sich selbst hat sie bisher nicht verkuppelt. Ein neues Opfer für ihr Plotting ist schnell in der unbedarften Harriet (Mia Goth) gefunden. Noch ahnt Emma nicht, dass ihre Einmischung in das „Wer liebt wen?“ ein Fest der Eitelkeiten wird und in vielen gebrochene Herzen mündet. Eins davon vielleicht ihres.
Mit Emma legt Autumn de Wilde (bekannt durch zahlreiche Musikvideos und Fotografie) ihr Spielfilmdebut hin. Und das auf beachtliche Weise. Was mich persönlich sehr freut, ist dass große Funktionen wie Drehbuch, Musik und Regie mit Frauen besetzt sind. Ob das den Stoff besser umsetzt, maße ich mir nicht an zu vermuten. Aber es ist wünschenswert für die Repräsentation von Frauen in der Filmindustrie. Zurück zum Film an sich. Zwar habe ich Emma nicht gelesen, aber andere Verfilmungen des Stoffes gesehen. In denen erschien die feine Gesellschaft um Emma weniger affektiert. Insbesondere die Titelfigur Emma hat mich anfangs nicht unbedingt für sich eingenommen. Da es aber wohl zu großen Teilen um ihre Läuterung geht, ist das offenbar so gewollt und Anya Taylor-Joy leistet ganze Arbeit. Emmas Wandel von total selbstsicher und affektiert zu schuldbewusst wie auch die zarte Entwicklung der Beziehungen ist wirklich schön anzusehen. Bis man dort ankommt, badet der Film sicherlich absolut bewusst in einem Hauch Dekadenz und Affektiertheit. Wer das nicht durchsteht, verpasst die dann doch überraschend zarten Beziehungsgeflechte ab der Mitte. Der Film wird allgemein durch sehr abstruse oder schrullige Charaktere aufgelockert. Allen voran Bill Nighy als Emmas Vater, der eben einfach Bill Nighy ist. Landschaft und Kostüme sind absolut bezaubernd – und sicherlich ähnlich bewusst over the top wie der Rest des Films. Sehr erfrischend, dass man hier nicht nur sieht wie die Frauen ein „Ankleidungsritual“ über sich ergehen lassen müssen, sondern auch die Herren.
Emma, UK, 2020, Autumn de Wilde, 125 min, (7/10)
„EMMA. – Official Trailer [HD] – Now On Demand and In Theaters“, via Focus Features (Youtube)
Hillbilly Elegy
Bei dem ausgezeichneten Cast und der Crew (Ron Howard auf dem Regiestuhl, Musik von Hans Zimmer!) war mir ehrlich schleierhaft wie der Film so komplett an mir vorbeigehen konnte. Hillbilly Elegy erschien auf Netflix – ganz klammheimlich und ohne großes Aufgebausche wie sonst üblich. Dann kamen die Oscar-Nominierungen und bei der Recherche über den Film schlägt einem eine Welle negativer Reviews entgegen. Das Wort „Oscar Bait“ und „Razzies“ fiel einige Male. Uff. Hier ist der Haken: wenn man Hillbilly Elegy ohne Wissen über die literarische Vorlage schaut, ist es immer noch kein großartiger Film, aber auch kein ganz schlechter.
Hillbilly Elegy handelt von J. D. Vance (Gabriel Basso), der Jura studiert und sich mit Ach und Krach von Stipendium zu Stipendium zu Job hangelt. Wie so oft mangelt es eben nicht an der Qualifikation, sondern an der Kohle. Eines Tages tritt ein Notfall ein – seine Mutter Bev (Amy Adams) liegt infolge einer Heroin-Überdosis im Krankenhaus und er muss schleunigst in seine Heimat. Von Schlips und Krawatte zurück nach Ohio zur Verwandtschaft, die sich auch nur mit Mühe und Not über Wasser halten kann.
Rückblickend erfährt man von Bevs Kampf gegen die Sucht und wie stark der Einfluss seiner Großmutter „Mamaw“ (Glenn Close) auf J.D. war. An und für sich ist Hillbilly Elegy das was man optimistisch und mit viel gutem Willen als Aufsteigerdrama bezeichnen kann und ein Film, der von Familie und dem in Wirklichkeit hart erarbeiteten „American Dream“ handelt. Ihr wisst schon: der, der erstmal zwanzig Jahre mehr american als dream ist. Der, in dem Leute keine Krankenversicherung haben und durch das Raster der Versorgung fallen, um mal nur ein Beispiel zu nennen. Was Hillbilly Elegy mit weniger gutem Willen aber auch ist: ein Film, der daran scheitert Armut empathisch darzustellen. Der Film zeigt Diskriminierung anhand von „Klasse“ – und das nicht nur anhand der blöden, versnobbten Schlipsträger, denen J.D. begegnet und die mit Wörtern wie „Redneck“ um sich schmeißen. Das ist nicht schlecht. Was er aber nicht schafft ist das Abrutschen Bevs in die Drogensucht zu erklären ohne dabei Stereotype zu verbreiten. Auch die vermutlich sehr sehenswerte Geschichte von Mamaw und Papaw wurde nur angerissen. Glenn Close schafft es zwar eine großartige Mamaw auf die Leinwand zu bringen, aber der Film scheitert vollkommen an der Darstellung des drei Generationen währenden Aufstiegskampfes. Auch wenn J.D.s Geschichte in einigen Bestandteilen ganz schön ist, ist es wirklich sehr unempathisch und ohne Fingerspitzengefühl erzählt. Arm heißt nicht automatisch in Not, wütend, abhängig und aggressiv. Man kann vermuten, dass der Film dem Buch nicht gerecht wird.
Hillbilly Elegy, USA, 2020, Ron Howard, 116 min, (6/10)
One Night in Miami
One Night in Miami ist wie ein Gedankenexperiment. Der Film versucht zu rekonstruieren wie der Abend verlaufen sein könnte, an dem sich Malcolm X (Kingsley Ben-Adir), Soul-Legende Sam Cooke (Leslie Odom Jr.), NFL-Player und Schauspieler Jim Brown (Aldis Hodge) und Cassuis Clay (später Muhammad Ali, dargestellt von Eli Goree) trafen und Clays Championship-Titel feierten. Dabei kollidieren oftmals ihre Meinungen über die Gesellschaft, das Showbiz, Politik, Religion und die Lebensentscheidungen des jeweils anderen. Der Cast verkörpert die Ikonen großartig – die Haltung, die Marotten, sogar optisch. Stünden sie auf einer Bühne, würde man ihnen starke Bühnenpräsenz attestieren. Überhaupt lesen sich Cast & Crew wie ein Gedicht. Die eben erst noch mit einen Oscar für ihre Rolle in If Beale Street Could Talk ausgezeichnete Regina King gibt mit One Night in Miami ihr Regie-Debüt. Kemp Powers adaptierte hier übrigens sein Theaterstück selbst als Drehbuch. Und der Gedanke ist tatsächlich faszinierend. Wer möchte nicht Mäuschen spielen, wenn sich vier solche Ikonen einschließen und die Welt sezieren?
Natürlich wird es eine Rolle spielen, dass Malcolm X auf Bühnen steht und über „schwarz“ und „weiß“ redet und er wird Sam Cooke vorwerfen seinen Einfluss nicht genug zu nutzen, während Cooke argumentiert, dass er das auf eine andere Weise tut als Malcolm X. One Night in Miami ist damit ganz klar ein Film, den man schaut um zu debattieren, sich zu bilden, einen Eindruck zu bekommen und nicht als Popcornkino. Dafür ist er erhellend und aufrüttelnd, da alle Parteien in den Hotelzimmer ihre 5 Minuten miteinander bekommen um zu debattieren. Das verstärkt umso mehr den durch die begrenzten Schauplätze eh kammerartigen Stil. One Night in Miami ist sehr gut adaptiert, wichtig und prägnant; aber der Film nutzt die filmischen Mittel Kamera, mise en scene etc. verglichen zu Musik und Schauspielerei (sehr stark!) zu wenig um nicht nur eine Runde Geschichte, sondern auch einen optisch runden Film zu erzählen. Am Ende des Films fragen sich Weiße wie ich, wann wir uns das letzte Mal so sehr mit unserer Herkunft und unserer Botschaft in der Öffentlichkeit beschäftigen mussten und warum sich dahinter ein unerwünschtes Privileg versteckt.
One Night in Miami, USA, 2020, Regina King, 110 min, (8/10)
Promising Young Woman
Cassie (Carey Mulligan) arbeitet tagsüber in einem Coffee Shop und lebt wieder bei ihren Eltern. Das Medizinstudium hat sie geschmissen. Es befremdet ihre Eltern, dass sie mit ihrem Leben nicht weitermacht, keine Ambitionen zu haben scheint. Im Gegensatz zum*r Zuschauer*in wissen sie aber zumindest den Grund. Die Ereignisse rekonstruieren es aber bald schon für uns ohne es zu zeigen. Was Cassies Eltern nicht wissen, dafür aber wir: nachts tut Cassie in Clubs so als wäre sie sturzbetrunken und leichtes Opfer für Typen, die kein Problem damit haben die Situation auszunutzen und versuchen fast besinnungslose Frauen abzuschleppen. Und nachdem sie das tun (was immer einer versucht), versetzt Cassie sie in eine Situation, die sonst nur Frauen während oder nach Club-Besuchen kennen: sie versetzt sie in Angst.
Emerald Fennell hat sowohl Regie geführt als auch das (phänomenale) Drehbuch geschrieben und dabei einige naheliegende und ein paar weniger naheliegende Entscheidungen getroffen. Weniger überraschend ist, dass Cassie mit einigen optischen Bibel-Querverweisen von Beginn an als Racheengel etabliert wird. Die Szenen in denen sie sich den Arschlöchern gegenüber als nüchtern outet sind aber auch „chilling“. Carey Mulligans Leinwandpräsenz ist fantastisch und umso unheimlicher, desto öfter der Film mit historisch gewachsenen, angeblich typischen „girlie“-Motiven und Farben spielt. Bonbonfarbene Fingernägel, Lakritz, Plüsch und Blingbling: ein besonders starker Gegensatz gegenüber des Motivs der verlorenen oder viel mehr geraubten Unschuld. Dabei wird oftmals adressiert, aber nie übererklärt, warum es nicht die Schuld der Frauen ist, die zuviel trinken oder Gott bewahre sich erlaubt haben einen Minirock anzuziehen, sondern die des Mannes, der sich entscheidet ein Vergewaltiger zu werden. (Denn wir wissen ja schließlich alle, dass Schweigen nicht dasselbe ist wie Zustimmung.) Dass Promising Young Woman aber so unterhaltsam ist und trotz seiner harten Motive Zeit für Comic Relief findet, ist eine echter Kunstgriff. Cassies Motive werden übrigens geklärt und das Ende geht, sagen wir mal unkonventionelle Wege, die das Publikum sicherlich spalten werden. Ich persönlich empfand einiges daran als nicht wünschenswert, aber auf positive Weise anders als man erwartet. Was bei mir noch weniger gut ankam ist, dass er eine so klare Geschlechtergrenze zieht. Oder in anderen Worten: ich finde es nicht richtig, dass alle Männer in dem Film Arschlöcher sind, die entweder aktuell oder in der Vergangenheit keinerlei moralischen Kompass haben oder hatten.
Promising Young Woman, USA, 2020, Emerald Fennell, 114 min, (8/10)
„PROMISING YOUNG WOMAN – Official Trailer 2 [HD] – This Christmas“, via Focus Features (Youtube)
Und welcher Film ist euer großer Hoffnungsträger für die Oscars? Welchen hättet ihr gern noch vor der Preisverleihung geschaut? Bei mir sind das ganz klar „Nomadland“ und „The Father“. Vielleicht schaffe ich heute abend noch „One Night in Miami“. Welchen Film ordnet ihr anders ein als ich?
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