Filmbesprechung „Identifying Features“ & „Quo Vadis, Aida?“ (LICHTER 2021)

Normalerweise findet das Lichter Filmfest in Frankfurt statt. Pandemiebedingt dieses Jahr aber deutschlandweit, online und on-demand, weswegen ich dankbarerweise auch dabei sein konnte. Zwei Filme habe ich mir aufgehoben (das Beste zum Schluss?): die beiden, die mir sehr nahe gingen. Eine weitere Gemeinsamkeit der Filme ist, dass beide von Regisseurinnen gedreht wurden und verhältnismäßig starker Tobak sind. Die Besprechungen sind selbstverständlich spoilerfrei.

Identifying Features

Man soll andere Besprechungen nicht zitieren und vor Allem soll man sich eine eigene Meinung bilden. Aber die Beschreibung des Guardian passt einfach zu gut: social-realist folk horror. Identifying Features handelt vorrangig von der Mexikanerin Magdalena (Mercedes Hernández), die versucht ihren Sohn Jesús (Juan Jesús Varela) zu finden. Der ist noch im Teenageralter, wollte aber über die Grenze fliehen um in den USA der Hoffnung auf ein besseres Leben nachzujagen. Nachdem Magdalena lange nichts von ihm gehört hat, wächst die Angst: ist ihm etwas zugestoßen? Zu Beginn von Identifying Features erfahren wir neben Magdalena noch von anderen Müttern, die ihre Kinder suchen und der unheimlich kalten Realität illegaler Auswanderung. Magdalena wird gebeten Kataloge von Fotos zu wälzen, um anhand etwaiger „Identifying Features“ Objekte ihres Sohnes zu erkennen, die bei Leichen gefunden wurden, um ihren Sohn infolge dessen für tot erklären zu lassen.


„WAS GESCHAH MIT BUS 670? Trailer German Deutsch UT (2020)“, via KinoCheck Indie (Youtube)

Identifying Features (in Deutschland offenbar veröffentlicht unter dem Titel Was geschah mit Bus 670?) führt Zuschauenden damit die grausame Realität vor Augen, wieviele über die Grenze fliehen wollen und bei dem Versuch verschwinden, weil sie beispielsweise Opfer eines Verbrechens werden. Magdalena wird sich nicht damit zufrieden geben, dass sie ihren Sohn wegen fadenscheiniger Hinweise für tot erklären lassen soll und beschließt ihn selber zu suchen. Das mündet für Magdalena in einem regelrechten Roadmovie, das schonungslos den Terror, die Gebietskämpfe, Unterdrückung und Gewalt in den Grenzgebieten Mexikos offen legt. Sehr berührt hat mich neben Magdalenas Geschichte Miguels (David Illescas), der den American Dream aus genau dem anderen Blickwinkel erzählt: er wurde ausgewiesen und kehrt zurück. Was er findet ist ähnlich zermürbend und schockierend wie Magdalenas Reise. Es berührend sehr wie sich die beiden Suchenden finden und einen Stück des Weges gemeinsam gehen. Identifying Features ist der erste Film der Regisseurin Fernanda Veladez und in seinen schonungslos-realistischen Bildern dramatisch ohne Promp und Protz, aufrüttelnd und zieht einen Schluss mit Einflüssen mexikanischer Folklore. Der Teufel war am Werk, aber der Teufel war allzu menschlich und wohl geboren in dem Bestreben „es besser zu haben“.

Identifying Features (OT: Sin Señas Particulares), Mexiko/Spanien, 2020, Fernanda Veladez, 95 min, (9/10)

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„Identifying Features Q&A with Fernanda Valadez and Astrid Rondero“, via Film at Lincoln Center (Youtube)

Quo Vadis, Aida?

Mit Quo Vadis, Aida? verfilmte Regisseurin Jasmila Žbanić ihr eigenes Drehbuch über den Bosnienkrieg, genauer das Massaker von Srebrenica im Jahr 1995. Im Zentrum der Handlung und des Titels steht die bosnische Übersetzerin Aida Selmanagić (Jasna Đuričić), die für die UN als Dolmetscherin arbeitet. Nach Angriffen auf Srebrenica suchen zahlreiche Zivilisten Schutz in dem UN Flüchtlingscamp, das zwar extra für den Fall eingerichtet wurde, aber nicht die tatsächliche Masse an Menschen aufnehmen kann. Während die UN überfordert zwischen den Fronten agiert und hilflos auf Unterstützung wartet und beschwichtigt, steht Aida vor einem immensen Gewissenskonflikt. Einerseits gelten für Aida durch ihre Arbeit für die Blauhelme Sonderregeln, andererseits nicht für ihre Familie, die doch zu den Kriegsopfern zählt. Aida versucht die Regeln zu dehnen, sie ist Betroffene wie auch um Neutralität bemühte Vermittlerin. Als Dolmetscherin ist sie außerdem zu oft das Sprachrohr von Botschaften, die über Leben entscheiden und schwer über die Lippen kommen.


„QUO VADIS, AIDA? Trailer German | Deutsch (2020)“, via Polyfilm Verleih (Youtube)

Die Frage „Wohin gehst du?“ (Quo Vadis?) bezieht sich auf Aidas Mehrfachrolle. Der Film zeigt wie schwer Neutralität angesichts eines Krieges und Genozids ist und fragt, ob es diese Neutralität oder Professionalität überhaupt gibt? Ob sie fair ist? Ist es fair, dass Aida Überbringerin sovieler schlechter Nachrichten ist? Wir antworten als Außenstehende vielleicht „es ist ihr Job“. Ist es fair, dass Aidas eigene Familie keinen Platz im Camp hat? Wir antworten vielleicht um Neutralität bemüht „sie müssen den Regeln folgen wie alle anderen“. Aber der Film macht mehr als deutlich wie untragbar diese Neutralität ist, wenn man Betroffene*r ist. Der Film macht klar: es gibt diese Neutralität nicht und das Bemühen darum gleicht Grausamkeit. Er fängt neben Aidas Gewissenskonflikt auch den Genozid; das Mindset der Täter, Opfer und Vermittler*innen ein und auch absolut erschütternd: wie Generationen später alle versuchen damit umzugehen und von Nachkommen all dieser Seiten erwarten weiterzumachen. Es ist Regisseurin Jasmila Žbanić absolut gelungen einen Film zu drehen, der mitreißt, erklärt und vermittelt, dass uns Empathie füreinander (und nicht nur für „unsere eigenen Leute“) nie abhanden kommen darf. Wenn mich aber nun jemand fragt, warum der Film dann keine 10 von 10 Sternen bekommt, muss ich mit einem verzagten „Vielleicht weil er zu hart war“ antworten. Und es tut mir wahnsinnig leid, dass ich (das erste Mal in der Geschichte dieses Blogs) keine bessere Begründung finden kann.

Quo Vadis, Aida?; Bosnien-Herzegowina, Deutschland, Frankreich, Österreich, Polen, Rumänien, Niederlande, Norwegen; 2020, Jasmila Žbanić, 103 min, (8/10)

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Header image uses a photo by Ruvim Noga on Unsplash

Die beiden heute besprochenen Filme sind alles andere als leichte Kost und doch die besten Beispiele dafür, was für eine wichtige Rolle Filmen zukommt. Ich habe in „Quo Vadis, Aida?“ tatsächlich mehr über den Bosnienkrieg gelernt als in der Schule und war entsetzt über meine Wissenslücken. Was dem Konflikt folgte war nichts geringeres als ein Genozid und der ist keinesfalls lange her. „Identifying Features“ schärft den Blick dafür was illegale Einwanderung oder auch nur das Unterfangen überhaupt bedeutet und welchen Gefahren sich Immigranten aussetzen. Lebensrealitäten, die ich nur aus Zeitungsschlagzeilen kenne. Umso wichtiger ist es, dass diese in Ton und Bild dargestellt werden und hoffentlich ein großes Publikum erreichen.

Tatsächlich sind „Identifying Features“ und Mogul Mowgli meine Programmhighlights, von den Schauwerten und der visuellen Sprache her auch The Man Who Sold His Skin. Etwas schade ist es schon, dass ich nur sechs Filme beim Lichter Filmfest geschafft habe, obwohl es nun schon online und on-demand lief. Aber was soll ich sagen … das Leben, die Arbeit, es kam einiges dazwischen. Allerdings bin ich sehr froh, dass ich zumindest meine 6 priorisierten Filme geschafft habe und mit meiner Wahl sehr zufrieden. Was man Lichter auch lassen muss: technisch lief alles einwandfrei. Welche Filme habt ihr bei Lichter geschaut? Wart ihr eventuell schon mal vor Ort beim Lichter Filmfest?

3 Antworten

  1. Avatar von voidpointer
    voidpointer

    Uff, besorgniserregende und wichtige Filme denke ich. Im Johannesevangelium heißt es „Domine, quo vadis?“
    Die Historie von Mord und Massenmord ist bemerkenswert in der Menschheitsgeschichte. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde am 10. Dezember 1948 verkündet.
    Mord ist gegen die Regeln jeder menschlichen Gemeinschaft. Alle Kriterien, die eine Selektion möglich machen, sind praktisch motiviert, aber bleiben letzten Endes unmenschlich. Tragisch, wenn der Mensch Not und Elend nicht mehr überwinden kann und so zum Tier „hinabsteigt“. Tragisch, wie schwer sich die Menschheit damit so oft getan hat. Elend ohne Not ist dann noch eine Stufe tiefer.

    1. Avatar von Miss Booleana
      Miss Booleana

      Ach, aus dem Johannesevangelium – schon bin ich wieder schlauer geworden. Ich wusste nur, dass „… quo vadis“ auch in der Bibel steht.
      Wenn man in einer sicheren Umgebung lebt ist es so einfach sich in Watte zu packen und zu denken, dass Völkermord oder Massemord ein Thema der Vergangenheit ist, was leider nicht stimmt wie die Nachrichten und in dem Fall der Film beweisen … erschreckend. Hat auch hier in meinem Umfeld ein wenig die Debatte ausgelöst „Warum guckst du denn sowas?“ Na, aus Gründen. Man lernt, man setzt sich damit auseinander … und das in einem geschützten Umfeld … mir stellt sich da immer eher die Frage „Warum nicht?“

  2. […] geblieben sind. Unter den Lichter-Filmfest-Filmen, die ich online geschaut habe, haben mir im Mai Identifying Features und The Man Who Sold His Skin am besten gefallen. Außerdem habe ich endlich mal Portrait einer […]

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