7ème art: Filme von Małgorzata Szumowska

Es fing damit an, dass ich nach einem Horrorfilm einer Regisseurin suchte, „The Other Lamb“ von Małgorzata Szumowska fand und mich innerlich empörte, dass ich noch nie von ihr gehört hatte. Damals schrieb ich: ich möchte nun alles sehen, was ich von ihr in die Finger kriegen kann. Gesagt, getan. Das hat mir am Ende den polnischen Film näher gebracht und ja, Małgorzata Szumowska wohl zu einer meiner Lieblingsregisseurinnen gemacht. Daher heute: sieben Filme von Małgorzata Szumowska!

Das bessere Leben

In Das bessere Leben nach einem Drehbuch von Małgorzata Szumowska und Tine Byrckel arbeitet die Journalistin Anne (Juliette Binoche) an einer Reportage über Sex-Arbeiterinnen. Während der Redaktionsschluss näher rückt, reflektiert sie die Interviews mit den Sex-Arbeiterinnen, die sie kennengelernt hat: mit Charlotte (Anaïs Demoustier), die ihr spießbürgerliches Heim in der Provinz verachtet und der polnischen Studentin Alicja (Joanna Kulig). Der Kontrast springt ins Auge. Beide suchen ein „besseres Leben“ so wie das, was Anne nach außen hin zu haben scheint. Anne wiederum sucht die Freiheit von eben genau diesem Leben.

Wie kann dieses Aufeinanderprallen von Welten ausgehen? Wenn Annes vorrangig abwesender Workaholic-Ehemann wieder mal fragt, was sie gegen den rebellierenden Sohn tut, wie kann da wohl Annes Antwort auf die Frage aussehen? Ihr Privat- und Familienleben wirkt über alle Maßen frustrierend. Luxusgüter (der High-End-Kühlschrank, der Entkorker) werden zu Alltagsfallen statt dem Ausdruck eines „guten Lebens“. Anne beginnt sich nach den sexuellen Abenteuern zu sehnen, die Charlotte und Alicja erleben. Und das trotz der Negativbeispiele, die sie zu erzählen haben wie gewalttätigen Grenzüberschreitungen der Freier. Das bessere Leben zappt schnell zwischen den verschiedenen Erfahrungen und Geschichten hin- und her ohne zu verwirren. Dabei überlässt es Zuschauenden aus Themen wie sozialen Schichten, mangelnden Perspektiven, Notsituationen, Wunschvorstellungen und dem Älterwerden Erkenntnisse zu ziehen und liefert dafür genau die richtigen Brotkrumen in beeindruckendem Spiel der Darstellerinnen. Nebenbei erzählt es nüchtern (und vielleicht einen Hauch zu vorhersehbar) wie dieser Clash der Lebensweisen ausgehen muss.

Das bessere Leben, Frankreich/Polen/Deutschland, 2011, Małgorzata Szumowska, 99 min, (8/10)

Sternchen-8
Das bessere Leben Trailer Deutsch HD, Kiiko2011, Youtube

Im Namen des …

In einer kleinen polnischen Gemeinde leitet Pater Adam (Andrzej Chyra) zusammen mit einem Kollegen ein Heim für Jugendliche, die sonst nirgends einen Platz haben. Er navigiert sich durch deren Geraufe, das Gemunkel über seine Person im Dorf und die eine oder andere Versuchung – erfolgreich? Dabei sind es gar nicht die sexuellen Avancen der Frau seines Kollegen, sondern der empfindsame (nicht minderjährige) Lukasz (Mateusz Kościukiewicz), die ihn zum Wanken bringen.

Małgorzata Szumowska fängt mit ihrem Team die Versuchung ein wie auch den Zwiespalt zwischen Religion und Leidenschaft. Adam brennt für die Dinge, die er tut. Für die Religion und dafür den Jugendlichen ein Heim und vielleicht unbeschwerteres Aufwachsen zu bieten. Dann aber ist da seine innere Zerrissenheit wie mit Verlangen umzugehen ist und die bittere Ironie mit der ihm die Kirche dabei eben nur bedingt hilft („Beichte? Heute nicht. Ich putze hier.“) Wie in anderen Filmen Szumowska liegt in den Filmen ein feiner, ironischer Humor. Für das was der Film aber erzählt, fühlt er sich am Ende verhältnismäßig lang an und zögert die Pointe lange hinaus. Das Ende kann man wohl kontrovers nennen.

Im Namen des … (OT: W imię …), Polen, 2013, Małgorzata Szumowska, 96 min, (7/10)

Sternchen-7

Die Maske

Metalhead Jacek (Mateusz Kościukiewicz) lebt mit seiner Familie in einem kleinen Dorf in Polen. Er nimmt die mangelnden Perspektiven und rauen Sitten seiner Familie mit einem Lächeln, während er davon träumt seine Freundin Dagmara (Małgorzata Gorol) zu heiraten und nach Großbritannien auszuwandern. Um das zu finanzieren, schuftet er auf dem Bau. Eines Tages geschieht ein folgenschwerer Arbeitsunfall, den er knapp überlebt, der ihn aber entstellt. Jacek wird Empfänger der ersten Gesichtstransplantation Polens. Angesichts dessen fällt es real und metaphorisch schwer die Unwegsamkeiten des Lebens wegzulächeln.

Die Regisseurin bettet zwischen Jaceks Lieben und Leiden zwei reale Ereignisse. Die Gesichtstransplantation ist angelehnt an die tatsächliche, die 2013 stattfand und auch das Bauwerk, an dem Jacek arbeitet, gibt es tatsächlich. Und das ist nicht irgendeines, sondern eine hohe, freistehende Statue Jesu, die mit 36 Metern die in Rio de Janeiro überragt und tatsächlich in Świebodzin steht. Szumowskas Film nach einem gemeinsamen Drehbuch von ihr und Michał Englert ist eine Groteske über die Bigotterie der Gesellschaft. Ein Beispiel dafür ist einerseits wie anfangs noch Spenden für Jaceks medizinische Eingriffe gesammelt werden und hervorgehoben wird, dass er schließlich beim Bau eines religiösen Symbols verunglückte, andererseits nennen ihn die Leute auch Schweinegesicht und machen sich über ihn lustig. Selbst die eigene Familie.

DIE MASKE Trailer German Deutsch (2019), KinoCheck, Youtube

Der Film tut gleichermaßen weh wie er auch lichte Momente hat, wenn Jacek gemäß seines Humors und Charakters die Leute selber auf die Schippe nimmt, kritisiert und auch mal zurückschlägt. Der mit Tilt-Shift-Verfahren erzielte Eindruck von wechselnder Tiefenschärfe-/unschärfe verschiebt den Fokus stets auf andere Akteure oder Situationen im Bild. Manchmal tut das viel, manchmal wenig. Ab und zu entsteht der Eindruck man sähe wie Jacek oder es erweckt den Eindruck eines Dioramas. Und ein bisschen ist es ja so – durch die plötzliche Änderung in seinem Leben ist die Welt, die Menschen, die Familie wie das Leben in einer Nussschale. Klein und vorhersehbarer als man sich das erhofft hatte. Spannend ist zu sehen wer am Ende zu ihm hält und was Jacek daraus für Schlüsse zieht.

Die Maske (OT: Twarz), Polen, 2018, Małgorzata Szumowska, 92 min, (9/10)

Sternchen-9

The Other Lamb

Der Film handelt von einer Gemeinschaft von Selbstversorger:innen, abgeschieden von jeglicher Infrastruktur und Technologie in (vermutlich) Irlands Wäldern und Wiesen. Die Gemeinde besteht aus Frauen, die in „Mothers“ und „Daughters“ eingeteilt sind und von einem Mann (Michiel Huisman) geleitet wird, den sie „Shepherd“ nennen. Läuten schon alle Alarmsirenen? Wahrscheinlich. Getaucht in urige Bilder der rau-schönen Landschaft verfolgen wir das Zusammenleben aus der Perspektive von Selah (Raffey Cassidy), die schon in der Gemeinschaft aufgewachsen ist und ihren Regeln folgt. Sie fühlt sich geborgen und buhlt um die Aufmerksamkeit ihres Vaters. Als aber ihre Regelblutung einsetzt und sie für die Dauer zu den anderen (vor den Augen Shepherds) „Aussätzigen“ verbannt wird, beginnt sie die Regeln der Gemeinschaft zu hinterfragen und v.A. sich zu fragen wie ihre Mutter gestorben ist.

Zu Selahs beginnender Unruhe und den quälenden Fragen gesellen sich noch Albträume und Visionen, die abgesehen von allen moralischen Implikationen wohl am ehesten den (sehr kleinen) Horror-Aspekt des Films ausmachen. Schaut man The Other Lamb, dann muss man vom eigenen zivilisatorischen Podest runtersteigen und möglichst nicht urteilen. Es ist sicherlich sehr verlockend zu rufen „Aber sie müssten es doch besser wissen!“ Das ist ganz klar nicht das, wonach der Film sich ausstreckt, sondern der Realisierung einer jungen Frau beizuwohnen, die langsam beginnt zu verstehen, die rein männliche Narrative und rein männlich gemachten Regeln zu hinterfragen. Es fiel mir allerdings auch schwer mich auf den Standpunkt einzulassen und ich hätte die Arme in die Luft reißen und rufen wollen „Hab ich’s doch gewusst!“ mit jeder weiteren „interessanten“ Regel Shepherds, on der wir erfahren. Davon abgesehen ist der Film eine Augenweide, entlarvend und aufrüttelnd.

The Other Lamb, Irland/Belgien/USA, 2019, Małgorzata Szumowska, 96 min, (7/10)

Sternchen-7

Nightwalk

Zwei Personen (Raffey Cassidy, Filip Rutkowski) in Disput. Ihre Familien schreien sie an oder ignorieren sie. Beide verlassen das Haus, streifen durch die Nacht und ihre Kleidung ab. Tragen andere, transformieren sich. Das Walk in Nightwalk ist nicht zufällig. Der nur 9 Minuten lange Film ist Teil der Kurzfilmreihe Women’s Tales des Modelabels Miu Miu (aus dem Hause Prada) und ihr Gang durch die Nacht erinnert an den Lauf auf einem Laufsteg. Nur, dass er dramatischer anfing. Mit offensichtlichem Streit und Verzweiflung. Dahinter mag das Geschichtenerzählen stecken wie wohl sicherlich auch Werbung und wäre mir eigentlich nicht so genehm es als Teil einer Werkschau hier zu verbreiten. Und natürlich fallen da einige Klamotten, die sicherlich von Miu Miu stammen. Dann aber wiederum ist der Kurzfilm eine (mangels Dialog) universell verständliche Botschaft darüber wie Mode zum Ausleben und Formen der eigenen Geschlechtsidentität beiträgt. Die wird als Befreiungsschlag dargestellt, der auf die eine oder andere Weise vielleicht etwas in ihrer beider Leben verbessert. Das stellt den Blickwinkel von uns Zuschauenden auf den Kopf – auch via Kamera. Małgorzata Szumowska hat den Clip als Befreiungsschlag in schöner Bildsprache inszeniert und in nur 9 Minuten erzählt wie wenig fix Geschlechteridentitäten sind.

Nightwalk, Italien/Polen, 2020, Małgorzata Szumowska, 9 min, (7/10)

Sternchen-7

Der Masseur

Hier seien zuletzt schon ein paar komische Vögel eingezogen, findet eine der Bewohnerinnen einer Gated Community, d.h. einer bewachten und zugangsbeschränkten Wohnanlage der „besseren Gesellschaft“ in Polen. Ob das Empfinden wohl auf Gegenseitigkeit beruht? Mit Sicherheit. Der ukrainische Einwanderer Zhenia (Alec Utgoff) erlebt die kleine Gemeinde auch, wertet aber nicht. Er verdient sich als Masseur. Sein Ruf verbreitet sich in der Wohnanlage wie ein Lauffeuer – ihm werden heilende Kräfte nachgesagt. Eventuell ist da was dran. Aber kann Zhenia sie alle retten?

DER MASSEUR Trailer German Deutsch (2021), KinoCheck Indie, Youtube

Das ist etwas augenzwinkernd gemeint, denn gemäß des alten Sprichworts „jeder ist seines:ihres Glückes Schmied“ könnten sie sich eigentlich alle selber retten. Aber manchmal braucht es einen Schubser von außen, manchmal richtet es ein Nickerchen, manchmal ist schlichtweg nicht zu helfen. So bekommt Zhenia es u.a. mit einer gestressten und enttäuschten Hausfrau und Mutter (Maja Ostaszewska) zutun, wie auch einem Sterbenskranken (Andrzej Chyra). Es ist spannend zu sehen wie weit Zhenia gehen kann und wie viel er als eine Kraft von Außen in dieser geschlossenen Gesellschaft ausrichten kann. Gegen Ende aber erschien es mir etwas willkürlich welche Geschichten von Zhenias Patienten und Patientinnen offen bleiben, welche abgeschlossen werden. Zhenias hingegen findet ein relativ rundes Ende, das einen Hauch von magischem Realismus hat und zarte Züge eines Feelgood-Films inmitten all des absurden in der kleinen Gemeinschaft von Besserverdiener:innen.

Der Masseur (OT: Never Gonna Snow Again), Polen/Deutschland, 2020, Małgorzata Szumowska/Michał Englert, 120 min, (8/10)

Sternchen-8

Infinite Storm

Infinite Storm ist Szumowskas erster US-Film in Spielfilmlänge und ich glaube ich bin die einzige Person, die ihn mag. Vielleicht ist es ein Vorurteil, dass eine amerikanische Produktion für europäische Filmschaffende einen Wendepunkt markieren kann. Vielleicht ist es auch ein Vorurteil, dass das häufig nach hinten losgeht. Offenbar muss jede:r selber entscheiden wie das hier zu bewerten ist, denn entgegen dem Feuilleton hat mich das melodramatische in Infinite Storm an einem wunden Punkt gepackt und emotional gekriegt.

Der Film basiert auf einer wahren Begebenheit (offenbar schalten hier schon viele aus wie ich neulich gelernt habe). Die ehrenamtliche Bergretterin Pam (Naomi Watts) bricht zu einer Wanderung auf – dieses Mal reine Freizeit. Dass ein Unwetter angesagt ist, macht sie nicht nervös, da sie ja offenbar für sowas die Ausrüstung hat. Allerdings trifft sie die Wetterlage und Situation auf dem Berg doch unerwartet. Hier könnte der Film normalerweise eineinhalb Stunden mäandern und zeigen wie sie sich befreit. Aber nein, Pam kommt klar solange sie noch alleine ist. Die eigentliche Überraschung des Films ist, dass sie nach dem sie sich selber aus einer Zwangslage befreit hat, jemanden auf dem Berg in einer viel größeren Zwangslage trifft.

Infinite Storm – Offizieller Trailer (Deutsche Untertitel), Sony Pics at Home DE, Youtube

Natürlich ist es etwas lehrbuchhaft wie von Anfang an gezeigt wird, was Pam unternimmt um sich auf eine schwierige Wanderung vorzubereiten und wie sie aus bestimmten Situationen rauskommt. Aber das ist auch nicht per se schlecht, oder? Was tatsächlich Geschmackssache ist: die melodramatische Vorhersehbarkeit mit der Pam ihr Aufbrechen begründet. Der Berg würde die Therapie ersetzen. Spätestens hier wissen wir, dass es was zu holen gibt. Pams Vergangenheit(sbewältigung) hat mich aber doch mitgenommen genauso wie die Gegenüberstellung zu ihrer überraschenden Bekanntschaft auf dem Berg. Es ist erneut ein Film Szumowskas, der die Titelheldinnen in eine unmögliche Situation bringt. Was tust du, wenn du jemanden triffst, der so offensichtlich sterben will, wenn du versuchst zu überleben? Darüber hinaus haben mich die Naturgewalten in dem Film begeistert, die Schönheit der Landschaft und dass sie Menschen ungeschminkt zeigen.

Infinite Storm, USA, 2022, Małgorzata Szumowska/Michał Englert, 97 min, (7/10)

Sternchen-7

Immer wieder suche ich hier für die Werkschauen Regisseurinnen mit mindestens sieben Filmen in der Filmografie. Das sich so selten welche finden lassen verglichen zu Regisseuren ist für mich immer noch ein Zeichen, dass die Industrie immer noch ein härteres Pflaster für Frauen ist. Wie konnte Małgorzata Szumowska an mir vorbeigehen? Vor Allem bei der starken Werkliste? Es ist mir echt ein Rätsel, warum ihre Filme nicht ein viel größeres Publikum haben.

Małgorzata Szumowska hat eine enorm vielseitige Filmografie, die sich oftmals den Themen vermeintlich marginalisierter Menschen annimmt. Frauen, der queeren Community, Einwanderer:innen, unvm. und fühlt sich ungemein „heutig“ an. Was wohl auch viele ihrer Filme teilen ist ein Blick auf menschliche Schicksale angesichts von Ausnahmesituationen mit teils realen Ereignissen, Orten oder Personen. Ich finde es faszinierend wie ihre Filme den Eindruck vermitteln, dass unsere Mitmenschen und unsere Welt unmögliche Geschichten erzählen zu haben. Danach möchte man auf die Straße laufen und willkürliche Leute nach den einschneidensten Erlebnissen in ihrem Leben fragen. Davon abgesehen habe ich in ihren Filmen Polens Landschaften bestaunt und ein bisschen bedauert selber so wenig eine Beziehung zum Nachbarland zu haben.

„7ème art“ (Sprich: septième art) heißt „siebte Kunst“. Gemäß der Klassifikation der Künste handelt es sich hierbei um das Kino. In dieser Kategorie meines Blogs widme ich mich also Filmen – evtl. dehne ich den Begriff dabei etwas. Regulär stelle ich zwischen dem 1. und 5. jeden Monats jeweils 7 Filme in kurzen Reviews vor.

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