7ème art: Filme von Naomi Kawase

Darauf dass Filmregie ein Gebiet ist, auf dem Frauen unterrepräsentiert wirken, ist die Allgemeinheit inzwischen aufmerksam geworden. Zumindest, die Allgemeinheit der Filmfans, die gern über den Tellerrand schaut. Regisseurinnen nehmen inzwischen mehr Platz ein, managen größere Produktionen. Aber werden Regisseurinnen auch auf eine Stufe mit Alfonso Cuarón, James Cameron, Francis Ford Coppola und Konsorten gestellt? Ich denke das steht noch aus. Deswegen richte ich meinen Blick regelmäßig auf eine Regisseurin. Erstaunlicherweise ist das sehr schwierig. Für meine Werkschauen-Kolumne hier habe ich mal festgelegt, dass ich stets sieben Filme bespreche. Manche geniale, etablierte Regisseurin hat aber im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen keine sieben Filme in ihrer Filmografie. Kein Scherz. Gibt zu denken, oder? Dieses Mal hat sich die Regisseurin aber quasi in die Werkschau eingeschlichen. Als ich neulich einen ihrer Filme im Kino sah, wuchs der Gedanke: eigentlich wird es mal Zeit für eine handfeste Werkschau von Filmen der japanischen Regisseurin Naomi Kawase. Denn in der immer noch besonders stark von Männern dominierten Domäne des japanischen Films sticht sie als jüngste Gewinnerin der goldenen Palme aller Zeiten besonders hervor.

In deinen Armen

Kurz nachdem Kawase die Hochschule abgeschlossen hatte, thematisierte sie ihre Familie in dem Dokumentar-Kurzfilm In deinen Armen. Kawase wurde als Kind von ihren Eltern verlassen und wuchs bei ihren Großeltern auf. der Film zeigt in ungeschönten Aufnahmen Gesprächsfetzen zwischen Kawase und ihrer Großtante und Großmutter, die sie fragt wo ihr Vater lebt und die ihr davon abraten Kontakt zu ihm aufzunehmen. Die Szenen sind durchzogen von Aufnahmen aus einem einfachen Haushalt und einem einfachen Leben. Essen kochen, gedeckter Tisch, nicht glamourös, aber glücklich. Zwar erklärt niemand, warum es zwischen Kawases Mutter und Vater zum Bruch kam und auch nicht, warum sich keiner der Beiden des Kindes annahm, aber sie geben der jungen Frau zu verstehen, dass sie geliebt wird und Mutter und Vater doch nicht bräuchte. Nach vorn sehen. Aber Kawase kann nicht. Die zweite Hälfte des Films zeigt wie sie recherchiert. Stakkato-artige Schnitte und eingestreute, nüchtern erzählte Adressen – offenbar besucht Kawase die Orte, an denen ihr Vater gelebt hat. Dazwischen Bilder von ihr als Kind zusammen mit der Familie, die bald keine mehr sein würde.

Der erste „offizielle“ Film Kawases ist ungeschönt. Es ist klar, dass sie selber Kamera führt, man beobachtet wackelige und manchmal unscharfe Bilder, die keinen übermäßigen Anspruch an Qualität haben. Somit ist der Film nicht nur ungeschönt, sondern auch ungeschliffen. Aber das sollen sie vielleicht auch nicht. Es sind Auszüge aus dem Leben, die die Ausgangssituation wiedergeben sollen ohne dass Kawase ihre ganze Familiengeschichte offen legen muss. Der Film schafft auch so darzulegen,was das Problem ist. Verlassen werden. Fragen ohne Antworten. Besonders in der Gegenüberstellung der Fotos die Kawase als Kind zeigen und den nun leeren Orten, an denen die Fotos einst aufgenommen wurden, machen in der zweiten Hälfte des Films die Lücke klar, die ein solcher Bruch in einem Kind hinterlässt. Rein von der Machart her wirkt der Film für heutige Sehgewohnheiten noch sehr laienhaft, was andererseits auch charmant ist – für den experimentellen Homevideo-Look.

In deinen Armen (OT: につつまれて „Ni tsutsumarete“), Japan, 1992, Naomi Kawase, 40 min, (7/10)

Sternchen-7

Shara – Licht und Schatten

Shara – Licht und Schatten ist thematisch scheinbar der geistige Vorgänger von Still the Water. Es erzählt die Geschichte der Familie Aso, die in Nara lebt und einen schweren Verlust zu verzeichnen hat. Die Zwillingssöhne der Familie, Kei und Shun, stromern gemeinsam durch Nara, als einer der beiden plötzlich von der einen Sekunde zur nächsten verschwindet. Shun steht alleine hilflos vor seinen Eltern. Der Zuschauer sieht noch wie sie beschließen Kei zu suchen. Cut. Jahre später ist Shun offenbar immer noch „allein“ mit seinen Eltern, die wieder Nachwuchs erwarten. Er verarbeitet den Verlust seines Zwillingsbruders in der Kunst-AG in seinen Bildern. Eines Tages erreicht sie die Nachricht, die Gewissheit bringt, was mit Kei geschehen ist. Zentrales Motiv des Films ist die langfristige Verarbeitung eines Verlusts. Wir als Zuschauer erfahren nicht wie die Familie kurz nach Keis Verschwinden reagiert hat, ob sie Shun die Schuld gaben und wir erfahren auch nur andeutungsweise was mit Kei geschehen ist. Es ist also kein Drama, in dem schreiende Familienmitglieder verzweifelt umherlaufen und Schuldzuweisungen aussprechen. Die Familie ist in einer Situation in der der Drops quasi gelutscht ist, aber unausgesprochene Worte noch im Raum hängen. Durch den stillen Charakter des Films gibt es viel für den Zuschauer zu interpretieren. Ein zusätzlicher Ankerpunkt Shuns ist außerdem seine Schulkameradin Yun, die auch kurze Zeit später etwas über ihre Familie erfährt, dass sie erschüttert, auch wenn die es sich wie die wenigstens der Charaktere des Films anmerken lässt. Der Film handelt von Aufarbeitung ohne dass viel über den „elephant in the room“ gesprochen wird und könnte daher für die meisten Zuschauer zu „meta“ sein. Wenn dann der Film aber seinen Höhepunkt in dem Basara Matsuri, dem Straßenfest organisiert von Shuns Familie, findet und man sich inmitten eines energetischen Tanzes und Regenschauers als Zuschauer ähnlich lebendig fühlt wie die Charaktere und kurz darauf ein neues Leben entsteht, dann liegt die Lösung vielleicht auf der Hand. Und psst: Naomi Kawase spielt Shuns Mutter. Und nochmal psssst: der Babybauch sieht leider extrem unecht aus.

Shara – Licht und Schatten (OT: 沙羅双樹 „Sarasōju“), Japan, 2003, Naomi Kawase, 99 min, (7/10)

Sternchen-7

„Letzten Endes leben wir – und alles wird gut“ – eine Filmszene von ikonischer Energie: „City Festival in Sharasojyu (Naomi Kawase, 2003)“, via jeannedielman (Youtube)

Der Wald der Trauer

Die junge Machiko (Machiko Ono) beginnt in einem Pflegenheim in einer ländlichen Gegend zu arbeiten. Ihre Kollegin sagt ihr stets, dass es keine festen Regeln oder Vorschriften gibt. Und stellenweise wirkt es gemessen an der Art wie Machiko behandelt wird so als ob sie selbst eine Patientin ist. Tatsächlich hat sie einiges mit den älteren Herrschaften gemein, die sie in dem Heim betreut. Einige von ihnen habe herbe Verluste zu beklagen, liebe Menschen an die Zeit oder die Umstände des Lebens verloren. Wer lange gelebt hat, hat auch viel erlebt. Auch Machiko hat bereits ihr Kind verloren und die Beziehung zu ihrem Mann und auch sie selber leiden sehr darunter. Im Pflegeheim lebt auch der demente Shigeki (Shigeki Uda), der seine Frau bereits vor 33 Jahren verloren hat, aber immer noch auf ihre Rückkehr wartet und sich ständig von Neuem an den Verlust erinnern muss. In seiner Verwirrung hält er Machiko für seine Frau, verletzt die Menschen um sich herum oder ist fröhlich wie ein Kind. Machiko und er finden in ihrer Trauer eine Gemeinsamkeit, die Kawase, von der auch das Drehbuch stammt, wie so oft in die Rückkehr zur Natur kanalisiert. Höhepunkt des Films ist als ein Ausflug der Beiden damit endet, dass sie sich im Wald verlaufen und ihr eigenes Schicksal herausfordern. Dabei lässt Kawases Film sowohl die Interpretation zu, dass sie die Zeit der gemeinsamen Trauer zum Abschluss brauchen, als auch, dass ihr Leben keine Lösungen mehr für sie bereit hält. Und kein Ende der Trauer. Die fantastische Cinematographie entführt an einen entlegenden Ort mit einem trotz seines Realismus magischen Moments. Ein emotionaler Kunstgriff, der später in Kawases Die Blüte des Einklangs nicht so gut gelungen ist. Aber durch die fehlende Charakterisierung und wenigen Einblick in die Gedankenwelt unserer Helden, sowie ihre nicht nur einfache Beziehung zueinander, bleibt man etwas auf Distanz zu ihnen und kann sich nicht gut in sie hineinfühlen. Dabei fordert ein solches Thema Empathie – irgendwo ist hier ein Bruch.

Der Wald der Trauer (OT: 殯の森 „Mogari no mori“), Japan, 2007, Naomi Kawase, Dauer, (7/10)

Sternchen-7

Still the Water

Das ist einer dieser seltenen Momente, in denen es gar nicht so einfach scheint zu beschreiben, was man gesehen oder viel mehr erlebt hat. Ähnlich Werken Terrence Malicks ist Naomi Kawases Still the Water Empfindungskino. Wir verfolgen darin zwei Teenager und ihre Familien auf der tropisch anmutenden Insel Amami südlich der vier Hauptinseln Japans. Der stille Kaito (Nijirō Murakami) ist zusammen mit seiner Mutter aus Tokyo zugezogen. Seine Mitschülerin Kyōko (Jun Yoshinaga) und er haben einen Draht zueinander. Ihre Beziehung schlingert irgendwo zwischen beste Freunde oder gar Liebespaar, zumindest hegt Kyōko Gefühle für ihn. Sie hat aber auch andere Sorgen: ihre Mutter liegt im Sterben. Etwa zur selben Zeit wird im Wasser die Leiche eines Mannes gefunden, über den Kaito etwas zu wissen scheint. Allerdings ist Still the Water kein Krimi, auch wenn es eine Leiche gibt und sicherlich irgendwo einen Gärtner. Der Film konzentriert sich auf die Beziehung Kaitos und Kyōkos zueinander und den Beziehungen zu ihren Familien. Aber auch dem Leben, Spiritualität und der Verbundenheit zur Natur. Das ist es, was die jungen Erwachsenen umso stärker spüren als Kyōkos Mutter im Begriff ist zur Natur zurück zu kehren. Sie war Schamanin und sieht dem Tod nicht mit Furcht entgegen, aber Kyōko stellt sich angesichts all der Unendlichkeit in ihrer Umwelt (Meer, Himmel, Natur) die Frage: wohin geht meine Mutter? Aber desto mehr sie mit der Endlichkeit des Menschenlebens und Körpers konfrontiert wird, umso mehr möchte sie lebendig sein und ihren Körper spüren.

„STILL THE WATER | Trailer deutsch german [HD]“, via kinofilme (Youtube)

Sie fordert Taten von Kaito, der etwas verzagt, genervt und unsicher wirkt. Er ist vom Leben enttäuscht, vor Allem weil er nicht weiß wie er seine Mutter, seinen Vater und deren beendete Beziehung bewerten soll. Was ist Liebe? Was nur Sex? Kannte seine Mutter nicht den Typen, der kurze Zeit später tot aus dem Meer gefischt wurde? Wieviele Liebhaber hat sie eigentlich? Kaito kann das nicht verstehen, genauso wenig wie er das Leben umfassen kann. Er hat wahrscheinlich zu wenig gesehen, um einschätzen zu können wie die Dinge liegen. Und kann deswegen auch nicht auf Kyōko zugehen. All die Fragen ohne Antworten hemmen ihn. Es ist der Schwebezustand des Erwachsenwerdens, der uns auch alle irgendwann gequält hat. Anfangs gibt einem der Film aber etwas zu wenig davon, man brauch Geduld bis sich erklärt, was in Kaitos Kopf vorgeht und was in Kyōkos Leben passiert. Etwa ab der Hälfte aber liegen die Dinge klarer und es entfaltet sich ein unaufgeregtes, rührendes Werk in ruhigen Bildern. Kyōkos Kopf ist aufgeräumter, vielleicht auch wegen des herben Verlustes, der ihr bevorsteht. Wenn wir als Zuschauer Zeugen des Ablebens ihre Mutter werden, dann trifft das mitten in diesen verletzlich-menschlichen Teil unserer selbst. Das Besondere ist aber auch wie ihre Mutter geht. Ohne Angst, Reue, fast wie das Zelebrieren eines Festes, nur etwas ruhiger. Was nicht heißt, dass sich alle freuen. Es ist und bleibt ein Verlust. Sie singen traditionelle japanische Lieder, tanzen um sie in Liebe hinüber zu geleiten. Das ist eine ganz andere Weise als Tod normalerweise betrachtet wird und ein weiterer Ausdruck des spirituellen Ausgeglichenheit und Verbundenheit mit des Kreislauf des Lebens und der Natur, der sich wie ein roter Faden durch den Film zieht. Ein melancholisch schönes Werk. Kein Wunder, dass Kawase es einst als ihren „vollkommensten Film“ bezeichnete.

Still the Water (OT: 2つ目の窓 „Futatsume no Mado“), Japan/Frankreich/Spanien, 2014, Naomi Kawase, 121 min, (8/10)

Sternchen-8

Kirschblüten und rote Bohnen

Der japanische Originaltitel des Dramas ist あん (An). So wird die aus Adzukibohnen hergestellte rote Bohnenpaste genannt, die für einige Süßspeisen verwendet wird. Beispielsweise für Dorayaki. Das sind kleine runde Pfannkuchen, von denen jeweils zwei von der Paste zusammengehalten werden. Der wortkarge Sentaro (Masatoshi Nagase) hat einen Dorayaki-Laden, verbirgt aber, dass er wenig Begeisterung für seinen Job oder Dorayaki im allgemeinen hat. Er sucht eine Aushilfe und die schon sehr alte Tokue (Kirin Kiki) bewirbt sich. Selbst als er sie wegen ihres Alters ablehnt, gibt sie nicht auf und merkt an, dass seine Dorayaki nicht so gut schmecken wie sie könnten. Sie gibt ihm ihre selbstgemachte rote Bohnenpaste und er stellt sie überwältigt ein. Wakana (Kyara Uchida), eine regelmäßige Besucherin des Dorayaki-Ladens und Schülerin, beobachtet das Geschehen. Sie hat selber auf die Stelle gehofft. Tokues Vergangenheit wird aber schon bald ein unausweichliches Thema.

Kirschblüten und rote Bohnen ist ein ruhiges, realistisches und reduziertes Drama. Das klingt schon wie eine Kurzzusammenfassung der japanischen Filmindustrie allgemein (neben Trash und Horrofilmen, mögen manche behaupten). Aber es ist eben wie so oft bei japanischen Filmen auch hier der Fall, dass die Figuren wirken wie die Menschen die bei uns um die Ecke leben – so echt und natürlich und ungeschönt. Zwar könnte der Film wirklich an manchen Stellen etwas an Geschwindigkeit zulegen, aber das ist längst vergessen, wenn die sympathische Schrulligkeit von Tokue auf den geläuterten Sentaro trifft. Wer einen schnellen Film sucht, der sucht hier vergebens. Aber man findet stattdessen viel anderes. Ich als Zuschauer habe von einem mir bisher fast unbekannten Aspekt der Geschichte erfahren – den Umgang mit Kranken in der Geschichte. Es wirkt fast wie ein Triptychon, wenn Wakana versucht ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen, was Tokue nicht vergönnt war und Sentaro leichtfertig verspielt hat. Regisseurin Naomi Kawase unterstreicht den Film mit seinen liebenswerten Charakteren (ach ja und den zweien, denen man am liebsten eine kleben will) mit ruhigen Landschaftsaufnahmen von Kirschblüten und ruhigen Wäldern und nimmt sich viel Zeit für die ganz eigene Poesie des Films, die in einem wunderschönen und traurigen Finale mündet.

Kirschblüten und rote Bohnen (OT: あん „An“), Japan, 2015, Naomi Kawase, 109 min, (9/10)

Sternchen-9

Radiance

Misako Ozakis (Ayame Misaki) Beruf ist es Hörfassungen von Filmen für Blinde oder sehbehinderte Menschen aufzubereiten. Bei einer Vorführung mit Test-Publikum bekommt sie aber u.a. eher negatives Feedback, da sie zu sehr ihre eigenen Emotionen und Interpretationen mit einbringt. Vor Allem der ehemalige Fotograf Masaya Nakamori (Masatoshi Nagase) findet dabei harte Worte. Vielleicht gerade deswegen weil er noch ein wenig Sehen kann, aber im Begriff ist die ihm verbleibende Sehkraft zu verlieren. Von da an begegnen sie sich immer öfter, obwohl Misako ihm eigentlich lieber aus dem Weg gehen wollte. Misako ist zwar einfühlsam, intelligent und nimmt ihre Arbeit sehr ernst, aber es fällt ihr schwer sich in die Welt derer hineinzufühlen, denen das Sehen verwehrt bleibt. Erst durch die Auseinandersetzung mit Nakamori begreift sie wirklich wie es sich anfühlt nichts zu sehen und sie hinterfragt ihren ganzen Alltag. Sie versteht den Verlust, den Nakamori empfinden muss, gerade als ein Mensch, dem das visuelle Medium und Kunst wichtig war. Seine Kamera nennt er sein Herz. Und sie beginnt Angst zu empfinden, wenn sie mit der ausweglosen Dunkelheit konfrontiert wird und dem Gedanken, dass diese für manche Menschen nie wieder weg geht. Man kann während man im Kino sitzt selber mal die Augen zu machen und darüber nachdenken wie sich das anfühlt. Die Geräusche, die Stimmen, ohne die Gesichter dazu. Bei Radiance versteht man erstaunlich viel. Der Film ist durchdacht, er ist für die Botschaft gemacht, die er vermitteln will. Etwas, dass im klassischen Mainstream-Kino viel zu kurz kommt.

„RADIANCE Trailer German Deutsch (2017)“, via KinoCheck (Youtube)

Naomi Kawase hat einen Film für die Sinne gemacht. Empfindungskino. Kino für Kinofans und nicht zuletzt Aufmerksamkeit für ein Thema geschaffen, worüber man zu wenig redet. Nämlich Menschen mit Behinderungen nicht einen Alltag zu verwehren, sondern ihnen auch dieselben Möglichkeiten zu bieten – nur eben anders. Im Film sagt eine Frau aus dem Testpublikum, dass Filme für sie eine Reise in eine andere Welt sind. Auch Ozakis Job flößt einem Ehrfurcht ein und die Herausforderungen, denen Blinde begegnen. Wie erklärt man ihnen eine Sandskulptur? Sie haben u.U. nie eine gesehen und können sich das vielleicht nicht vorstellen und auch nicht vom Begriff ableiten. Da bedarf es Erklärung, v.A. aber muss man so blitzgescheit sein alles zu hinterfragen, aber niemandem die Gelegenheit nehmen selber zu interpretieren und zu empfinden. Aber der Film kann noch mehr. Er erzählt von Verlust. Alles was Misako erlebt, verankert sich in ihrem Herz v.A. deswegen, weil Verlust für sie ein Thema ist. Der Geist, der sie heimsucht. Ihr Verlust lässt sie den Nakamoris verstehen und langsam nähern sich die Beiden an. Naomi Kawase erzählt einfühlsam von den Verlusten zweier Menschen und schafft es spielend gewichtige Themen durch ihr Beispiel zu erzählen. Undzwar mit Leichtigkeit und Feingefühlt. Sie setzt dabei das titelgebende Licht bzw. den Glanz hinter den Augen gekonnt ein, sodass ein J.J. Abrams neidisch sein sollte, warum er das mit dem Licht nicht so geschmackvoll hinbekommen hat. Nach Radiance schaut man den Sonnenuntergang ein wenig anders an. Vielleicht hat man dabei auch den exzellenten Score des Films im Ohr, der mit seinen Jazz-Nummern perfekt das Gesehene untermalt und die Stimmung einfängt – auch wenn man die Augen schließt. Ein relevanter Film, Empfindungskino und einer dieser Filme, der traurig, aber schön ist und ruhig, aber glücklich macht.

Radiance (OT: 光, „Hikari“), Japan, 2017, Naomi Kawase, 101 min, (8/10)

Sternchen-8

Die Blüte des Einklangs

Die französische Reise-Journalistin Jeanne (Juliette Binoche) sucht in Japan nach einer Pflanze namens Vision, die ihren Berechnungen zufolge nur alle 997 Jahre blüht und die in der Lage ist den Menschen ihren Schmerz zu nehmen. Auf der Reise in die ländlichen Regionen der Präfektur Nara begegnet sie Satoshi (Masatoshi Nagase), der zurückgezogen im Wald an einem Bergt lebt. Er sagt, dass er das Leben da draußen nicht ertragen konnte. Vielleicht hat er sich unbewusst dorthin begeben, wo „Vision“ Linderung verspricht? Ein Bildnis an einem Tempel zeugt tatsächlich davon. Hat Jeanne aber Recht, oder ist es nur ein schönes Märchen? Die blinde Aki, gespielt von der mega-coolen und hier sehr naturbelassenen Mari Natsuki, scheint zu wissen, wovon Jeanne spricht. Und die Frau bereits zu kennen. Mit Vision rückt Kawase nun endgültig sehr nah an Terrence Malick heran. So ungern ich sie mit einem männlichen Regisseur vergleiche oder überhaupt vergleiche. Leider drängt es sich aber extrem auf. Der magische Realismus, der ihren Film durchzieht und die wenige Rationalität mit der die Charaktere agieren ist unmöglich wegzuinterpretieren. So sehr die Handlungen der Charaktere befremden, so wunderschön sind die Bilder und die darüber gelegten, von Juliette Binoche und Kollegen gehauchten Zeilen. Liebe sei wie die Wellen, sie endet nie. Bei diesem puren Empfindungskino werden diejenigen, die Sinn suchen, herb enttäuscht. Die, die gern fühlen, werden mit reichen Bildern und Eindrücken belohnt. Wanderlust kann der Film allemal erwecken, wenn die schier endlose Landschaft der japanischen, dicht bewaldeten Berge und ihr sattes Grün gezeigt wird. Da scheint die Luft im Kinosaal besser zu werden, so hungrig wird die Seele vor lauter Fernweh. Man meint die frische, reine Luft der Wälder zu riechen und auf der Haut zu fühlen. Aber selbst die Empathen werden vielleicht abgesehen von dem visuellen Erlebnis enttäuscht. Denn man meinte doch, dass es das verkitschte, magische Ende gar nicht gebraucht hätte und Joannes Schmerz durch die Begegnung mit Satoshi gelindert wurde. Scheinbar nicht.  Das macht auch das reduzierte und wie immer sehr natürliche Spiel Binoches und Nagases nicht wieder wett. Und der deutsche Filmtitel macht es vielleicht sogar noch schlimmer. Nicht zuletzt, weil sich darüber streiten lässt, ob der Film verstanden wurde.

Die Blüte des Einklangs (OT: Vision), Japan/Frankreich, 2018, Naomi Kawase, 109 min, (6/10)

Sternchen-5

Manche Stimmen behaupten ja, dass Cannes und Konsorten Kawase zu gern haben. Ständig läuft einer ihrer Filme im Wettbewerb oder zumindest im Programm, sie ist oft Teil der Jury und überhaupt scheinen Filmfestspiele sie zu lieben – was scheinbar auch auf Gegenseitigkeit beruht. Schießlich hat sie den Grundstein für das örtliche Filmfestspiel in ihrer Heimat Nara gelegt. Jüngst wurde sie auch als Regisseurin der offiziellen Dokumentation über die Olympischen Spiele 2020 in Tokyo benannt. Man kann sagen: sie ist im Gespräch. Ihre Filme sind durchzogen von wiederkehrenden Motiven wie Naturverbundenheit, Verlust und Familie und stets Empfindungskino, das Gefühle anspricht, analysiert, versinnbildlicht. Also kein Action, kein CGI, kein Effektfeuerwerk – aber ein Feuerwerk an Eindrücken, das nicht selten cinematoprgrafisch beeindruckend ist und berührt. Man muss ein wenig für ihre Filme geschaffen sein. Auch mich erreichen nicht alle ihrer Filme gleich intensiv und ich kann sie sicherlich nicht an jedem beliebigen Tag schauen. Gerade ihr jüngster hat mich eher zwiegespalten zurückgelassen. Aber in anderen trifft sie mich mitten ins Herz – und plötzlich ist da eine Verbindung zwischen zwei Menschen, die sich nie gesehen haben. So kann man das schon nennen. Danke, Naomi. Ich schließe mit einem wunderbaren Ted Talk über das, was Kawase glaubt mit Filmen erreichen zu können. Sie ist eine sehr kluge und empathische Frau. Kennt ihr Kawases Filme? Welchen habt ihr gesehen? Und was haben sie in euch ausgelöst? Oder sind sie so gar nicht euer Bier?

„The value of movies: Naomi Kawase at TEDxTokyo“, via TEDx Talks (Youtube)

„7ème art“ (Sprich: septième art) heißt „siebte Kunst“. Gemäß der Klassifikation der Künste handelt es sich hierbei um das Kino. In dieser Kategorie meines Blogs widme ich mich also Filmen – evtl. dehne ich den Begriff dabei etwas. Regulär stelle ich zwischen dem 1. und 5. jeden Monats jeweils 7 Filme in kurzen Reviews vor.

Eine Antwort

  1. „Kirschblüten und rote Bohnen“ habe ich gesehen.
    Ruhiges, reduziertes Erzählen ohne Hektik und Aufruhr scheinen ja ihr Ding zu sein, wenn ich jetzt hier noch über die anderen Werke so lese.

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