Heute gibt es hier eine Premiere. 🙂 Das erste Mal widmet sich das monatliche Filmeschauen dem Werk eines Komponisten. Bei Filmmusik denken die meisten wohl an Hans Zimmer, John Williams, Ennio Morricone, Alexandre Desplat, Ludovico Einaudi, Hildur Guðnadóttir oder Jóhann Jóhannsson. An die denke ich auch. Vor Allem denke ich aber an Ryūichi Sakamoto, meinen Lieblingskomponisten. Sakamotos Werk begegnete mir vor Jahren in irgendwelchen Playlisten. Die Lieder wurden für Filme komponiert, die ich nie gesehen hatte, mir aber sehr bekannt vorkamen. Nach und nach habe ich mich durch seine Alben gehört – und ja: auch die entsprechenden Filme geschaut, für die er komponiert hat. Thema heute sind also: sieben Filme, für die Ryūichi Sakamoto die Filmmusik komponierte. Und ich wette ihr kennt auch die einen oder anderen Songs. Anspieltipps folgen nach dem Absatz. Übrigens spielt er auch tatsächlich in zwei der Filmen mit. 😉 Wer sich vorher einen Eindruck von Sakamoto verschaffen will, denen empfehle ich den Guardian-Artikel Electronic pioneer Ryuichi Sakamoto: ‚My great regret is not reconnecting with Bowie‘ vom 08.02.2018
„Ryuichi Sakamoto- ‚Merry Christmas Mr Lawrence’“, via Decca Records Classical (Youtube)
Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence
Furyo ist eigentlich nur der Titel im deutschen Verleih. Das Wort bedeutet Kriegsgefangener und gibt recht schnell einen Eindruck, worum es in dem Film geht, der im Rest der Welt als Merry Christmas, Mr. Lawrence bekannt ist. Handlungsort ist ein Kriegsgefangenenlager auf der im Jahr 1942 noch von Japan besetzten Insel Java. Die dort inhaftierten internationalen Gefangenen finden im Oberstleutnant Lawrence (Tom Conti) einen Sprecher, da er des Japanischen mächtig ist. Andersrum kommt auch die Lagerleitung in Form von Hauptmann Yonoi (Ryūichi Sakamoto) und dem ihn unterstellten Feldwebel Hara (Takeshi Kitano) des öfteren auf Lawrence zu. Die Japaner halten die Gefangenen nicht in komplett menschenunwürdigen Umständen, aber ihre Vorstellungen von Moral, Ehre und Pflicht sorgen für Konflikte, in derer Mitte oftmals voller Bemühen Lawrence steht und versucht zu vermitteln. Als der aufrechte aber auch strenge Yonoi den eigentlich schon zum Tode verurteilten Major Celliers (David Bowie) in das Camp schleift, verschiebt sich die Dynamik noch mehr und bringt alle Beteiligten an den Rand ihrer eigenen Wertevorstellungen.
Mein Gott, ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll. Es ist erstmal schon eine Sensation, dass hier mit Ryūichi Sakamoto und David Bowie zwei so bekannte Größen der Musikszene nebeneinander auftreten. Sakamoto war schließlich jahrelang Teil des Yellow Magic Orchestra, dessen Bedeutung in Japan mit der Kraftwerks in Deutschland verglichen werden kann. Zu Bowie muss ich wohl nichts sagen. Wohl der Musiker und Schauspieler mit den markantesten Augen überhaupt tritt hier als Major Celliers auf, der Mut und Nächstenliebe bis zur Selbstaufgabe aufbringt. Was den in Bushido gelehrten Yonoi andere Perspektiven eröffnet und verblüfft. Yonois Gefolgsleute werden sagen, dass Celliers ein Dämon ist und ihn vergiftet. Viel mehr verliebt sich Yonoi eventuell in Celliers oder sagen wir mal so hat einen Narren an ihm gefressen und bemüht sich, das nicht „zuzulassen“. Dennoch fällt er mehrmals aus seiner Rolle. Die beiden sind eine ziemlich Wucht. Man würde ihnen aber mehr Szenen wünschen, in denen sie tatsächlich interagieren. Das wird ein anhaltendes Problem des Films sein, wenn durch die Augen heutiger Sehgewohnheiten betrachtet.
„Merry Christmas Mr Lawrence Official Trailer HD“, via Arrow Academy (Youtube)
Der Film hat eben kaum Wertung außer durch Lawrence, der als eine Art moralischer Kompass fungiert. Insbesondere Lawrence kennt sowohl die Weisen der Japaner*innen als auch die der Amerikaner- und Europäer*innen. Für viele Zuschauende wie auch die Kriegsgefangenen werden die Ehrvorstellungen der Besatzer rund um Harakiri und Befehlsfolge ein kleiner Culture Clash. Dass Lawrence als der Vermittler einer derjenigen sein wird, der überlebt, ist eine überdeutliche Botschaft für gegenseitiges Verständnis. Das anekdotenhafte der losen Szenen und Konflikte könnte manchmal mehr on point sein. Manchmal wirkt es als ob die Schlusspointe fehlt, die Schlüsselszene, die Yonois Vernarrtheit erklärt oder auch wie es Yonoi am Ende erging, was vollkommen offen bleibt. Hier fehlt die schlussendliche Rafinesse in einem ansonsten spannenden Film, der nachdenklich macht, großartige Bilder und einen schönen Piano-Synthi-Soundtrack hat. What a time to be alive müssen sich diejenigen gedacht haben, die Sakamoto und Bowie kannten und im Kino zusammen auf der Leinwand sahen. Habe ich erwähnt, dass Takeshi Kitano mitspielt?? Angeblich soll Merry Christmas, Mr. Lawrence wohl ein Lieblingsfilm Akira Kurosawas sein und ich kann verstehen warum. Ach wie aufregend.
Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence (OT: Senjō no merī kurisumasu „Merry Christmas, Mr. Lawrence“); Japan/Großbritannien, 1983, Nagisa Ōshima, 124 min, (7/10)
Jack Thompson, Ryuichi Sakamoto, David Bowie, and Nagisa Oshima—#BornOnThisDay in 1932—presenting MERRY CHRISTMAS MR. LAWRENCE (1983). pic.twitter.com/srGhkEbEdw
— The Daily (@CriterionDaily) March 31, 2019
Der letzte Kaiser
Er sieht aus wie ein einfacher Mann. Aber einige der Gefangenen erkennen in ihm „ihren Kaiser“ und verbeugen sich ehrfürchtig. Geduldet ist der Begriff nicht mehr vor den kommunistischen Umerziehern des Kriegsgefangenenlagers, in das sie 1945 gebracht werden. Tatsächlich ist der Mann Puyi (John Lone), der letzte Kaiser Chinas. Danach springt der Film in das Jahr 1908, in dem Puyi als Zweijähriger in die Verbotene Stadt gebracht und zum Kaiser gekrönt wird. Er wächst hinter den Mauern der Verborgenen Stadt wie im goldenen Käfig auf – es ist ihm untersagt rauszugehen. Währenddessen wird nur wenige Jahre später China zur Republik rausgerufen und er lebt in einem seltsamen Zwischenzustand und einer Imitation von Kaisertum auf. Sein schottischer Lehrer Reginald Fleming Johnston (Peter O’Toole) wird einer seiner engsten Vertrauten und einer derjenigen, die Bericht darüber erstatten was aus dem letzten Kaiser Chinas wurde als die Rote Armee an die Tore der Verbotenen Stadt klopfte.
„DER LETZTE KAISER | Trailer / Deutsch | Bernardo Bertolucci | ARTHAUS“, via ARTHAUS (Youtube)
Die unglaublichsten Geschichten schreibt vielleicht immer noch die Realität. Bernardo Bertolucci fasste auf Film wie ein Zweijähriger zum Kaiser wurde, sein Wort Gesetzt – wenn auch nur für kurze Zeit. Auch danach wirkt die Verbotene Stadt wie eine Parallelwelt in der ein schottischer Lehrer und sein kaiserlicher Schüler versuchen zu reformieren und Moderne einkehren zu lassen. Draußen tobt bald der Zweite Weltkrieg. Das und der Sprung zwischen den Zeitebenen macht das Dilemma Puyis greifbar, seinen Lebensweg unfassbar und ihn zu einer tragischen Figur. Bernardo Bertoluccis Film hat enorme Schauwerte, nicht nur weil er an Originalschauplätzen gedreht wurde. Vor Allem aber auch wegen des Gespürs für Schlüsselszenen, Symbolik und die schöne Tragik seiner Figuren. Wenn sich eine ganze (verbotene) Stadt (deren Zeit abläuft) vor dem kindlichen Kaiser verbeugt, hat das Gänsehaut-Potential. Sowohl diese Szenen voll Gravitas und Ehrfurcht als auch die kleinen Charaktermomente werden von einem wunderbaren (zu recht oscarprämierten) Score von Ryūichi Sakamoto, David Byrne und Cong Su. Anders als man es wegen der Herkunft der Komponisten erwarten könnte, war Sakamoto für die Pianostücke und westlich angehauchten Nummern verantwortlich wie das großartige Rain und das Titel Thema, Byrne für die asiatisch klingenden Nummern. Sakamoto übernimmt ebenfalls eine Rolle als japanischer Leutnant Masahiko Amakasu. Bertoluccis Der letzte Kaiser gelingt es wie wenig andere Filme historische Zusammenhänge und Atmosphäre vielschichtig darzustellen, trotzdem muss er sich die Kritik gefallen lassen von zuviel „künstlerischer Freiheit“ Gebrauch gemacht zu haben um die Gräuel der Japaner greifbar zu machen.
Der letzte Kaiser (OT: The Last Emperor), Großbritannien/Frankreich/Italien, 1987, Bernardo Bertolucci, 160 min, (9/10)
Himmel über der Wüste
Kurz nach dem Ende des zweiten Weltkriegs reist das Künstlerehepaar Kit (Debra Winger) und Port (John Malkovich) zusammen mit ihrem Begleiter Tunner (Campbell Scott) durch Marokko. Das Ehepaar ist der Kunstszene ihrer amerikanischen Heimat überdrüssig und manchmal auch sich gegenseitig. Über ihnen schwebt das Wort Trennung wie ein Damoklesschwert. Die Anwesenheit Tunners macht es nicht einfacher, da Port ständig vermutet, dass er mit Kit schlafen will. Am Anfang des Films gibt das Ehepaar zu verstehen, dass sie keine Touristen sind, sondern Reisende. Auf die Frage, was der Unterschied sei, geben sie anTouristen hätten vor zurückzukehren. Tatsächlich wird die Reise ihre Leben verändern.
„HIMMEL ÜBER DER WÜSTE | Trailer / Deutsch | Bernardo Bertolucci | ARTHAUS“, via ARTHAUS (Youtube)
Versetzt man sich in eine fremde Umgebung, löst sich von Allem, was einen bis dahin definierte und von allen Personen, die einen kennen, ist es vielleicht der einzige wirkliche Weg sich zu finden oder neu zu erfinden. Die Wüste ist das perfekte Symbol und Projektionsfläche für die Suche nach einem selbst und die Leere, die Kit und Port empfinden. Malkovich und Winger transportieren das perfekt und fühlen sich entsprechend zu der Wüste hingezogen, desto mehr sie sich voneinander entfremden. Was das betrifft ist Bertoluccis Himmel über der Wüste (ich vermisse ein „Der ~“) wohl ein nahezu brutales, wenn auch verkopftes Trennungsdrama.
Die Art und Weise wie beide auseinander gehen ist erschütternd, denn so hätte es sicherlich nicht laufen sollen. Dass Kit gegen Ende „alles mit sich machen lässt“ und alle Verantwortung über sich selber abgibt, kann als freier Fall gedeutet werden, als „Reset“ ihres Lebens und eine verdrehte Form von Freiheit. Aber nur der Freiheit keine Entscheidungen mehr treffen zu müssen. Allerdings wirkt es auch mysogyn. Dadurch, dass Bertolucci das Leben der Beduinen auf faszinierende Art mit einfängt und uns in ihren Kreis einlädt ohne die Rituale zu kommentieren, schafft er mehr Verbundenheit und Empathie für ihren Kulturkreis; aber insbesondere was Kit gegen Ende widerfährt kann man nur schwierig finden. Bertolucci hat Frauen wohl oftmals in eher nicht feministische Positionen gebracht, um über sie das Patriarchat zu adressieren. Nun, das mag auch auf Himmel über der Wüste zutreffen, aber durch die wertungsfreie Darstellung bleibt leider auch die Pointe aus. Was der Film über die Sinnsuche zu sagen hat, gelingt besser und wird in wunderschöne und metaphernreiche Bilder gegossen. Begleitet vom unterschwellig dramatischen Soundtrack Sakamotos ist Himmel über der Wüste ein sinnlicher und tragischer Film, der doppelt daran erinnert sein Leben gut zu leben.
Himmel über der Wüste (OT: The Sheltering Sky), Großbritannien/Italien, 1990, Bernardo Bertolucci, 140 min, (8/10)
Tony Takitani
Kürzlich erschien ein Buch über Haruki Murakami und seine T-Shirt-Sammlung. Tatsächlich entlieh er wohl einem Shirt auch daher die Idee und den Titel seines Buches Tony Takitani. Der von Jun Ichikawa adaptierte Film ist erfrischend anders als alles was ich zuletzt gesehen habe und fühlt sich ein wenig an wie die Begegnung mit dem auktorialen Erzähler eines Buches. Nur mit Bild. Wir lernen unseren Titelhelden Tony Takitani als Jungen kennen und erleben die bewegte Lebensgeschichte seines Vaters, dass seine Mutter früh starb und dass Einsamkeit seit jeher der wohl konstanteste Teil seines Lebens war. Plus das Gefühl der Entfremdung von seinen Mitmenschen, die ihn schon alleine wegen seines amerikanisch klingenden Vornamens wie einen Aussätzigen beäugen. Dann begegnet der erwachsene Tony (Issei Ogata) einer jungen Frau namens Eiko (Rie Miyazawa), die ihn vielleicht von seiner Einsamkeit erlöst. Was sie an Introspektion vorschießt, ist beeindruckend. Ihr würde etwas fehlen, weswegen sie ungemein viele Klamotten kauft.
Anders präsentiert könnte das der Beginn einer RomCom mit einem ulkigen Klamotten-Fetisch sein . Tatsächlich ist Tony Takitani alles andere als RomCom, eher ein sich sehr artsy anfühlender Film. Das liegt v.A. daran, dass die Erzählform komplett anders ist. Ein Erzähler kommentiert alles recht nüchtern und sachlich aus dem Off. Die Personen selber reden mal im Hintergrund oder füllen mit einzelnen Sätzen oder Wortgruppen die Lücken, die der Erzähler lässt. Sie transportieren entsprechend viel über Körpersprache und Atmosphäre der Szenengestaltung. Es ist als ob wir neben dem Erzähler stehen und ihnen zusehen würden. Nur, dass der Erzähler auch weiß wie sie sich fühlen und was ihre Traumata sind.
Tony ist einsam und füllt die Lücke durch einen Menschen. Seine Freundin und spätere Frau Eiko füllt eine Lücke innerhalb ihres Selbst mit Klamotten. Seine Einsamkeit wird durch viele Momente ausgedrückt, in denen er still reflektierend irgendwo sitzt. Ihre Rastlosigkeit durch Detailaufnahmen ihrer Füße, die ruhelos in ständig wechselnden, schönen Designerschuhen umehrstolzieren, daneben trägt sie Tüten aus Designerläden heraus. Begleitet wird das von wunderbaren, melancholischen Piano-Kompositionen Ryūichi Sakamotos und eher künstlich ungesättigten Bildern. Durch die vielen Totalen auf die Charaktere und den Abstand, der zwischen Zuschauenden und Figuren erstellt wird, ist die Atmosphäre nachdenklich, nicht fröhlich, aber auch nicht zu schwermütig. Das Symbolhafte, unaufgeregte Drama und ungewöhnliche der Situationen fühlt sich sehr nach Murakami an. Es ist ein sehr runder und stilistisch interessanter Film über dass was uns Menschen fehlt. Issei Ogata spielt neben Tony auch noch dessen Vater. Vielleicht ist er der Teil, der Tony fehlte? Auch Rie Miyazawa spielt eine zweite Figur in dem Film. Die perfekte Metapher auf das, was Eiko fehlt?
Tony Takitani (OT: トニー滝谷 „Toni Takitani“), Japan, 2004, Jun Ichikawa, 76 min, (9/10)
Der nachfolgende Edit enthält ab Minute 3 Spoiler
„Tony Takitani – Tribute to Jun Ichikawa & Ryuichi Sakamoto“, via Sudarshan Sawant (Youtube)
Ryuichi Sakamoto: Coda
Der Dokumentarfilm beginnt damit, dass Sakamoto die Region Fukushima besichtigt und sich die Geisterstädte anschaut, die der Tsunami und die quasi-Kernkatastrophe zurückgelassen haben. Hier und da sieht man ein Werbeschild für Kernenergie – bittere Ironie angesichts der Geisterstadt und des konstanten Knackens der Geigerzähler. Sakamoto spielt auf einem Klavier, das während des Tsunami von den Wassermassen weggespült wurde. Später im Film wird er sagen, dass es sich anfühlte so als ob man versuche auf dem Leichnam eines Klaviers Musik zu machen. Aber die Töne die rauskommen, sind auf eine entrückende Art schön. Coda sollte eine Biografie Sakamotos werden. Er erlangte in den 80er Jahren Berühmtheit mit der Electro-Synthie-Pop-Band Yellow Magic Orchestra. Später nahm er v.A. Soloplatten auf, die sich am ehesten dem Genre Neoklassik zuordnen lassen und komponierte zahlreiche Filmmusik-Scores, u.a. für Merry Christmas Mr. Lawrence, Babel und zuletzt The Revenant. Doch während der Dreharbeiten und seiner Arbeit an einem neuen Album wurde bei ihm Krebs diagnostiziert. Die Behandlung begann, Zwangspause und hoffentlich Genesung.
„Ryuichi Sakamoto: Coda Trailer Deutsch | German [HD]“, via Edition Salzgeber (Youtube)
Fünf Jahre lang begleitete Stephen Nomura Schible und sein Team Sakamoto und hat letzten Endes mehr eingefangen als die Geschichte eines Musikers und Aktivisten, sondern die Geschichte vom kreativen Schaffensprozess, Krankheit, von dem Erbe und sogar dem Umgang des Menschen mit seiner Umwelt. Sakamoto reflektiert, dass ihn früher politische Themen und die Umwelt wenig tangiert haben. Er hatte sich ebenso wenig für einen politischen Menschen gehalten wie er erwartet hatte, dass er mal Krebs bekommen würde. Als Sakamoto die Arbeit wieder aufnimmt, beginnt ein hoffnungsvoller Teil des Films. Es ist als ob die Musik alle Zweifel wegräumen würde und alle Fragen wie die danach ob der Krebs möglicherweise zurückkommt. Und er handelt von der Suche nach dem Ton, wie eine Intention die Musik formt. Ein Prozess den ich noch nie in einem Film so fein dargestellt gesehen habe. Coda ist ein Gesamtkonstrukt einer Doku, das in Nuancen so viele Dinge einfängt und verblüfft. Wie menschlich das kreative Schaffen und Erbe, wie „echt“ Musik mit Intention ist und wie viel Seele man darin hört. Ich kann die Doku jedem sehr ans Herz legen, der den kreativen Schaffensprozess fühlt oder bisher eher abstrakt fand.
Ryuichi Sakamoto: Coda, USA/Japan, 2017, Stephen Nomura Schible, 100 min, (9/10)
Proxima – Die Astronautin
Während ich Proxima schaute, dachte ich: ach was für ein angenehm zurückgenommener, atmosphärischer Soundtrack. Ich hatte noch keine Ahnung, dass er von Sakamoto ist! Die Französin Sarah (Eva Green) wird als Astronautin für die Proxima-Mission und den Aufenthalt auf der ISS ausgewählt. Das stellt sie als Mutter und ebenso als Frau vor schwere Herausforderungen. Zum Einen fällt ihr die Trennung von ihrer siebenjährigen Tochter Stella (Zélie Boulant) schwer, die von da an bei Sarahs Ex-Mann Thomas (Lars Eidinger) in Deutschland lebt. Zum Anderen wird ihr insbesondere vom Leiter der Mission und Kollegen Mike (Matt Dillon) stets vorgeworfen emotional, zu weich und körperlich nicht für den Job geschaffen zu sein, weil sie eine Frau und Mutter ist. Die Dreifachbelastung Sarahs durch das physisch und psychisch anspruchsvolle Programm kommt blendend zur Geltung, wenn Sarah zwischen hartem Training, wichtigen Briefing mit Diskussionen von Überlebenschancen und niedrigschwelliger, aber ebenso grimmiger Diskriminierung einen Anruf von ihrer in Tränen aufgelösten Tochter bekommt.
„PROXIMA: Die Astronautin Clips & Trailer German Deutsch (2021)“, via KinoCheck (Youtube)
Neben der Diskriminierung und Ablehnung der Idee einer Astronautin bildet der Film das harte, jahrelange Training und den langen Prozess bis zur Mission an. Es können Jahre vergehen bis eine Mission steht, in denen sich die angehende Crew und ihre Ersatzmitglieder gleichermaßen vorbereiten müssen. Es gelingt dem Film sehr gut all das filmisch abzubilden ohne in einen Erklär- oder reinen Dokumentarfilmmodus zu verfallen. Alice Winocours Regiearbeit und Drehbuch bildet all das in einer angenehmen Mischung aus nüchtern-realistischen Bildern ab, die das volle Spannungspotential von Sarahs harter Dreifachbelastung einfangen. Man bangt mit ihr, man will, dass sie der Gegenbeweis ist. Zwischendurch verliert sich der Film aber auch und thematisiert den Aspekt der Diskriminierung zugunsten dem Aspekt der emotionalen Belastung und Trennung von ihrer Tochter. Warum aber musste das mit gefährlicher Irrationalität sein? Vielleicht um die Wärme zurück in den harten Kampf zu holen? Darüber kann man sich streiten. Etwas mehr Kürze hätte dem Film nicht geschadet, der soviel weniger Laufzeit braucht um seine Botschaft eindrucksvoll in den ersten zwei Dritteln zu erzählen, wohingegen sich ab dann Längen einstellen. Die Bilder vom Training und Raketenstart hingegen sind eindrucksvoll, mitreißend und in der Art nahezu einzigartig im Film in ihrem Realismus. Auch nicht verschweigen will ich, dass Sandra Hüller in einer Nebenrolle zu sehen ist. Allgemein ist das internationale Flair und die offensichtliche Zusammenarbeit über Grenzen hinweg ein Feature, das man spürt und das den Film bereichert.
Proxima – Die Astronautin, Deutschland/Frankreich, 2019, Alice Winocour, 107 min, (7/10)
Beckett
Manchmal ist es ganz schön vorher absolut gar nichts über einen Film zu wissen und überrascht zu werden. So hatte ich keine Ahnung, dass mich in Beckett ein rasanter, spannender Polit-Thriller-Action-Mix erwartet, der vor atmosphärischen, griechischen Originalschausplätzen spielt. Der Film handelt von Beckett (John David Washington) und seiner Freundin April (Alicia Vikander), die in Griechenland Urlaub machen. In einem tragischen Unfall stirbt April und Beckett wird verletzt. Als er in Trauer den Unfallort besucht, wird plötzlich auf ihn geschossen. Was sich danach entspinnt ist eine Jagd, in der Beckett um sein Leben rennt. Er hat keine Ahnung, warum man hinter ihm her ist, kann sich entsprechend schwer in dem fremden Land orientieren und spricht die Sprache nicht. Nach und nach wird ihm aber klar, dass er mitten in eine politische Verschwörung geraten ist und v.A. in eine fragile, gefährliche politische Landschaft, aufgerüttelt durch die Finanzkrise.
Regisseur Ferdinando Cito Filomarino war einst Regie-Assistent Luca Guadagninos, der den Film auch mitproduzierte. Das Handwerk der Beiden unterscheidet sich, aber der Sinn für Atmosphäre ist ähnlich fein. Er schickt John David Washington auf eine Tour-de-Force, in der er wenige Momente der Sicherheit genießt. Das wohl beste ist aber, dass er einen gewissen Realismus transportiert. Beckett offenbart sich nicht plötzlich als Actionheld, dem alles gelingt und der Nahkampf-bewandert ist. Er hat seine Liebe Müh und Not am Leben zu bleiben. Bis auf eine lachhafte Szene gegen Ende, die wohl nie so gelungen wäre, ist Beckett der wohl angenehmste, realistische Actioner, den ich lange gesehen habe und dessen Verfolgungsjagden selbst meinen Zuschauerinnenpuls triggern. Die Kulissen Griechenlands weichen angenehm von Touri-Fallen rund um Athen und Akropolis ab und zeigen stattdessen entlegene Bergdörfer, Natur, Kleinstädte, große Plätze und Geschichte genauso wie urbanen Grunge. Die Filmmusik Sakamotos rangiert von spannenden, Synthi-Stücken zu atonalen Kompositionen, die Becketts Spießrutenlauf und die Spannung perfekt und nie zu aufdringlich unterstreichen. So wünsche ich mir Actionfilme.
Beckett, Italien/Brasilien/Griechenland/USA, 2021, Ferdinando Cito Filomarino, 108 min, (8/10)
„Beckett | Official Trailer | Netflix“, via Netflix (Youtube)
Was ich an der Filmmusik Sakamotos so schätze ist die unheimliche Bandbreite. Er kann elektronisch wie analog. Er kann Synthi-Pop wie Neoklassik. Er kann ruhiges Piano und große, dramatische Soundtracks. Er kann atonales und artsy, er kann Pop und Klassik. Und das ohne protzig zu klingen. Für mich einfach die perfekte Filmmusik. Würden wir uns mal begegnen und ich trage Kopfhörer, ist die Wahrscheinlich hoch, dass ich gerade ihn höre. Verglichen zu seinen Kolleg*innen mögen sich die Titelthemen innerhalb des Scores öfter wiederholen und insgesamt weniger Nummern zu umfassen als bei einem „klassischen Hans Zimmer“, aber gerade das mag ich sehr. Ich schätze seine Musik sehr wie auch ihn als Person und würde ihn gern mal live erleben. Die Chancen dafür stehen wohl nicht so gut. Die Werkschau hier hat mir aber auch noch aus anderen Gründen als meinem Fangirling Spaß gemacht. Selten hatte ich so eine abwechslungsreiche und internationale Werkschau. Besonders „Beckett“ und „Tony Takitani“ waren sehr angenehme Überraschungen. Kanntet ihr Ryūichi Sakamoto vor diesem Beitrag? Seid ihr möglicherweise seiner Filmmusik schon mal begegnet (ohne es zu wissen)? Welche der hier besprochenen Filme kennt ihr und wie haben sie euch gefallen?
Falls ihr jetzt noch nicht genug über ihn wisst.. 🙂 Die nachfolgende Analyse beinhaltet Spoiler für Merry Christmas, Mr Lawrence und Der letzte Kaiser.
„How to Listen to Film Music: Ryuichi Sakamoto“, via The Take (Youtube)
„7ème art“ (Sprich: septième art) heißt „siebte Kunst“. Gemäß der Klassifikation der Künste handelt es sich hierbei um das Kino. In dieser Kategorie meines Blogs widme ich mich also Filmen – evtl. dehne ich den Begriff dabei etwas. Regulär stelle ich zwischen dem 1. und 5. jeden Monats jeweils 7 Filme in kurzen Reviews vor.
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